In Trümmern von Liebe und Krieg

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 11. März 2016: Als wäre es eine Szene aus dem Kult-Gangster-Film "Außer Atem": Auf der Leinwand sieht man ein Liebespaar knutschen: er mit Hut, sie mit großen, verträumten Augen. Alles in edlem Schwarz-Weiß. Die machen was her, in ihrer hippen Ästhetik: die vielen Filmeinblendungen, die den Abend takten. Und dazu hört man stilecht Miles Davis' Trompetenspiel.

Die Bühnenrealität dagegen ist karger, öder. Zunächst einmal hat André Jung als Reporter Maibom sehr, sehr viel Prosa-Text zu verarbeiten. Und er muss offenbar ein bisschen Mnemo-Zeit gewinnen, sonst würde er in der Premiere im Kammertheater des Stuttgarter Schauspiels nicht so inflationär "Ähs" zwischen die Wörter flechten. Ungewöhnlich viele. Das ist das Problem am neuen Stück von Fritz Kater alias Armin Petras: Dass so viel monologisiert wird.

Steh-, Sitz-, und Liegetheater

Man glaubt zunächst, man befände sich in einer der vielen Romanadaptionen, wie sie gerade Mode sind. Und man weiß nicht so recht, warum das so sein muss: Dieses vorwiegend als Steh-, Sitz- und Liege-Theater daherkommende Bühnengeschehen, das nur ab und zu ein bisschen in Bewegung gerät. Regisseur Jossi Wieler, Intendant der Stuttgarter Staatsoper, sah offenbar keine andere Möglichkeit, diesen sperrigen Text anders als auf diese lethargische Weise umzusetzen. Wobei es natürlich trotzdem phasenweise großartiges Schauspielertheater zu sehen gibt: Wie es etwa Fritzi Haberlandt – eins geworden mit dem Text – schafft, stehend und im Erzählmodus des Monologs innerhalb weniger Sekunden Riekes Vergewaltigung plastisch werden zu lassen, ist schlichtweg überwältigend.

searching for inri 1 foto thomas aurin 9133 560 uHochhackig in den Trümmern: Manja Kuhl (Milena). Cool rauchend: André Jung (Maiborn)
© Thomas Aurin

Aber die Frage nach dem Sinn des Ganzen fängt schon beim Titel an: "I’m searching for I:N:R:I". Klar, klingt cool und auch so ein bisschen nach Leiden. Die Bühne sieht auch nicht gerade gemütlich aus: Ein Quadrat voller zerdepperter Zement-Platten, an deren scharfen Kanten man sich die Füße aufreißen könnte. Aber Fritzi Haberlandt als Maiboms Geliebte Rieke, die tatsächlich mal barfuß durch die hypersymbolische Trümmerwüste watet, bleibt unverletzt, als liefe sie über Wasser. Sonst strauchelt, stolpert, stakst die Personage über den Schutt – wenn sie sich mal bewegen darf.

Selbst die Namen sind falsch

Die Symbolik ist mehr als klar. Erstens: Unser Leben steht auf sehr unsicherem Grund, alles zerbrechlich. Zweitens: Die Leben des Liebespaares bestimmte der Krieg. Er, Maibom, ist ein einbeiniger, jüdischer, polnischer, ehemaliger Kampfpilot, der in Israel zum Agrarflieger, dann zum Journalisten, Mossad-Agenten und Nazijäger avanciert – erfährt man alles nach und nach. Sie, Rieke, strandet als Flüchtlingskind in Berlin, wird dort von einem jungen Soldaten vergewaltigt, landet auf dem Strich, lernt den Nazi Hauser kennen, arbeitet für die Nazis, liefert Menschen ans Messer, begeht selbst einen Mord. Irgendwann kreuzen sich die Leben Maiboms und Riekes, werden sie ein Liebespaar, ohne Konkretes voneinander zu wissen. Selbst ihre Namen sind falsch. Die Geschichte wird in Fragmenten erzählt. Das Stück springt zwischen drei Zeitebenen: dem Zweiten Weltkrieg, den wirtschaftswundernden 50ern, der Vorwendezeit 1989. Meist spielt es in West-Berlin.

searching for inri 1 foto thomas aurin 9484 560 uIhnen ist der Text auf den Leib geschrieben: André Jung (maibom), Fritzi Haberlandt (rosa, helene, rieke) © Thomas Aurin

Marlowe ist auch dabei

Agententhriller, Film Noir, "eine Kriegsfuge" – große Worte, mit denen Katers Stück angekündigt wird. Zwischen den langen Monologen gibt es eine ausgeprägte, tatsächlich in Dialogen gespielte Chandler-Marlowe-Parodie: Maibom kommt ins gemeinsame Berliner Liebesnest zurück, in das eingebrochen wurde (Trümmerfeld!), Rieke ist weg. Entführt? Er begibt sich mit Taschenlampe auf die Suche und landet in einer mysteriösen Villa mit einer Leiche drin. Trifft dort auf die geheimnisvolle Blondine Milena (cool: Manja Kuhl) undsoweiterundsofort. Und langsam wird dem Nazijäger klar, wen er da liebt. Gekoppelt wird das an eine immer wieder bedeutungsvoll aus dem Off gesprochene Nacherzählung vom Orpheus-und-Eurydike-Mythos. Ach ja, Orpheus, der Sänger. Musik spielt auch eine ganz große Rolle. Der Ermordete in der Villa ist Musikwissenschaftler, Bach-Spezialist mit besonderem Interesse für dessen "Kunst der Fuge". Was genauso beliebig wirkt wie das plötzliche Auftauchen eines über die Mauer geflohenen jungen Komponisten  (grandios verklemmt gespielt von Matti Krause), der in den 80er Jahren Nachbar des alten Maiboms wird.

Loser mit schönem Text

Katers Stück ist ein zu dürftig zusammenassoziierter Text – freilich einer mit ein paar schönen Sätzen drin: "blaumeisen springen kopfüber auf würmer kampfbomber in der schlacht" (Maibom), "das herz ein rasender gast in einer bretterbude die jeden Moment einzustürzen drohte" (Rieke). Die Figuren bleiben blass, und auch das Ende der Liebe wirkt wenig glaubwürdig: Auf der Flucht vor der Polizei verirrt sich das Paar im Wald, und der erschöpfte, lebensmüde Maibom bittet Rieke, ihn zu erschießen. Aber die denkt gar nicht dran und lässt den holzbeinigen Loser einfach im Wald liegen.

 

I’m searching for I:N:R:I (eine kriegsfuge)
von Fritz Kater
Regie: Jossi Wieler, Bühne und Kostüme: Anja Rabes, Musik: Wolfgang Siuda, Video: Chris Kondek, Dramaturgie: Jan Hein, Licht: Felix Dreyer, Rainer Eisenbraun
Mit: Lucie Emons, Fritzi Haberlandt, André Jung,  Manja Kuhl, Matti Krause.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (13.3.2016) schreibt, Regisseur Wieler sei "ein stil- und geschmackssicherer Textlauscher mit großem musikalischen Gespür", was sich auch an diesem Abend wieder zeige, doch würden "Wielers  Subtilkunstmaßnahmen" hier "einigermaßen artifiziell und nostalgisch aufgesetzt" wirken. Das liege an der "hochtrabenden, bedeutungsschwer aufgeladenen, das große Melodram ebenso wie den Film noir sich anmaßenden Textvorlage", die den eigenen Anspruch nicht erfüllen könne, sowie an "der Ergebenheit, mit der Wieler dem so handlungsarm wie wortreich im poetisierenden Fritz-Kater-Sound durch die Zeiten stromernden Textfluss folgt und vertraut". Fritz Katers Stück wolle großes Gefühlskino sein "und landet im Gefühlskitsch."

Katers Text falle irritierend zurück hinter die im Programmheft aufgelisteten Vorbilder, Böll und Seghers, Faulkner und Remarque, findet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (13.3.2016), was vor allem an der fast durchgängigen Monolog-Form liege. Mit diesen Textmengen, "das ist das größte Rätsel von allen", komme die Inszenierung nicht gut zurecht. Wielers "Inszenierung ist so zurückhaltend, wie man es sich als Autor gewiss wünscht, aber in der Oper nennt man das Rampensingen".

Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (14.3.2016) hält den Abend für ein fesselndes "Zeitdrama". Katers Stück sei stark und hochkomplex. Ohne sich zu verzetteln, verwebe er mehrere Handlungsfäden mit großer Stringenz zu einem dichten, vier Jahrzehnte überspannenden Stoff. Auch die Schauspieler ernten Lob: "In aller Selbstverständlichkeit, ohne Getue, Gemache, Gezappel, erzeugen Jung und Haberlandt eine Präsenz, die durch und durch persönlich ist, ohne privatistisch zu werden." Ein Wehmutston, der jenseits aller Sentimentalität in der bitter existenzialistischen Sachlichkeit des Nachkriegs bleibe, durchziehe die Inszenierung. "Jossi Wieler, so scheint's, hat das Stück von Fritz Kater aufmerksam wie eine Partitur gelesen." Müller schließt: "Heftiger Premierenbeifall mit Bravo-Rufen für den exzellenten Existenzialisten-Krimi des Intendanten-Duos!"

Nicole Golombek von den Stuttgarter Nachrichten (14.3.2016) schreibt, Jossi Wieler deute mit Lichtwechseln Räume und Zeiten an, lasse die Schauspieler übers Reden ins Spielen kommen und verstärke den bitter-resignativen Ton des Textes. "Hier staksen lauter Solitäre über die Bühne." Der Abend funktioniere nur dann, wenn jeder seine Eisscholle selbst bespiele, um sein eigenes Scheitern kreise. In einzelnen großartigen Szenen funkele der Abend tragisch und komisch. "Momente, die bei aller Ironie zeigen: Es geht, wenn man den Figuren den Raum und den Text dazu gibt – mit den übergroßen alten, doch scheinbar obsoleten Erzählungen kann das profane Gegenwartsleben in seiner Tragik absolut mithalten."

"Was ist dieses Stück? Ein Fond, ein Sud aus weich gekochten Kolportage-Schablonen", so Peter Kümmel in der Zeit (17.3.2016). "Die Figuren auf der Bühne sinnieren über Abwesende. Es ist eine Methode, mit welcher der Dramatiker die Bringschuld der Figurenzeichnung an den Zuschauer weiterschiebt: Soll der sich doch die Mühe machen, Tiefe und Zusammenhang herzustellen." Mit diesen komplett undramatischen Blindtext-Wesen müsse der Regisseur Jossi Wieler operieren. Katers Text kenne kein Geheimnis, "er kenne nur Quellen. Seine Splitter verweisen nicht auf den Zusammenhang, den sie zu verbergen suchen". So werde dieses Stück über die verdrängte deutsche Vergangenheit zu einem Musterbeispiel solcher Verdrängung, "es lebt von lauter Deck-Erinnerungen".

Martin Halter schreibt in der FAZ (18.3.2016), 'I’m searching for I:N:R:I' sei verglichen mit den meist assoziativ ausfransenden Stücken des Vielschreibers Kater eine straff komponierte, fast altmeisterlich geschlossene Schicksalstragödie. "Alles ist drin: Krieg und Holocaust, Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung, Simmel-Kolportage, Staubsaugerwerbung und Asbach Uralt." Aber: Kater und Wieler würden sich jede Ironie verbieten, so komme weder die Parodie noch das Schicksalsmelodram in die Gänge. Auf der Bühne werde stattdessen geredet und praktisch ununterbrochen monologisiert. "Wie in einer Romanbearbeitung wechseln erzählende Passagen mit Spielszenen, aber es ist weder große Literatur noch Schicksalskino, sondern nur ein Low-Budget-B-Movie."

 

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