Iwanow - Viktor Bodó erfindet sich am Volkstheater Wien neu
Fadesse oblige
von Martin Pesl
Wien, 18.3.2016. Er hält ihn also nackt, den Iwanow-Monolog. Im dritten Akt, allein, ausnahmsweise von den Mitleidigen, den Verächtlichen und den Polternden in Ruhe gelassen, reißt sich Jan Thümer die Kleider vom Leib und steigt in die Badewanne, was ihm aber auch nicht guttut, also hetzt er nackt durch sein Haus, zittert, trinkt was, speit es wieder aus und hüllt sich wie ein verschrecktes Kind in eine Decke, nachdem er sich selbst am Höhepunkt Tschechow’scher Larmoyanz nochmal vorgesagt hat, was für ein "schlechter, jämmerlicher, wertloser Mensch" er ist.
Gefangen zwischen falsch und nicht richtig
Hat das schon mal ein Iwanow so gemacht, nackt? Wahrscheinlich. Ist ja auch eine ganz schlüssige Idee für den sich selbst im Weg stehenden, zu keiner Emotion mehr fähigen Antihelden. Jedenfalls wird es als das Charakteristikum von Viktor Bodós "Iwanow"-Version im Volkstheater hängenbleiben, einer Inszenierung, die eigentlich nichts falsch macht, aber auch nicht weiß, was richtig für sie wäre. Offenbar möchte der ungarische Regisseur neue Töne anschlagen. Erstens schreibt er sich jetzt international, mit c und akzentfrei: Victor Bodo. (Kurz vor der Premiere wurde bekannt, dass er den "XIII Europe Prize Theatrical Realities" gewonnen hat.) Und: In seinen Inszenierungen aus Graz, Mainz oder Budapest hat man hysterischen Wahnsinn erlebt, Massenspektakel auf höchster Drehzahl, in denen sich die Gesellschaft ad absurdum raste. Diese erste Wiener Inszenierung des neuen Victor Bodo dagegen hebt in Moll und auch recht ... unaufgeregt an.
Langweilen aus Langeweile
Man könnte auch langweilig sagen, aber das sagen die Figuren im Stück schon so oft, dass es nicht mehr angebracht wirkt. Schließlich geht es in "Iwanow" noch mehr als in Tschechows anderen Landgut-Komödien um die Fadesse selbst, die nicht nur das Problem, sondern auch seine Ursache ist. Menschen wissen nichts mit sich anzufangen, leiden an Geldnot, besuchen und langweilen einander, nur um sich nicht selbst langweilen zu müssen. Wer wie Iwanows Frau Anna trotz bitteren Schicksals – von den Eltern verstoßen, weil sie als Jüdin einen Christen heiratete – noch Hoffnung ausstrahlt, erkrankt daran tödlich.
Slapstick und Suff
Den meisten bleibt nur der gesunde Suff. Dabei zeigt sich, dass Victor Bodo dem Aberwitz nicht ganz abgeschworen hat. Vereinzelte Slapstick-Stolperer dürfen schon noch sein, mal hebelt der sich in Rage redende Günter Franzmeier als Nachbar Lebedew beiläufig eine Tür aus, mal explodiert ein schäbiges Belüftungsteil oder jagt der Pianist eine Fliege im Klavier. Da besonders im ersten Teil aber der Eindruck entsteht, man solle sich doch bitte auf die Figuren und ihr sich entfaltendes Selbst-Elend konzentrieren, wollen diese Einlagen nicht zünden.
An den Schauspielern liegt es nicht. Fasziniert sieht man jedem und jeder Einzelnen zu, wie sie ihre Rollen ernst nehmen: die einen feiern die Groteske, etwa Martina Spitzer als tattriger Dauergast (Marke: Wer hat die eigentlich eingeladen?) oder Thomas Frank, der die Tristesse mit absolut manischer Infantilität durchbricht, bis ihm der rote Kopf fast platzt. Die anderen suchen nach dem ehrlichen Ton, so die hingebungsvolle Stefanie Reinsperger als Iwanows schmählich behandelte Ehefrau.
Hier ein geglücktes Bild – Anna nimmt unter zärtlicher Betreuung ihres Arztes ein stummes Bad –, da ein intensiver Spielmoment – ein mit Verve ausgetragener Ehestreit der Iwanows, bei dem sie fast durchgehend gleichzeitig sprechen und trotzdem aufeinander reagieren. Und dann wird plötzlich ausgestellt, wie die ganze Familie Lebedew gleichzeitig heult wie Schlosshunde. Dieser Erheiterungsversuch gerät eher unsensibel.
Fremde Stimmen im Kopf
Der durchaus eingängige Minimalmusik-Score des Komponisten und Pianisten Klaus von Heydenaber weitet sich durch Mitwirkung der Cellistin Loukia Loulaki ins Elegische, ja Pathetische aus. Auf ähnliche Weise kann Victor Bodo sich nicht entscheiden, ob seine Inszenierung "ehrenhaft" sein will wie Gábor Biedermanns steifer, in die Patientin verliebter Doktor, oder hysterisch wie Thomas Franks Schnaps-Gurken-Saft pressender Scherzbold.
Zugegeben, im Schlussbild führt er beide Tonarten zusammen. Nach über drei Stunden, am Rande der Hochzeit des mittlerweile verwitweten Iwanow mit Lebedews Tochter (Nadine Quittner), wird das ganze Ensemble in den Bühnenhintergrund geschoben und lässt einen Iwanow an der Rampe zurück, für den alle sowieso nur noch Stimmen im Kopf sind. Bei Tschechow erschießt er sich, bei Bodo singt er symbolisch ein paar Zeilen auf Ungarisch. Das ist zwar nicht logisch, aber dafür ganz Viktor Bodó, nicht Victor Bodo. Wir wollen unseren Regisseur mit Akzent wiederhaben.
Iwanow
von Anton Tschechow
Deutsch von Andrea Clemen
Regie: Victor Bodo, Bühne: Lőrinc Boros, Kostüme: Fruzsina Nagy, Musik: Klaus von Heydenaber, Dramaturgie: Anna Veress, Angela Heide.
Mit: Gábor Biedermann, Thomas Frank, Günter Franzmeier, Klaus von Heydenaber, Steffi Krautz, Loukia Loulaki, Nadine Quittner, Stefanie Reinsperger, Claudia Sabitzer, Martina Spitzer, Stefan Suske, Jan Thümer, Luka Vlatkovic, Günther Wiederschwinger (bei der Premiere erkrankt).
Dauer: 3 Stunden und 10 Minuten, eine Pause
www.volkstheater.at
Jenseits einiger sehr überzeugender Behauptungen komme dieser "Iwanow" nicht sehr weit über sehr solides Mittelmaß hinaus, findet Michael Laages im Deutschlandfunk (19.3.2016). Zwischendrin scheine der Abend gar "anfallsartig an Amüsiervergiftung zu leiden". Insgesamt sei er "ein bisschen zu neckisch und zu niedlich; von der fundamentalen Verwirrung, die – sagen wir mal - Dimiter Gotscheff - Gott hab' ihn selig - mit diesem grandiosen Theatertext anzustiften vermochte, bleibt Viktor Bòdos Wiener Fassung ein paar Welten weit entfernt".
Ronald Pohl von der Standard (20.3.2016) sah eine "recht klein gedachte Inszenierung." "Was ohnehin geschrieben steht, kann man ohne Not auch noch dreimal dick unterstreichen.", legt er Viktor Bodó in den Mund. "Es nützt alles nichts", befindet Pohl und kritisiert zudem, dass man den "Schluss mit Iwanows Suizid auch noch verpfuscht" habe.
"Diese Inszenierung zählt zu den besten einer bisher eher durchwachsenen Saison", lobt Nobert Mayer für Die Presse (20.3.2016). "Das Lustvolle erhält hier Schwere", so Mayer, die in Wien "überraschende Späßchen, schräge Einfälle und sogar (..) Charakter" sah.
Einen "interessanten, aber auch überinszenierten Abend" hat Wolfgang Kralicek erlebt, wie er in der Süddeutschen Zeitung (31.3.2016) schreibt. In Bodós hysterischer Umgebung wirke der depressive Iwanow fast wie der einzige Normale; "man kann ihm nachfühlen, dass er an seinem Leben verzweifelt".
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Intendantin Badora, wir in Wien wünschen uns mehr Risiko von Ihnen!
Sie haben mit einer Inszenierung Volker Löschs so gut begonnen. Künstlerisch sowie gesellschaftskritisch.
Dieser Iwanow ist hoffentlich endlich der Schlusspunkt beliebiger sowie unentschiedener, risikofreier Inszenierungen am Volkstheater Wien. Bitte!
Wir bauen und zählen noch immer auf Sie !
Let's go wilder.