"Fickificki, Angela ist doof"

von Sabine Leucht

München, 8. April 2016. Die vermeintliche Trotteligkeit seines Švejk entdeckt Aurel Manthei erst nach der Pause. Auf der Suche nach seinem Regiment ist er zum zweiten Mal im gleichen Ort gelandet und geht nun an der Hand eines "Mütterchens", als das Valery Tscheplanowa mit langen, in einem goldenen String endenden Beinen über die Bühne des Residenztheaters marschiert – soweit ihr das die für Castorf-Frauen obligatorischen Highheels erlauben.

"Sag mir, wo die Blumen sind" singt die Frau, die den braven Soldaten in den Unterbau von Aleksandar Denics Bühne schickt wie in ein Videospiel: Drei Hunde mit großen Augen sollen da lauern und Zarenschätze bewachen: "Hol dir das Feuerzeug!"

Auf der Suche nach Cuba Libre

Diese sind die klarsten und intensivsten Momente in Frank Castorf Inszenierung nach Jaroslav Hašeks Roman "Die Abenteuer des braven Soldaten Svejk im Weltkrieg". Ganz auf zwei Menschen konzentriert, die mindestens ebenso viel voreinander verbergen wie sie einander zeigen. Er ist vielleicht Deserteur, ein russischer Spion oder einfach ein Depp. Sie seine alte Liebe, der "Engel der Verzweiflung" oder doch Gott? Dieses Changieren hat eine Spannung und eine Zartheit, die Castorf noch ein wenig verlängert, indem er sich Georg Danzers Ruhe vor dem Sturm bedient. Doch bis dahin hat man bereits drei Stunden erwartbaren Castorf-Furor gesehen, durch von jedem erzählerischen Zusammenhalt befreite Szenensplitter und die wieder einmal wie ein Abenteuerspielplatz aussehende Bühne tollende Schauspieler auf der Suche nach einem Cuba Libre, die einander meist mit dem eigenen Namen anreden.

Svejk3 560 MatthiasHorn uSchreien vor der Bretterbude: der Marcel Heuperman, der Jeff Wilbusch, der Arthur Klemt, die Nora Buzalka und der Franz Pätzold © Matthias Horn

Der Franz (Pätzold) spielt sehr oft den Oberleutnant Lukás, dem der Tscheche Švejk dient. Und zeigt einmal mehr, dass er ein prima Castorf-Schauspieler ist, der vor der Live-Kamera, die ihn mehr liebt als die meisten anderen, denen sie bis in die hintersten Bühnenwinkel folgt, herrlich kaputt aussehen kann. Jeff Wilbusch ist ein anderer der jungen Männer aus vielen Völkern, die nach dem Attentat am österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand im Juni 1914 in den Krieg ziehen. Er singt "Heiliger Shabbos", spricht jiddisch und schlägt den Takt mit dem Schneebesen – und spätestens, wenn er mit frei vor sich hin pendelndem Penis Trios "Da Da Da" skandiert, fragt man sich, was er wohl eingeworfen hat. Und was seinen Regisseur denken lässt, das sei über Wilbuschs natürlichen Charme hinaus von Interesse.

Schwätzen aus Prinzip

Švejk selbst, der scheinbar tumbe, widerständige Titelheld des 1921 zunächst in Groschenheftform unters Volk gebrachten Schelmenromans, erscheint bis zur Pause wie eine Randfigur. Der Mann aus Prag mit der unerhörten Strategie, stets willfährig und wahrhaftig zu sein und allen mit endlosen Anekdoten den Verstand zu vernebeln, fungiert rätselhafterweise als eine Art Graue Eminenz. "Geh zu ihm. Er erklärt dir das Leben", sagt etwa Franz einmal. Seine Geschichten aber erzählen andere. Castorf hat die Geschwätzigkeit zum Prinzip gemacht, bläst die Frauenfiguren – vor allem die manns- und hundstolle Katy Katharina Pichlers – über Gebühr auf und übertrifft sich diesmal auch in Sachen Selbstreferenzialität. Dabei hilft, dass Denic das Eingangsportal der Berliner Volksbühne an prominenter Stelle seines Raum- und Gängepuzzles verewigt hat – wenn auch als Bretterbude, man hat es hier nicht mit Illusionen.

Svejk1 560 MatthiasHorn uWählt als Henkersmahlzeit eine Coke: Aurel Manthei als Josef Švejk © Matthias Horn

Das Haus, in dem Castorf nach dem unfreiwilligen Ende seiner Amtszeit 2017 gut ein Vierteljahrhundert Intendant gewesen sein wird, ist Baujahr 1914 und trug damals den Schriftzug "Die Kunst dem Volke". Im Resi passen auch noch die Leuchtreklamen von Pepsi und Coca Cola-Zero (Doppeldeutiger Untertitel: "migrants free") daneben. Kapitalistische Killermarken, in deren Schatten sich hier die Marke Castorf feiert. So gibt es gleich in den ersten Szenen Fingerzeige auf Publikumsängste und -erwartungen : "Besser wird das hier heute Abend nicht" warnt Bibiana Beglau und vertröstet auf die Zeit "nach der dritten Pause", die es dann gottlob nicht gibt.

Faust, Freud, Fickificki

Castorf kokettiert mit dem Monumentalen, der Zumutung, die sein Theater sein will, auch wenn es diesmal unter fünf Stunden bleibt. Der Altmeister des Konfrontationskurses hat aus der Überzeugung, niemandem gefallen zu müssen ein Nicht-gefallen-Wollen gemacht und dadurch alle Freiheiten gewonnen. Zu seiner vierten Premiere in Martin Kušejs Haus strömen trotzdem alle, weil man nach dem Urheberrechtsstreit um Baal (auch der kommt vor) gelernt hat, dass es schnell zu spät sein kann. Auch der "Švejk" ist natürlich ein Etikettenschwindel. Castorf leiht sich von ihm Figuren und Textpassagen, erzählt aber im Grunde mit Hilfe von Freud, Faust und "Fickificki" nur die immer gleiche Geschichte von der Verkommenheit der Welt. Wie schnell hier die, die vermeintlich an einem Strang ziehen, auf nationalistischen, rassistischen und totalitären Positionen landen, erzählt er auch. Das heutige Europa lässt grüßen. Wenn sich dieser Gruß auch so läppisch anfühlt wie das klingt, was Bibiana anfangs ihrem Vögelchen flüsterte: "Angela ist doof!"

 

Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Weltkrieg
Szenen aus einem unvollendeten Roman nach Jaroslav Hasek
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denic, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Gerrit Jurda, Kamera: Josef Motzet, Jaromir Zezula, Video und Live-Schnitt: Marie-Lena Eissing, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Götz Argus,Bibiana Beglau, Nora Buzalka, Marcel Heuperman, Arthur Klemt, Aurel Manthei, Franz Pätzold, Katharina Pichler, Jürgen Stössinger, Valery Tscheplanowa, Jeff Wilbusch und Paul Wolff-Plottegg.
Dauer: 4 Stunden, 45 Minuten, eine Pause.

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Die Zeitangaben (siehe auch oben) variieren: "Fünf Stunden lang, die sich anfühlen wie zehn" hat Jan Küveler in dieser Castorf-Inszenierung gesessen und danach für die Welt (10.4.2016) eher eine Reportage als eine Kritik geschrieben, in der er gleich zu Beginn alles durchgeht und abhakt, was einen Castorf-Abend zu einem Castorf-Abend macht: "Abenteuerspielplatz mit reichlich Platz zum Austoben und Verstecken? Check. Junge Frauen mit unendlich viel Bein zwischen High Heels und Minirock? Check. (…) Eine ausufernde Romanvorlage, möglichst aus der Feder von Verrückten, Säufern, Antisemiten (oder auch von verrückten saufenden Antisemiten)? Check." Immerhin sei nach der Pause an Schlaf nicht mehr zu denken, so Küveler, denn dann rolle "der vertraute Castorf-Transport" auf Hochtouren, der 'Švejk'-Text sei zum Treibstoff destilliert. "Es ging wie immer um die Möglichkeit von Revolution."

"Über weite Phasen schwer verständlich" fand Sven Ricklefs den Abend und berichtet im Deutschlandfunk (9.4.2016): "Mal ist man hier, mal ist man dort. Und von Svejk erfährt man nur wenig, fast ist es, als sei er eine Randfigur." Die "wirklich starken Spieler" trügen mit ihrer "immer wieder überraschenden Präsenz" dann letztlich doch durch die viereinhalb Stunden lange Aufführung, so Ricklefs: "Die will irgendwie auch in ein Heute ragen mit Europaflagge und Coca-Cola against Pepsi- Emblemen und mit Sätzen wie: Angela ist doof. Es hat wahrlich schon klügere Arbeiten von Frank Castorf gegeben, treffendere und schmerzhaftere."

"Natürlich steckt in der Inszenierung vieles, was einen Castorf-Abend aus-, aber nicht zwangsläufig gut macht", schreibt Michael Schleicher im Merkur (11.4.2016). Castorf lasse wie gewohnt "die Komfortzone für Darsteller und Zuschauer hinter sich", bringe die Wirrnisse, durch die der "gute Soldat" im Ersten Weltkrieg stolpert, ungefiltert auf die Bühne. Zugleich bewahre er die Inszenierung jedoch davor, hochtourig ins Leere zu laufen. In konzentrierten Momenten gebe es immer wieder intensive Szenen – "etwa die Folter der Simulanten, die dem Fronteinsatz zu entgehen suchen. Hier weist die Inszenierung über Hašeks Geschichte hinaus", so Schleicher. "Dies auch nach der Pause, als Valery Tscheplanowa und Aurel Manthei durch bewusste Entschleunigung wunderbar poetische Augenblicke glücken, in denen es um die Frage geht, wie viel Vertrauen ein Mensch seinem Gegenüber entgegenbringen kann. Es sind die besten Momente des Abends."

Einen "Abend, der klüger ist, als man es sein kann, der einen glücklich machte im Denken, im Betrachten grandioser Schauspielerei und der einen, erstaunlich genug bei Castorf, so gut wie nie nervte", hat Egbert Tholl gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (11.4.2016): Faszinierend sei, wie Castorf in einem selbst für seine Verhältnisse virtuosen Flirren eigene Idiosynkrasien mit Textexegese und kulturellem Wissen vermenge; "grandios, wie Castorf die Rollen passgenau für seine Schauspieler erfunden hat" und damit "fabelhafte schauspielerische Ereignisse, äonenweit entfernt von postpostdramatischen Lappalien" erzeuge an diesem Abend, der für Tholl vor allem "vom Zerfall eines künstlichen, metanationalen Konstrukts" kündet.

An wirren Einfällen herrsche an diesem Abend kein Mangel, ist dagegen Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.4.2016) weniger begeistert und schreibt: "Castorf gefällt sich in Selbstreferentialität, lauen Witzen und müden Provokationen." Die Energie, "die seinen nach einem Rechtsstreit mit den Brecht-Erben im letzten Jahr abgesetzten 'Baal' durchzuckte", scheine spurlos verschwunden. "Stattdessen kokette Verweigerung, die Beliebigkeit mit Unabhängigkeit verwechselt." Der Regisseur überlasse es seinen Zuschauern, herauszufinden, was sie an Hašeks Roman interessieren könnte, treibe ihnen aber alle Lust aus, es zu versuchen, so Spiegel. Und doch: "Auch an einem solchen Abend" gelängen Castorf "noch immer einige betörende Bilder, in denen hinter einem Wall von Routine, erschöpfter Wut und der schütteren Allüre der Selbstgefälligkeit etwas wie Sehnsucht erkennbar wird".

"Bühnenlandschaft, Methode, Schauspieler überraschen nicht mehr, lassen den Betrachter aber dennoch nicht kalt", findet hingegen K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (11.4.2016). Die Kartierung des unvollendeten Romans von Jaroslav Hašek gelinge. "Die Geschichte des autoritätsungläubigen Befehlsempfängers, des widerständigen Anekdotenerzählers und scharfsinnigen Beobachters im Ersten Weltkrieg, der immer wieder seinen Kopf aus der Schlinge zieht, kann als Prinzip Švejk gelesen werden: Worüber man nicht schweigen kann, darüber muss man lachen."

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