Neuland – Am Theater Erlangen macht Jakob Fedlers Projekt mit Geflüchteten aus fünf Ländern Grimms Märchen zum hinreißenden Minimal-Comic
Willkommen in der Leitkulturgeisterbahn!
von Dieter Stoll
Erlangen, 9. April 2016. Am Abend vorher war im Markgrafentheater nebenan Elina Finkels düstere Tschechow-Inszenierung "Drei Schwestern" mit ihren blitzenden Emotionsausbrüchen über zerrinnende Hoffnung als "Heimatverklärung in vier Akten" vorgestellt worden. Passend zum Saison-Stempel "Heimat", der in der "Garage", der stattlichen Studiobühne des Hauses, bei der Uraufführung der Szenen-Collage "Neuland" gleich wieder zuschlagen konnte. Auch diesmal große Literatur als Basismaterial, nicht unbedingt "hohe", aber die nach wie vor brutale Überraschungen bietende Sammlung der Gebrüder Grimm.
Als Regisseur Jakob Fedler und Ensemble-Schauspieler Christian Wincierz für ihr interkulturelles Projekt die neun mitwirkenden Schauspieler und Musiker aus fünf "Herkunftsländern" in Deutschkursen an der örtlichen Berufsschule fanden, war das gleichzeitig ein Kommunikationsangebot mit Hoffnung auf Rückkoppelung: Schau auf meine Phantasie, zeig mir deine!
"Sprichst Du nicht deutsch?"
Das titelgebende "Neuland", das man nach üblichem Sprachgebrauch zunächst mal "betreten" muss, was allemal das Gegenteil von betretenem Schweigen ist, hat Zugang von vielen Seiten. Neues Land ist es in der gewollten Konfrontation der Kulturen, mindestens ebenso im Experiment ästhetischer Verbindungen. Also: Betreten erbeten! Trotzdem: Theater- oder Sozialprojekt? Hinter dem fetten Fragezeichen vor der Premiere stand natürlich der Verdacht, dass die Akteure (aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Aserbaidschan, Ukraine), die seit sechs bis achtzehn Monaten in Erlangen leben, auf der Bühne allenfalls nach den Maßstäben der Willkommenskultur zu messen sind.
Der Abend widerlegt die Vorbehalte, er zerlegt sie geradezu. Vor einer Sperrholzwand mit Advents-Fensterchen stürzen sich die jungen Darsteller mit dem aktuellen Stand ihrer Sprachenbeherrschung in die angebotene Leitkultur-Geisterbahn – und erschaffen dabei ein Mirakel von Comic-Minimalismus der Extraklasse. Wenn im völlig zurecht aus dem deutschen Betthupferl-Fundus verschwundenen Hausmärchen Marienkind die Jungfrau Maria mit Foltersortiment auf persönlichem Rachefeldzug gegen Lügen ist, wirft sich ein bärtiger Mann den Madonnenschleier über als ob Liebeskonzil-Spötter Oskar Panizza noch ein Kapitel fürs "Brandneue Testament" geschrieben hätte. Folgerichtig wird der Muttergottes-Macho in der nächsten Fabel auch die Knusperhexe spielen.
"Sprichst du nicht Deutsch?", fragt ein Prinz mit Pappkrone kopfschüttelnd seine stumme Braut. Dabei standen sie doch kurz davor allesamt an der Rampe und hatten in nahezu Orffscher Feinmechanik stolz aufgesagt, was sie an deutschen Werten schon verinnerlicht haben – beispielsweise die Namen verblichener und verbleichender bayerischer Ministerpräsidenten. Derweil bezwingt das Tapfere Schneiderlein, das ja eigentlich nur ein Fliegenfänger ist, in Helden-Pose reihenweise Riesen, Einhörner und Wildschweine, was der mit vorerst knappem Neuland-Vokabular operierende Darsteller aus Pakistan nach jedem Sieg in bestem Homer-Simpson-Reflex mit "Juhu" quittiert. Interkulturell eben.
Zwischen den unwiderstehlich witzig auf den Punkt gebrachten Comic-Märchen taucht die Realität in biografischen Miniaturen auf. Es sind keine Klagelieder, eher ausgenüchterte Erinnerungen an schreckliche Flucht-Erlebnisse oder auch die schon spielerisch verarbeiteten Erfahrungen mit dem neuen Leben vor Ort. Mit viel Pantomime und Wortjonglage führt einer seinen ersten, hochkomplexen Supermarkt-Kampf um "Oil" vor, der nach vielen Missverständnissen und einer endlich identifizierten Flasche Öl für immer als Triumph des Umlauts bei ihm memoriert sein wird.
Theater der wunderbarsten Art
Der Erlanger Schauspieler Christian Wincierz ist das diskrete Medium der Compagnie, macht den Chorführer im Hintergrund und gibt als gebürtiger Thüringer und Geflüchteter aus welkenden DDR-Landschaften den natürlichen Paten. Sein Solo als dummschwätzender Polit-Maulheld, der allen verblüfft guckenden Betroffenen mit gnadenloser Viertelbildung die Welt erklärt, ist ein satirisches Meisterstück. "Egal", sagen die entnervten Angequatschten großherzig, und stimmen in den sentimentalen Mühlhausener Kirmes-Erinnerungen gerne beim Klang der freien Welt mit ein: "Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen". Wincierz macht den Partnern nichts von ihrer besonderen Bühnenpräsenz streitig, so wie sie nicht nur an der Sprache, sondern auch als frisch sozialisierte Lebensraumpfleger ihr Umfeld putzen und polieren. "Picobello, juhu", sagt der Syrer zutiefst befriedigt, wenn es nach Neulandes Sitte glänzt. Am Ende ein Kanon, so deutsch und notengetreu es geht: Abendstille überall, Volkslied für befreite Menschen. "Neuland" in Erlangen ist Theater der wunderbarsten Art.
Neuland
Interkulturelles Theaterprojekt
Regie: Jakob Fedler, Bühne und Kostüme: Dorien Thomsen, Licht: Anouschka Freund, Dramaturgie: Jutta Körner, Karoline Felsmann.
Mit: Odai Albatal, Marianna Amarchel, Ivan Amarchel, Jaroslava Kurochtina, Nawid Rahimi, Nicat Quasimbayli, Ghiath Sharbaje, Ali Shan, Mohamad Shorbaji, Christian Wincierz.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater-erlangen.de
"Ein 'interkulturelles Theaterprojekt'", geformt zu einem "spannenden, unterhaltsamen, bewegenden und temporeichen Stück", sah 'smö' für die Erlanger Nachrichten (12.4.2016). "Mit jeder Menge Slapstick und Lust am Verkleiden" avanciere der Abend "zu einem Mutmacher gegen religiöse Verwirrungen."
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