Wittgensteins Enkel

von Wolfgang Behrens

5. April 2016. Seit ich kein Zuschauer mehr bin, sitze ich im Theater auf anderen Plätzen. Na klar, die Presseabteilungen verfrachten einen Kritiker naturgemäß nicht in die letzte Reihe unterm Rang, wo man nix hört, und auch nicht auf den äußersten Seitenrang oder hinter eine Säule, wo man nix sieht. Ob die Plätze damit besser geworden sind, steht dahin. Denn jetzt sitze ich meist zusammen mit anderen Kritiker*innen in so einer Art Schlechte-Laune-Block. Es stimmt zwar nicht, dass alle Kritiker*innen grundsätzlich schlecht gelaunt sind – fast jeder*r für sich genommen ist ganz zauberhaft (mit zwei, drei Ausnahmen) –, aber jede*r glaubt natürlich, die anderen seien schlecht gelaunt, und das steckt dann an. Am Ende sind doch wieder alle schlecht gelaunt, womit die Prämisse des vorigen Satzes widerlegt wäre.

Ein Zeichen dieser schlechten Laune ist, dass viele Kritiker*innen nicht applaudieren, selbst wenn es ihnen gefallen hat. Warum eigentlich nicht? Haben sie Angst, jemand könnte sehen, dass sie klatschen, und denkt dann: "Ach, der Z. und dem Q. hat’s ja offenbar gefallen, dann kann ich mir morgen das Geld für die Zeitungen sparen!" Oder wollen sie einfach zeigen: "Seht her, ich bin ein echter Profi! Ich gehe nicht ins Theater, weil ich will, sondern weil ich muss. Und wenn ich klatsche, bekomme ich am Ende gute Laune, was dem echten Profi nicht ansteht."

Im Gute-Laune-Block

Auch ich habe mein Applausverhalten geändert, seit ich auf Pressekarten ins Theater gehe. Ich klatsche zwar noch – meistens sogar dann, wenn ich’s unterirdisch fand –, aber ich rufe nicht Bravo und ich buhe nicht mehr. kolumne wolfgangLetzteres habe ich ohnehin nur einmal getan: Da habe ich anno knüpp mal Götz Friedrich ausgebuht, weil ich seine Inszenierung des "Rosenkavalier" so kunstgewerblich fand. Es ging voll nach hinten los, denn am nächsten Tag notierte die Zeitung, einigen Buhrufern sei Friedrichs Inszenierung wohl zu modern gewesen. Bravo rufe ich nicht, weil einen die Kritikerkolleg*innen dann erstaunt anschauen und denken: "Ist er vom Theater bezahlt worden? Hab' ich's doch immer gewusst, dass das das Geschäftsmodell von nachtkritik.de ist." Soviel Selbstbewusstsein, trotzdem Bravo zu rufen, bringe ich leider nicht auf.

Als ich noch ein Zuschauer war, war das noch anders. Nach meiner Lektüre von "Wittgensteins Neffe" von Thomas Bernhard habe ich das Bravo-Rufen sogar mit einem gewissen Fanatismus betrieben. Bei Bernhard heißt es, Wittgensteins Neffe Paul habe "mit seiner Begeisterung, weil er damit ein paar Sekunden früher als die anderen eingesetzt hatte, die ganze Oper" mitgerissen. "Andererseits landeten mit seinen Erstpfiffen die größten und die teuersten Inszenierungen, weil er es wollte, weil er dazu gerade aufgelegt war, in der Versenkung. (...) Die Wiener haben Jahrzehnte nicht gemerkt, daß der Urheber ihrer Operntriumphe letzten Endes der Paul gewesen ist (...)."

Saalschlachten schlagen

Das musste mich elektrisieren. Ich übte bei unwichtigen Veranstaltungen, etwa bei einem Liederabend von Siegfried Jerusalem, bei dem der Tenor nicht gut bei Stimme war. Kurz nach Einsetzen des Schlussapplauses ein knackiges Bravo abgefeuert, und der Saal tobte: Der arme Jerusalem musste sich auch noch durch ein paar Zugaben hindurchquälen. Die entscheidenden Veranstaltungen aber waren selbstverständlich solche, wo es galt, meine Helden zu retten: Ruth Berghaus, Einar Schleef, solche Leute. Ganz wichtig war, den Moment des Auftritts des Regisseurs genau zu treffen. Bloß nicht zu früh, damit der Saal das Bravo nicht falsch bezieht. Aber schon einmal den Rücken durchdrücken, eventuell eine Hand trichterartig vor den Mund führen, und dann: "BrAAaa-wooOO!" Zentral die Intonation: Die Vokale brauchen schon eine genaue Führung! Am allerwichtigsten aber war: Man musste vor dem ersten Buhrufer sein, denn so gerieten die Miesmacher im chorischen Echo auf das erste Bravo gleich einmal ins Hintertreffen.

Wie viele Saalschlachten habe ich auf diese Weise geschlagen! Die wenigsten wissen, dass ich auf diese Weise Frank Castorf und Christoph Marthaler überhaupt erst durchgesetzt habe. Es ist sehr schade, dass diese Zeit vorbei ist. Als Kritiker hat man einfach keinen Einfluss. Als Zuschauer schon!

 

behrens2 kleinWolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.

 

Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens an dieser Stelle über den Tortenwurf des Peng Collective auf Beatrix von Storch.

 

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Kommentare  
Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war: echt schön
So machte ich das mit der Presseschau auch, als ich noch Leser war - allerdings mit geschriebenen Buuhs und Bravoooo-oh - echt schöne Kolumme... Von dem allen abgesehen, ist Wittgensteins Neffe vom Bernhard wirklich ein sehr schönes kleines Buch vom Bernhard, finde ich. Mir gefällt auch, dass die über Land durch die Nacht gefahren sind, wenn der Paul eine bestimmte Zeitung wo kaufen wollte - das muss Liebe gewesen sein, bei aller Abgedrehtheit.
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: wunderbar unzynisch
Mein Kompliment Herr Behrens -
Ein wunderbar unzynischer Beitrag (dass das eine Kategorie sein soll dafür danke ich Ihrer Zunft (das ich es nicht schaffe mein Kompliment ohne Seitenhieb hinzuschreiben, zeigt wie tief ich selbst drinhänge)).
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: "und kleiden sich wie ein Punk"
lieber herr Behrens...

"Wie viele Saalschlachten habe ich auf diese Weise geschlagen! Die wenigsten wissen, dass ich auf diese Weise Frank Castorf und Christoph Marthaler überhaupt erst durchgesetzt habe. Es ist sehr schade, dass diese Zeit vorbei ist. Als Kritiker hat man einfach keinen Einfluss. Als Zuschauer schon!"
Wie scheinheilig ist das denn bitteschön?!
Sie, dieses Portal und diese ganzen wirklich dummen Zeitschriften sind doch die Modezeitschrift des Theaters, sagen an, was In und Out ist und erklären allen Leuten, wieso weshalb und warum...
es ist immer leicht über die gute alte zeit zu sinnieren ohne zu berücksichtigen, dass allen vorraus: man selbst für das Jetzt verantwortlich ist!
dann lassen sie doch das kritisieren und machen nen sinnvollere job und seinen sie wieder ein Zuschauer der verändern will und kann!!!!
stattdessen sind Sie und die meisten von ihrem Schlag dafür da schlechte Kopien der original Castro und co. zu ikoniesoeren mit titeln wie: EIN REGIETALENT oder sonst so´n schwachsinn^^ schreiben sie doch mal gute Kolumnen über die desolate theatersituation im allgemeinen, darüber wie die "jungen" regielaute nicht in der Lage sind etwas eigenen zu schaffen, eigene Inhalte vertreten, drüber dass theater und diese ganze sch++++maschiene um sie herum ausschließlich nur noch den amerikansch ökonomischem Prinzip folgt und somit an QUALITÄT einbüßt... nein sie schreiben selbst wie das System und kleiden sich wie ein "Punk" - das ist peinlich - das muss aufhören...
vielleicht gehen sie mal mit sich selbst richtig hart ins Gericht, dann klappt´s auch wieder mit dem theater - vvielleicht!!!
aber höchstwahrscheinlich wird dieser Kommentar nicht online gestellt, wie so viele, die das kind beim Namen nennen****
DAS THEATER IST EINE VERLEGENHEITSORT, DER WAHRHEIT NICHT KENNT*****
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: Plan
Interessante Strategie... Eine Überlegung wert.
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: wie schön
Ach wie schön, hier erfahre ich endlich bei wem ich mich für Popularität von Castorf und Marthaler bedanken darf! Bei Christoph Marthaler fällt mir die Weitergabe des Staffelstabes auch nicht schwer. So mancher Bravoruf aus eigenem Mund hat so schon den Saal der Volksbühne angeheizt.
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: Bra+Buh=Bravo
Wie man professionell Bravo ruft: Einsilbige Wörter dringen besser durch, dadurch ist der Buh-Rufer im Vorteil. Der Bravo-Rufer sollte deshalb statt Bravo besser nur die erste Silbe also nur Bra brüllen, das Buh klingt dann im Ohr wie die zweite Silbe und aus der Addition von Bra und buh wird in der Wahrnehmung ein einziges großes Bravo. Da funktioniert sensationell! Probiert es aus!
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: sehr überzeugend
Gut, das klingt sehr überzeugend! - aber Castorf und Marthaler sind doch schon durchgesetzt! - Bei wem sollte sich dieser genial vernünfige Einsatz jetzt lohnen, E.H.?
Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war: neulich bei Fritsch
Gelegenheiten gibt's genug, Profirufer! Habe erst vor kurzem bei Herbert Fritschs Operninszenierung King arthur in Zürich mit dieser Technik das Spiel gedreht!
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: Irrtum
Da täuschen Sie sich gewaltig, was die Manipulation von Applaus angeht, Herr Behrens! Der Schlussapplaus wird am Theater traditionell von den Schauspielern lanciert! Dazu lernt der Anfänger von erfahrenen Kollegen das sogenannte "Kinn auf Brust Bravo": Im Soloverbeugen presst der Darsteller ein kieksend lautes "Bravo" für sich selber heraus, woraufhin nicht nur der gemeine Abonnent, sondern auch der hundsgemeine Kritiker, von der Begeisterung mitgerissen, einstimmt. Noch nie bemerkt?
Achten Sie mal drauf!
Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war: ungerecht!
Jeder möchte hier Herrn Behrends die Durchsetzung von Castorf und Marthaler streitig machen - das ist sehr ungerecht!
Macht des Zuschauers: Bravo
bravo
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