Kanonenfeuer auf die Spatzen der Einbildungskraft

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 12. März 2016. Ein Synästhet, der die Woche mit Dienstag beginnen lässt, weil's der Montag einfach nicht verdient: So einer ist Alexander Kerfuchs, Hauptperson in dem Roman "Die Frequenzen" von Clemens J. Setz. Aber was heißt es bei diesem Autor schon, Hauptfigur zu sein? Es tummeln sich derer viele in Setz' umfänglichen Texten. Eines ihrer Charakteristika ist, dass die Leute alle intensiv denken und empfinden, oft quer und verschroben, in Vergangenheit und (Vor-)Zukunft, handfest handelnd oder vage irrlichternd. Kurz: Es geht unrund rund in Setz' dicken Büchern.

Krause Innenkopflandschaften

Das Feuilleton stimmt regelmäßig Elogen an auf jedes seiner neuen Werke, von "Söhne und Planeten" (2007) bis "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" (2015). "Auf ein großes, abendfüllendes Theaterstück wartet die Welt noch", hieß es jetzt im Grazer Schauspielhaus im Programmheft. Dem hat man abgeholfen und von den 2009 veröffentlichten, schon in dritter Auflage nachgedruckten "Frequenzen" den Artikel im Titel und Hunderte von Textseiten weggestrichen. Immer noch bleibt ein mit zwei Stunden vierzig Netto-Spieldauer wahrhaft abendfüllendes Ding.

Frequenzen2 560 Lupi Spuma uStreiten sie schon wieder? Der hektische Alexander und seine Freundin Lydia (Clemens Maria Riegler, Vera Bommer). © Lupi Spuma

Platz für alle sechs Darsteller und ihr querständiges Gedanken-Reisegepäck ist notfalls im kleinsten Fiat. Der ist gelb und hat keine Scheiben, was die Enge mindert. Es bleibt auch viel Auslauf auf der Drehbühne von Daniel Wollenzin. Eine Hausfassade mit Balkon, ein Badezimmer in einem Glaskubus, ein Tisch in Höhe des ersten Stockwerks, ein hereingeschobenes Sofa und ein paar andere Dinge sind da. Reichlich Bühnennebel wird produziert. Und es gibt viel Projektionsfläche. Zwei Damen mit Kamera und Tonangel sind nämlich fast immer hinter den Protagonisten her. So sieht man im Großaufnahme, in nicht selten sich überschneidenden Projektionen, was in ihren Gesichtern vorgeht und kann die krausen Innenkopflandschaften erahnen.

Kein Ausgang aus der Wirklichkeit

Tief einatmen, und durch! Regisseur Alexander Eisenach erzählt die Geschichte von dem quirlig-hektischen Alexander (Clemens Maria Riegler), der mit seiner Freundin Lydia dauerhadert und mit der Psychologin Valery was anfängt. Er kiefelt auch an der übermächtigen Vaterfigur (Franz Xaver Zach). An einer solchen Figur leidet auch der Jugendfreund Walter (Jan Brunhoeber). Der ist von seinem alten Herrn fremdbestimmt worden als Vielleicht-Schauspieler oder Möglicherweise-Psychopath. Psychologin Valery kapituliert berufsmäßig und setzt auf ihn als schauspielernden Agitator im Patientenkreis, was einige Verwirrung stiftet.

Aber wir wollen uns hier nicht verlieren in einer Handlung, die ohnedies Nebensache ist. Es geht vor allem um die Monologe, um die gedanklichen Querschläger der Figuren. Er habe "beschlossen, dass kein Ausgang aus der Wirklichkeit" infrage komme, versichert einer, und der andere spintisiert darüber, ob ein Riss in der Wand ohne eine solche existieren könne oder ob das schlicht den Ruin der kleinen Familie markiere. Kurz: Mit der "seelischen Gleichgewichtssteuerung" ist es bei all diesen Leuten nicht so weit her: Auch nicht bei Valerie und Lydia (Evamaria Salcher, Vera Bommer), die den Männern auf ihren holprigen Ego-Trips die Stirn bieten. Die Männer kommen jedenfalls aus der "Welt der offenen Plätze" heim zu ihren Frauen und tun so als ob. "Als ob – die Wörter, mit denen wir unser Leben durchs Schlüsselloch betrachten".

Weiden auf saftige Denkwiesen

Dieser voyeuristische Blick ist nicht unanstrengend, weil er durch die Dramatisierung zusätzlich eingeschränkt ist und alle – wie es Walter mal formuliert – "mit Kanonen auf die Spatzen ihrer Einbildungskraft schießen". Spatzen sind eben keine Schwergewichte, genau das wird zum Problem derer, die Hand anlegen an den Text von Clemens J. Setz. Der ist, bei allen gedanklichen Hakenschlägen, doch stringent. Kürzung macht den einen oder anderen Handlungsstrang klar, nimmt aber die Möglichkeit zu großen Gedankenausflügen, zu denen Setz' Roman beständig einlüde. Das kann kein Bühnennebel, kein Lichteffekt, keine Projektions-Finesse wieder gutmachen.

Am ehesten noch das Kind in der Rolle des jungen Alexander Kerfuchs. In der Premiere war das Johanna Marauschek. Die Dreizehnjährige steuert bewundernswert natürlich durch gar nicht wenig sperrigen Text, "unbersehbar mitten in der Wirklichkeit". Aber fatal: Genau diese Wirklichkeit (ohne die eine Bühnenumsetzung nicht auskommt) ist es, die den Autor am wenigsten kratzt. Ihm geht es ums Hinausgrasen aus den saftigen Denkwiesen. Ein starkes Plädoyer fürs Lesen.

 

Frequenzen
nach Motiven aus dem Roman "Die Frequenzen" von Clemens J. Setz
Uraufführung
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Claudia Irro, Video: rocafilm, Dramaturgie: Karla Mäder, Licht: Thomas Trummer.
Mit: Vera Bommer, Jan Brunhoeber, Clemens Maria Riegler, Evamaria Salcher, Franz Xaver Zach und Johanna Marauschek / Felix Ostranek.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus-graz.com

 

Kritikenrundschau

In der Kleinen Zeitung aus Graz resümiert Werner Krause in seiner Nachtkritik (12.3.2016): "Eine fein austarierte Mischung aus absurdem Theater, Komödie, Mysterien- und Traumspiel" sei die Inszenierung geworden, mit "hervorragenden Akteurinnen und Akteuren, die vertraut sind mit der Kunst, im Theater heimliche und unheimliche Schwingungen zu erzeugen". Eine "riskante, geglückte Inszenierung", die viel verlange und sehr viel gebe.

Colette M. Schmidt schreibt im Wiener Standard (13.3.2016): "Die wunderbaren Sprachbilder" von Setz setze Regisseur Eisenach "konsequent" um. Daniel Wollenzin sei dabei mit seinem Bühnenbild ein "kongenialer Partner". "Frequenzen" und "Störungen" bekämen auf der Bühne ihre Entsprechung durch Videoprojektionen von Roland Horvath und Carmen Zimmermann. Das "doppelte Spiel der Schauspieler auf der Drehbühne und auf einer durchsichtigen Leinwand an der Bühnenrampe oder auf der Hausfassade" erschaffe parallel zum Text eine "zweite Stimme". Einziger "Wermutstropfen": "Die Stimmen der Schauspieler laufen meist etwas asynchron zu den Bildern."

Barbara Petsch schreibt ausführlich auf der Website der Wiener Presse (13.03.2016): Regisseur Eisenach habe "etwas willkürlich Brocken aus dem Setz-Bergwerk gebrochen", um eine nicht-lineare Geschichte "schlüssig erzählen zu können". Das Ergebnis sei beachtlich, wenn auch verwirrend. Die Aufführung sei "mehr als ansehnlich, streckenweise sogar genial". Wer sich vom Theater gern um die eigene Achse drehen lasse, "bis er nicht mehr weiß, wo vorn und hinten ist, wird diese Kreation schätzen". Nach "feinem Start" zerfalle die Aufführung in ein "Patchwork", lose zusammengehalten von Videosequenzen. "Diese Methode, die Frank Castorf früh perfektionierte, wirkt hier weniger grausam und entlarvend als bei ihm, sondern auch heiter und spielerisch." Es gebe "viel Slapstick, einiges zu lachen", Kalauer und Musik. Die Schauspieler würden sich "mit Lust auf dieses schillernde Gebilde aus Theorie, Sein- und Sinnsuche, aus Spekulationen und jener Realität" werfen.

 

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