Spieler in den Booten

von Michael Wolf

Berlin, 5. März 2016. "Das hat mir besser gefallen, als das meiste, was hier gespielt wird." Mein Sitznachbar zur Rechten nickt anerkennend Richtung Bühne. "Also hat es Ihnen besser gefallen als Abende von Ivan Panteleev, Stephan Kimmig oder Jan Bosse?", wollte ich ihn noch fragen, aber da verschwand er schon in der Menge. Ich frage immer meine Sitznachbarn nach ihrer Meinung, wenn ich befürchte, einen Verriss schreiben zu müssen. Denn auch wenn Sie es nicht glauben: Kritiker schreiben nicht gerne Verrisse. Man macht sich damit weder Freunde noch Freude – besonders nicht, wenn ein junger Regisseur den Abend inszeniert hat. Aber so-tun-als-ob will ich auch nicht. Also los.

Handwerk 1

Spoilerwarnung: Nach einer Stunde stützt Ulrich Matthes sein Kinn auf der rechten Hand ab. Das hat er vorher den ganzen Abend lang nicht gemacht. Ulrich Matthes macht das mit der Hand und dem Kinn entweder, weil er damit "nachdenklich" spielen möchte – oder weil er die Arme nicht schon wieder "stur" verschränken oder "wütend" in seinen Hosentaschen versenken will. Jedenfalls steht er da jetzt also "nachdenklich o.Ä." auf dem vergitterten Bühnenboden, hinter ihm quadratische Kacheln.

Feuerschiff1 560 Arno Declair hHoch aufgelöst und sehr schön: videografierte Meereswogen im Deutschen Theater zu Berlin mit Timo Weisschnur und Ulrich Matthes.  © Arno Declair

Bühne, Stoff, Regie

Am Anfang waren vier davon aufgeflackert und hatten hoch aufgelöste Videobilder von sehr schönen Meereswogen gezeigt. Was folgte war aber kein großes Kino – leider nicht mal "Notruf Hafenkante". Schade, denn Siegfried Lenz' Novelle "Das Feuerschiff" bietet genug Stoff. Eben dieses Feuerschiff kapern Gangster auf der Flucht, um weiter Richtung Festland zu fahren. Während der Sohn des Kapitäns Freytag (Ulrich Matthes) das Schiff gewaltsam zu befreien versucht, schreckt dieser vor Gewalt zurück, um seine Besatzung zu schützen. Ein Thriller, eine Vater-Sohn-Geschichte oder eine Allegorie über das Handeln in Extremsituationen wäre möglich gewesen an diesem Abend.

Leider torpediert Josua Rösing seine Debütinszenierung an den Kammerspielen des Deutschen Theaters selbst, indem er versucht, von all dem ein bisschen zu erzählen – was den Abend schon früh absaufen lässt. Sein Ensemble klammert sich an seine Rettungsbojen: das schauspielerische Handwerk. Davon immerhin bekommt man an diesem Abend jede Menge geboten.

Handwerk 2

Timo Weisschnur (Der Kapitänssohn) zuckt mit den Fingerkuppen und Augenlidern, wenn er "nervös" spielt, meistens aber "provokant" mit den Schultern. Wenn Owen Peter Read seinem Gangster-Gehilfen zu etwas "Misstrauen" verhelfen will, dreht er sich kurz vorm Abgang noch mal abrupt um und blickt Freytag mit zusammen gezogenen Augenbrauen an.

Ermüdende Standards wie diese sind eine Rarität am Deutschen Theater, das doch regelmäßig beweist, dass es das beste Ensemble Berlins beheimatet. An diesem Abend aber ist von Anfang an die Luft raus. Freytag schreit seinen Sohn ein bisschen "wütend" an: "Ihr glaubt immer, dass etwas geschehen muss!?", mein anderer Sitznachbar zur Linken gähnt ohne die Hand vor den Mund zu nehmen.

Handwerk 3

Wirklich schade ist es um Ulrich Matthes Augen, die "übers Meer" (in den Saal) oder "nachdenklich" (ins Leere) starren – in beiden Fällen aber alle Faszination einbüßen. Jahrzehnte lang hypnotisiert dieser große Schauspieler nun schon das Publikum mit seinem stechenden Blick. An diesem Abend, und das ist fast zum Weinen, erkenne ich dahinter nichts als – na ja, im Grunde gar nichts. Ist halt das Matthes-Ding, das er jederzeit aus den Augenhöhlen hervorzaubern kann.

Hans Löw zeigt noch am meisten Spiellaune. Sein Gangsterboss Dr. Caspari schafft es in den besten Momenten des Abends gleichzeitig aufrichtige Geständnisse abzulegen und bedrohlich zu plaudern - vor allem kratzt er sich dann aber doch sehr oft "versonnen" am Arm herum. Was soll er auch machen? Für ein Bühnen-Duell, einen Showdown mit Matthes mangelt es der Stückfassung an brauchbaren Dialogen.

Fair enough, die Geschichte wird entschlackt in achtzig Minuten erzählt, aber was hilft das, wenn schon die nächste Replik in einer Untiefe versinkt? Seltsam, immerhin hat Dramaturg John von Düffel doch nebenan im Großen Haus schon lässig die gesamte Antike auf zweieinhalb Stunden gekürzt.

Anrede

Aber genug Verriss jetzt. Ich möchte nämlich, dass Sie die Aufführung trotz dieses Textes besuchen, und es wäre schön, würden Sie Ihre (abweichende) Meinung unten in die Kommentarspalte schreiben. Mindestens einen Fan, meinen Sitznachbarn zur Rechten, hat Josua Rösing ohnehin – und damit schon mehr als die meisten Kritiker.

 

Das Feuerschiff
nach der Erzählung von Siegfried Lenz 
Regie: Josua Rösing, Bühne: Mira König, Kostüme: Katharina Bruderhofer, Musik: Thies Mynther, Video: Phillip Hohenwarter, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Hans Löw, Ulrich Matthes, Owen Peter Read, Timo Weisschnur.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Josua Rösing komme "in seiner Inszenierung ohne einen Tropfen Wasser aus – im konkreten wie im übertragenen Sinne", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (7.3.2016). Was in der äußerlichen Darstellung noch "bei einiger Nachsicht als bewusste Abstraktion durchgehen" könne. Schlimmer sei, "dass auch die Schauspieler regiemäßig am Verdursten sind, selbst wenn sich die vier Männer (...) verzweifelt ins Zeug legen." Es werde "herzlich ungerührt herumgestanden, mit den Augen gerollt und den Füßen schwer aufgestampft. All die Ausweichgesten und Verlegenheitsmanöver nutzen freilich nichts. Die ganze Geschichte verharrt in moralinsaurer Parabelhaftigkeit."

Das Kernthema von Lenz' Erzählung sei "unverändert modern, auch wenn die Geschichte in ihrer Entstehungszeit schneller als politische Allegorie zu verstehen war", meint Barbara Möller in der Welt (7.3.2016). "Die Frage, wie sich eine aufgeklärte Gesellschaft zur Gewalt verhalten soll, wie weit sie um des lieben Friedens willen gehen darf, ohne sich selbst und ihre demokratischen Werte aufzugeben, ist angesichts islamistischen Terrors ungebrochen aktuell." Josua Rösings Inszenierung verzichte "auf plakative Bezüge", Text-Einrichter John von Düffel verlasse "sich weitestgehend auf die kraftvollen Dialoge von Lenz". Die Bühnen-Begegnung von Ulrich Matthes und Hans Löw schließlich sei "ein aufregendes Duell".

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (7.3.2016) schreibt, die Bühne von Mira König erzeuge eine Atmosphäre der Bodenlosigkeit bei gleichzeitiger Enge. "Noch vor dem ersten Auftritt ist klar: Hier gibt es Theaterqualitätsware im funktionellen Design." Klaustrophobe Soundeinblendungen würden praktische Ellipsen möglich machen, die Handlung springe von Dialog zu Dialog. Seidler glaubt: "Das hätte Lenz gefallen", der ein "kühler Meister der Verkürzung und Andeutung" gewesen sei. Die Dramaturgie sorge für psychologisches Futter, das die Sache allerdings vereinfache. da die austarierte Situation mit Freytag und Caspary so eine "psychonalytische Schlagseite" bekomme.

Angesichts des Stoffes herrschten eigentlich "Akzentuierungsmöglichkeiten en masse" für Regisseur (und DT-Regieassisten) Rösing, so Christine Wahl im Tagesspiegel (9.3.2016). Nur könne der "sich nicht entscheiden und surft gleichsam auf jeder Problemwelle, die die Erzählung ihm vor die Füße spült, ein bisschen mit – um bei nächster Gelegenheit eilig auf eine andere aufzuhüpfen." Die Berliner Inszenierung behaupte "eine Ereignishaftigkeit, die sie gar nicht einlösen kann, weil sie den Figuren selbst die dafür nötige Substanz gekappt hat." Trotz schauspielerischem "Hochkaräter-Duo" stecke der Abend "im Erwartbaren fest".

Es hätte "ein Duell zweier Großschauspieler" sein können, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (9.3.2016). In den Kammerspielen laufe aber eher eine "kühle Versuchsanordnung" mit Figuren wie "auf einem Schachbrett", mit "entsprechend hölzernen Zügen" und begrenztem "Ausdrucksarsenal" – "Prototypen ohne weitere Eigenschaften", wozu auch von Düffels Textfassung beitrage, die Dialoge übriglässt, "die wie ausgestanzt klingen". Kapitän und Krimineller blieben "Gegenspieler. Ihre Identitätskonstrukte geraten nicht ins Wanken." Es fehlten "starke Schauspielerführung, genaue Textarbeit und ein klares Konzept."

 

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