Der Aufstand hat sich verpuppt

von Sascha Westphal

Köln, 1. April 2016. Erst einmal versammeln sich fast alle um das ganz links am Rand stehende Klavier. Philipp Pleßmann stimmt ein paar Töne an, und man singt gemeinsam das "Ave Maria". Die Botschaft ist deutlich. Diese Gesellschaft, die gleich den neunten Geburtstag von Victor Paumelle feiern wird, steht fest auf dem Boden christlich-europäischer Traditionen. Man bezieht Stellung und schottet sich ab. Nur das Geburtstagskind ist nicht mit dabei. Victor hat seine eigenen Vorstellungen, und die sind alles andere als bürgerlich und erst recht nicht christlich. Nachdem er durch eine der drei riesigen beweglichen roten Türen, deren Klinken auf etwa zwei Meter Höhe angebracht sind, die leicht erhöhte rechteckige Bühne betreten hat, treibt er seine Scherze mit dem Gebet: "Und gebenedeit ist die Frucht deines Unterleibes."

Bestechende Logik in Pegida-Zeiten

1928, als Antonin Artaud die Uraufführung von Roger Vitracs "Victor oder Die Kinder an der Macht" inszenierte, besaß dieser Satz des neunjährigen enfant terrible sicherlich etwas Provozierendes. Eine erste deutliche Kampfansage an das katholische Bürgertum Frankreichs. Und vielleicht ist er heute, beinahe 90 Jahre später, tatsächlich wieder aktuell. Schließlich meinen "besorgte Bürger" seit einiger Zeit, dass sie zur Verteidigung der christlichen Werte Woche für Woche auf die Straße gehen müssen.

Victor2 560 Martin Misere uPuff! Nicola Gründel, Magda Lena Schlott © Martin Miseré

Gedanken wie diese drängen sich zu Beginn von Moritz Sostmanns Inszenierung dieses mehr oder weniger in Vergessenheit geratenen Familienstücks auf. Vitracs absurde Abrechnung mit dem französischen Nationalismus und Militarismus des frühen 20. Jahrhunderts, die auch zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges längst nicht Geschichte waren, erscheint einem durchaus wieder aktuell. Insofern ist es nur konsequent, dass Johannes Beneckes Victor fast nichts Kindliches mehr an sich hat. Die Logik, mit der er das von der im Rollstuhl sitzenden Lou Zöllkau gespielte Dienstmädchen Lili manipuliert und terrorisiert, ist absolut bestechend. Dabei ist dieser Victor nicht einmal bösartig. Er hat nur die Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft so perfekt durchschaut, dass er sie nach Belieben für seine Zwecke nutzen kann, solange bis diese Gesellschaft zerbricht.

Hysterisierte Nummernrevue

In der ersten Szene, in der Victor an dem Dienstmädchen seine Waffen für den Angriff auf seine Eltern Emilie und Charles Paumelle erprobt, spielt Johannes Benecke die Macht dieses "schrecklichen Kindes", das die ganze Welt aus den Angeln heben kann, mit einer bewundernswerten Nonchalance aus. Auf so tönernen Füßen steht die Ordnung seiner Eltern. Nur können weder Moritz Sostmann noch Benecke auf diesem eindrucksvollen Anfang aufbauen.

Victor deckt später zwar noch die Affäre auf, die sein Vater mit der Mutter seiner Freundin Esther hat, treibt zudem Esthers Vater Antoine zu Wahnsinnsanfällen und macht den General Etienne Lonsegur lächerlich. Doch das alles ist an diesem Abend nur Variation und Wiederholung seines ersten Coups. Der durchaus methodische Wahnsinn, in den sich Roger Vitracs Stück immer wieder steigert, wird bei Sostmann, der diesmal weitgehend auf den Einsatz von Puppen verzichtet, zur hysterisierten Nummernrevue. Klemens Kühns beinahe abstrakte Bühne, die mit fahrbaren Türen und aufblasbaren Sitzmöbeln das Boulevardtheater zitiert und zugleich wieder parodiert, erweist sich dabei als Nährboden der Beliebigkeit. Spiegelt sich in der Anordnung der Bühne zunächst noch Victors erbarmungslose Logik, verweist sie im weiteren Verlauf nur auf die mutlose Ort- und Zeitlosigkeit der Inszenierung.

Wir bereuen nichts!

Moritz Sostmann begnügt sich nicht mit der impliziten Aktualität des Stücks. Die aufgesetzten Modernisierungen, zu denen Verweise auf die 68er und auf Guantanamo gehören, bleiben aber halbherzig. Sie verstärken keineswegs die Sprengkraft des Textes, sondern verwässern sie eher. Was brisant und zeitgemäß sein könnte, wird zum Gag. Am Ende ist eben doch alles nur ein Spiel, und man kommt zusammen und singt Édith Piafs "Non, je ne regrette rien". Dazu passt dann auch, dass Victor in seiner letzten Szene als überlebensgroße Puppe auf der Bühne liegt. So anrührend dieses monströse Puppenkind mit dem viel zu großen Kopf wirkt, es schafft eine Distanz zum Geschehen, die ihm jegliche Relevanz nimmt.

Hier muss wirklich niemand etwas bereuen. Aber so bleibt am Ende kaum mehr in Erinnerung als Magda Lena Schlotts zugleich komisches und erschreckendes Porträt einer mal naiven, mal biestigen Sechsjährigen und Lou Zöllkaus Lili, die sich mehr und mehr von dem verlogenen Treiben um sie herum emanzipiert – wie Dorine in Molières "Tartuffe" ist sie mit ihrem sarkastischen Blick ein Fels der Vernunft in einem Meer der Torheit.

Victor oder Die Kinder an der Macht
von Roger Vitrac
Deutsch von Helga Krolewski
Regie: Moritz Sostmann; Ausstattung: Klemens Kühn, Puppen: Hagen Tilp, Musik: Philipp Pleßmann, Licht: Jürgen Kapitein, Dramaturgie: Julian Pörksen.
Mit: Johannes Benecke, Nicola Gründel, Seán McDonagh, Sabine Orléans, Philipp Pleßmann, Magda Lena Schlott, Jakob Leo Stark, Lou Zöllkau.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Am Berliner Ensemble inszenierte kürzlich Nicolas Charaux Roger Vitracs böse Familienfarce.

 

Kritikenrundschau

Martin Krumbholz von der Süddeutschen Zeitung (4.4.2016) findet es schade, dass Roger Vitrac fast ganz auf Puppen verzichtet. Ohne erkennbare Not verleugne der Regisseur seinen Markenkern. Nicht der einzige Grund für Enttäuschung: Der Regisseur gehe das Stück an, als wär's eine Folge von Fragmenten, von Nummern, von abstrakten Selbstüberbietungen. "Doch der Witz zündet nur auf der vorher gefertigten Basis einer gewöhnlichen familiären Situation." Wenn am Ende doch noch eine Puppe auftrete, sei das Experiment einer "Vitrac-Wiederbelebung (…) da schon längst gescheitert".

Dorothea Marcus vom Deutschlandfunk (aufgerufen am 4.4.2016) findet: "(D)ie Provokation, die einst hinter diesem Stück steckte, hat kein Ziel mehr, und Regisseur Sostmann tut auch nichts, um sie in die Gegenwart zu holen– abgesehen von ein paar müden Anspielungen auf Guantanamo oder die 68er." Was solle uns das Stück heute sagen, außer, dass das christliche Abendland sich nicht mehr elitär auf der Vergangenheit ausruhen kann? "Moritz Sostmanns Interpretation macht es ohnehin nur zur bunten Dekoration und banalen, hysterischen Schauspielerverausgabung."

Stefan Keim von Deutschlandradio Kultur (aufgerufen am 4.4.2016) hat eine "temporeiche(), aber auch ins Leere laufende() Inszenierung" gesehen. "Den Schauspielern gelingen immer wieder schöne Gags und absurde Momente. Vor allem Magda Lena Schlott überzeugt als anarchische Sechsjährige. Doch dem Stück fehlen die Bezüge." Roger Vitracs Stück habe Staub angesetzt. "Wer es auf die Bühne bringt, braucht ein zwingendes ästhetisches und inhaltliches Konzept." Das sei im Kölner Schauspiel nicht zu entdecken.

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