Harmlose Gräten auf dem Schachbrett

von Stefan Schmidt

Saarbrücken, 11. März 2016. Sie hatten schon Probleme damals, in Frankreich Mitte des 20. Jahrhunderts: Menschen mussten befürchten, an Masern zu erkranken, an einer Fischgräte zu ersticken oder von faulen Eiern ausgeknockt zu werden. Und dann noch die gesamtgesellschaftliche Gemengelage: Auch wenn Begriffe wie Grexit oder Brexit noch nicht erfunden waren, sorgte die Utopie eines grenzüberschreitenden europäischen Wirtschaftsraums für eine gewisse Grundhysterie, wie sich anhand von Georges Perecs posthum veröffentlichtem Text "Über die Kunst, seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten" nachvollziehen lässt.

Finger weg von Fisch und Eiern

Am Saarländischen Staatstheater hat sich jetzt Regisseurin Antje Thoms dieses absurden literarischen Baumdiagramms angenommen. Sie vertraut dabei der Vorlage des französischen Sprachkünstlers stärker, als es der Inszenierung gut tut. Eine Zeit lang ist es durchaus amüsant, den hypothesenverliebten Volten zu folgen, die natürlich nie dazu führen, dass substantiell mehr Geld auf dem Konto landet. Stattdessen erfährt man in pseudo-analytischen Diskursschleifen viel über die potentiellen, oft vom Zufall bestimmten Unwägbarkeiten des beruflichen Lebens, die "der stets entscheidende Moment des Mittagessens" geradezu paradigmatisch widerspiegelt: Wer möchte schon gerne in eigener Sache mit seinem Vorgesetzen verhandeln, wenn der sich gerade den Magen verdorben hat? Fisch oder Eier gilt es da, als Störenfriede par excellence auszuschließen, was angesichts der Speiseroutinen der unternehmenseigenen Snackbar in dem Ratschlag mündet: "Suchen Sie niemals Ihren Abteilungsleiter an einem Freitag oder an einem Tag in der Fastenzeit auf."

Ueber die kunst 6 MKA 2144 marco kanye 560 HDieses Büro ist kein Ponyhof, Parodie allerdings schon in "Über die Kunst, seinen Chef
anzusprechen..." © Marco Kany

Eine so gewichtige Erkenntnis, dass alle vier Schauspieler in der Saarbrücker Inszenierung eifrig ihre Schreibblöcke zücken. Eine zugespitzte Parodie auf die Theorieverliebtheit einer Generation, die so gerne über dieses und jenes geredet hat, dass mancher tatsächlich die Zeit des Handelns aufs Rentenalter verschoben haben mag. Die ganze Politisiererei – ein Vorwand, um bloß nicht zu direkt den Kern der Dinge anzusprechen. Schließlich wäre es möglicherweise ungeschickt, einfach nur zu sagen: "Chef, ich würd‘ gern mehr verdienen." Ich hätte bitte gerne mal ein Problem.

So weit, so wohlfeil lustig, aber dann dürfte es irgendwann schon auch mal im Hier und Jetzt wehtun, in einer Zeit, in der der Vorgesetze nicht zwingend gleichzeitig ein "Familienoberhaupt" ist, in der sich die Ausbeutungsstrukturen globalisierter Organisationseinheiten nicht so ohne Weiteres in einem übersichtlichen Organigramm abbilden lassen, in der prekäre Beschäftigungsverhältnisse eine größere kritische Relevanz haben als die paralysierten Existenzen von Menschen, die jahrzehntelang 45 Stunden pro Woche "Trübsal blasen" oder in der Abteilung ihre Runden drehen.

Der Arbeitsplatz ist nicht zum Sitzen

Die grundlegenden menschlichen Dilemmata, die schon auch in der Vorlage stecken, sind immer dann zu erahnen, wenn die Regisseurin prägnante Bilder dafür findet: Aus der weißen Bühnenwand lassen sich vier Sitzflächen herausklappen, eigentlich genau passend für die Anzahl der Schauspieler – ein Warteraum vor der geschlossenen Bürotür des Chefs. Nur lässt sich eine dieser Sitzflächen nicht stabil fixieren. Unangenehm, sich dazu zu verhalten, ohne unhöflich, egozentrisch oder gar unsicher zu wirken: Quetscht man sich mit auf den Sitz eines oder einer anderen? Bleibt man stehen? Legt man selbst Hand an und repariert das Ganze? Schön (und gleichzeitig: vor lauter Selbsterkenntnis fies) zu sehen, wie das Saarbrücker Ensemble da peinlich berührt ins Schwitzen kommt. Schön auch die Idee, das Motiv der Handlungsunfähigkeit mit ineffizient eingesetzten Baumarktutensilien (Akkuschrauber, Wasserwaage, Zollstock) zu illustrieren. Und schön zu hören, wie Klaus Müller-Beck ganz beiläufig den deutschen christlichen Kirchenschlager "Danke für diesen guten Morgen" pfeift, in dem voller Demut auch das vermeintliche Gottesgeschenk einer Arbeitsstelle besungen wird.

Ueber die kunst 5 MKA 2113 marco kany 560 hIhr Arbeitsplatz ist sicher. Aber wie lange noch? © Marco Kany

Diskursschleifen und Bügeleisen

In diesen Einschüben ist die Inszenierung weitaus stärker als in den manchmal doch etwas langen Szenen, in denen sie sich teils unnötig statisch durch den Text holpert. Mehr von den kraftvollen Bilderwelten der Antje Thoms, weniger von der abgeschmackten Gesellschaftskritik von vor 50 Jahren (für die der Einzelne allen klischeehaften Ernstes ein armseliger Bauer auf einem Schachbrett ist) – das hätte diesen Abend lebendiger gemacht. Ein wenig wirkt es, als würde der altmodische Büroklebstoff, von dem zwischenzeitlich die Rede ist, das Saarbrücker Produktionsteam so sehr an die Diskurse der 60er pappen, dass es schwer ist, davon loszukommen. Klaus Meininger gelingt einmal ein Befreiungsversuch: Da schlüpft er von der Rolle des diskursiven Situationsanalytikers in die des Vorgesetzten und brüllt sich mit hochrotem Kopf gegenüber einem imaginierten Angestellten die Seele aus dem Leib: "Sie wagen sich zu beklagen, obwohl Sie (…) ein elektrisches Bügeleisen besitzen?!" Ungeheuerlich! Und dann dreht sich die Diskursschleife weiter. Und die Inszenierung läuft hinterher. An Gräten verschluckt sich an diesem Abend keiner, und auch von Masernerkrankungen ist nichts überliefert. Der Ausflug ins Frankreich der Mitte des 20. Jahrhunderts – er bleibt harmlos.

 

Über die Kunst, seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten
von Georges Perec
Regie: Antje Thoms, Bühne und Kostüme: Reyes Perez, Dramaturgie: Holger Schröder.
Mit: Gabriela Krestan, Saskia Petzold, Klaus Meininger, Klaus Müller-Beck.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.saarland.de

 

Kritikenrundschau

Christoph Schreiner von der Saarbrücker Zeitung (14.3.2016) hält Perecs Text für "eine einzige, sprachartistische Feier des Konditionals, die vorführt, wie man sich vor lauter Erwägungen, Infragestellungen, Vorwänden, Hypothese, Eventualitäten und Vorwegnahmen vertröstet, entmutigt und lähmt. Ein zeitlos aktueller Text also." Thoms Inszenierung stelle die zersetzende Wirkung pedantischen Bedenkens vorzüglich aus. Sie zeige "vier Ausgesperrte, geklonte Angestellten-Karikaturen, die im blendend weißen Vorzimmer der Macht geschäftig tun". Das sei "(e)in höhnischer Seitenhieb auf die Beraterbranche, die unser Arbeitsleben mit wohlfeilen Vorschlägen und alterm Businessgetue unterwandern, was in erster Linie nur ihnen selbst nutzt". Perec habe all das schon vor 50 Jahren demaskiert.

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