Kommt uns nicht mit echt!

von Tim Schomacker

Bremen, 3. März 2016. Kiesfläche grau. Dunkel und leise knirschend beim Beschreiten. Drauf zwei Frauen, drei Männer. In einer Reihe meist. Und allesamt vor wuchtig-schönem Grünpflanzenarrangement. Es rankt bühnenhoch in veritablen Varianten von Grün, dickichtdicht geschichtet. Und bildet so als punktgenaues Gestrüpp einen dauerhaften Kontrast zum gezirkelten Spielgeschehen. Drei Männer im Anzug, zwei Frauen in schwarzrotem Kleid in diffusem Sixties-Dekor. Meist in einer Reihe. Nach vorne sprechend oft, ins Publikum. Gelegentlich einander ansprechend, -schauend, -spielend, -tatschend. "Ach, Kristina!", knallt die freundschaftliche Faust wiederholt in die Schulter der angesprochenen Freundin aus Noras Vergangenheit. Selber Winkel, selber Druck, selbe Geschwindigkeit, gleicher Begleitausruf. Ein fast mathematisches Ereignis.

Wenn man eines dieser Bremer "Nora" nicht vorwerfen kann, ist es der Mangel an szenischer Konsequenz. Denn bei der Reihe bleibt's. Auch dabei, dass Gesten, Mimik, Grimassen als gezielte Konfektionsware daherkommen. Als wären die Innigkeit eines Kusses, die Kumpelhaftigkeit eines Stupsers, das Übersprunghafte der Ärgernis-Geste nach eigentümlicher Logik vom Leben derjenigen getrennt, die all das tun. Stets einen Wimpernschlag zu spät für den entsprechenden Sprechtext. Oder auch zu früh. Gelegentlich sogar zwei drei gezielte Sekunden aus der Spur. Mit echt möge man uns nicht kommen, sagt das, mit wirkmächtig vielleicht schon.

Jenseits der Pop-Coolness

Den – sagen wir mal: anti-essentialistischen – Grundgestus seiner szenischen Anlage hat Regisseur Felix Rothenhäusler vom Pop übernommen. Transponiert auf das Figurenquintett auf der Bühne – eine gleichsam neutralisierte Einheit, in der alle mal alle spielen – wird allerdings der Eindruck der Fremd- und Fernsteuerung daraus. Und alle, wirklich alle Pop-Coolness ausgetrieben. Was die sechs Schlager Lana del Reys, die strukturbildend wie auszugsweise ins Mikrophon intoniert werden, eher untermauern denn konterkarieren.Nora1 560 Joerg Landsberg uGezirkelte "Nora"-Reihe vor dickichtdichtem Grün © Jörg Landsberg

Ferngesteuert und fremdbestimmt also. Nicht nur choreographisch und sprechtechnisch verpasst Rothenhäusler seinem Ibsen-Personal ein enges Korsett. Die kaum dynamische mittlere Lage wird sprachlich nahezu nie verlassen, der immer wieder abgestoppte, durchaus kunstvoll perforierte Text bewegt sich klanglich auf halber Strecke zwischen Fassbinder und Loriot. Rothenhäusler zwängt die, nun ja: Figuren interpretatorisch ebenfalls in eine enge Korsage. Denn er tilgt ebenjene (nicht nur bei Ibsen) ziemlich geheimnisvollen Momente, in denen inmitten einer festgezurrten Lebensweise doch etwas Anderes entsteht. In diesem Fall: in denen Nora oder ihr Mann Torvald und die anderen heraustreten könnten aus dem ganzen angelernten Krams, dem sie Tag für Tag (und umso mehr am Vorabend der Aufstiegschance ins höhere Bürgertum inklusive gleich mitgelieferter putativer Wieder-Abstiegs-Angst) so bemüht sind, sich ähnlich zu machen.

Schräge Daily-Soap-Anmutung

Denn ohne diese Möglichkeit wird das weder was mit dem Ich-Sagen noch mit dem, was man früher mal vielleicht emanzipatorisch genannt hat. So ist – interpretatorisch – nur Drinbleiben. Ziemlich eng. So ist – szenisch – nur Monotonie. Irgendwann ziemlich dünn. Aller hübschen, bisweilen sogar grotesk bis rasend komischen Kleinstsequenzen zum Trotz. Denn Mittellage plus abgetrennte Gesten plus eingespieltes Bandgelächter plus intonierte Pop-Song-Schnipsel produziert unterm Strich eine schräge Daily Soap-Anmutung, der beides nicht wirklich gelingt: das TV-Genre theatralisch zu analysieren. Und dem Ibsen wirklich beizukommen. Mit der Ich-Produktion im Pop hatte Rothenhäusler sich ein passendes Werkzeug zurechtgelegt – und es im dunkelgrauen Kiesbett blöderweise gleich wieder vergraben.

Das Überraschende an diesem Abend ist dann auch weniger Rothenhäuslers Ibsen-Lektüre, als dass sein enges szenisches Korsett bis zum Schluss gelungene Situationen produziert. Wenn Matthieu Svetchine sehr langsam und sehr konzentriert seinen Anzug auszieht, faltet, ablegt, sich dann ultrakurz auf dem Boden wälzt und ihn über den Schmutz ebenso ruhig und konzentriert wieder anzieht. Wenn Siegfried Maschek (hier Doktor Rank) und Karin Enzler (hier: Nora) der notorischen Seidenstrumpfszene reduziert komisch den sexuellen Schneid abkaufen – satzunterbrechendes Papp-Machete-Holen inbegriffen. Oder wenn Maschek und Robin Sondermann die eheliche Vergebungsszene am Ende mit Winzgesten bei langen, leise knirschenden Laufwegen zelebrieren. Ja. Aber. Der Rest ist wuchtig-schön-grün.

 

Nora oder Ein Puppenheim
von Henrik Ibsen
Deutsch von Heiner Gimmler
Regie: Felix Rothenhäusler, Bühne: Thomas Ruppert, Kostüme: Elke von Sivers, Musik: Martin Krieg, Licht: Frédéric Dautier, Dramaturgie: Viktorie Knotková.
Mit: Karin Enzler, Lisa Guth, Carola Marschhausen, Siegfried W. Maschek, Robin Sondermann, Matthieu Svetchine.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

 

Kritikenrundschau

"(I)st das noch Post-Ironie oder schon Meta-Humor?“, fragt Hendrik Werner im Weser-Kurier (5.3.2016) und bekundet sein Mitleid mit den Schauspielern der "mutmaßlich in polarisierender Absicht entstandene(n) Inszenierung". Ihre Unterforderung sei ruchbar, obwohl an diesem Abend kaum eine Geste und ganz gewiss kein Ibsen-Fetzen dem Zufall überlassen bleibe. Werner vermisst mimische Alleinstellungsmerkmale – stattdessen würden die Akteure "zwischen Pose und Posse" agieren, mal dieser, mal jener Figur eine tonlose Stimme geben, "nie aber den Charakteren ein Gesicht".

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