Wer war das? NIEMAND!

von Esther Slevogt

8. März 2016. Das ist ja eine Frage, die sich angesichts all der aktuell medial geschürten Hysterien in unserer zerfallenden bürgerlichen Öffentlichkeit immer mal wieder stellt: Wie kann von etwas berichtet, über etwas kritisch geschrieben werden, ohne dass es gleich über die Gebühr aufgeblasen und dem Phänomen damit eine mediale Superpräsenz verschafft wird? Wie vermeidet man, zum Kollaborateur oder Entwicklungshelfer in Sachen Prominenz eigentlich verurteilenswerter Angelegenheiten zu werden, denen man medial jedoch erst die Plattform für ihren großen Auftritt bereitet?

Blutiges, zugleich Weises aus dem Fundus der Weltreligionen

Vielleicht einmal in den Schatzkästlein der Weltreligionen nach Lösungen stöbern, obwohl die momentan ja eher als Leitfäden zur Beschleunigung des allgemeinen Weltuntergangs benutzt und ausgeschlachtet werden. Tendenziell also eher Büchsen der Pandora sind. Fündig werde ich im Judentum bei einem Fest, das Purim heißt und in diesem Jahr im März begangen wird. Es geht auf vorgeschichtliche Ereignisse in einem vorgeschichtlichen Persien zurück und erzählt, wie das jüdische Volk mal wieder vor der Totalausrottung bewahrt wurde. Niedergelegt ist die Sache im biblischen Buch Esther (im Alten Testament), benannt nach der Gattin des persischen Königs Ahasver, dessen oberster Minister Haman die Ausrottung der Juden in Persien plante.

kolumne estherDiese Esther nun, und das in Zeiten, als Frauen gefälligst im Harem zu bleiben hatten, statt sich in die hohe Politik zu mischen, schafft es mit List, dem Gatten (der zunächst noch nicht mal weiß, dass seine Lieblingsfrau dem bedrohten Volk angehört) vom Anschlag seines Ministers auf ihr Volk zu berichten und das Unglück abzuwenden. Mit tödlichen Folgen für den Minister und seine Familie, die fatal an heutigen Umgang mit gestürzten Diktatoren der Region erinnern, was wiederum doch gegen die heiligen Schriften als Anschauungsmaterial in Weltverbesserungsangelegenheiten spricht. Das "Buch Esther" ist eine ziemlich blutige Geschichte. Aber ich konzentriere mich jetzt auf das, was daran weise ist.

Vergnügliches Völkermordgedächtnis

Denn zum Fest, das jährlich an diesen im letzten Moment verhinderten Völkermord erinnert, gehört, dass in der Synagoge die biblische Geschichte laut von einem Rabbiner oder Kantor vorgelesen wird. Und offenbar hat man sich bei der Ausübung dieser religiösen Pflicht schon sehr früh mit der medialen Dialektik solcher Überlieferung befasst: Wie kann man an ein Verbrechen erinnern, ohne damit auch dem Verbrecher ein Denkmal zu setzen? Und so ist die Gemeinschaft der Beter*innen aufgerufen, immer wenn in der öffentlichen Erzählung der Name des Verbrechers Haman fällt, einen Höllenlärm zu veranstalten, in dem er nicht gehört werden kann.

Das macht dann das Völkermordgedächtnis gleich zu einer ziemlich vergnüglichen Angelegenheit. Ja, und mit der Frage, wie sich diese kluge Strategie aktuell medial umsetzen ließe, sind Sie auch schon wieder aus diesem Text entlassen. Der ja schließlich kein Wort zum Sonntag ist.

PS: Nicht verschwiegen werden soll allerdings ein anderes Gebot des Purim-Festes: dass man (und dies im dem Alkohol sonst äußerst reserviert gegenüberstehenden Judentum!) an diesem Tag so viel trinken soll, bis man Freund und Feind nicht mehr unterscheiden kann. Auch eine Möglichkeit, verhängnisvollen dialektischen Konstellationen zu entgehen ...

 

esther slevogtEsther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt beschäftigte diese Kolumne sich mit Volkstribunen auf YouTube und im Theater.

 

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