Wohltemperiertes Grauen

von Lena Schneider

Berlin, 11. April 2008. Die "tribuene" hat sich wieder, scheint es. Nach dem Zwischenspiel Anna Langhoffs als künstlerische Leiterin des Hauses, das im Januar abrupt ein Ende fand, erinnert die Konstellation der neuen Premiere an den Einstieg von Langhoffs Vorgänger Helmut Palitsch vor knapp zwei Jahren. Auch damals wurde ein von Christoph Klimke dramatisiertes Stück deutscher Geschichte uraufgeführt, Regie ebenfalls Hannes Hametner. Die Vorzeichen waren freilich andere: Wo "Claus Peymann kauft Gudrun Ensslin neue Zähne" sich ironisierend an der Geschichte der RAF versuchte, gräbt "Tiergartenstraße 4" im Leichenkeller des Nationalsozialismus.  

Nicht ironisch, sondern mit Ernst, Strenge und ein wenig Zeigefinger. Das Resultat ist weniger ein Bühnen- als ein Lehrstück: Oder besser ein Lehrbuch faschistischer Gräuel. Christoph Klimke nimmt sich eines kaum beschriebenen Kapitels aus der faschistischen Schreckenskammer an: der Euthanasie. "Tiergartenstrasse 4" war die Anschrift einer von den Nazis eingerichteten Tötungszentrale in Berlins Mitte. Hier wurde bis 1941 über die Schicksale von Menschen entschieden, deren Leben von den Nazis als "minderwertig" betrachtet wurde.

Erniedrigung, Verstümmelung, Tod

Das Konkrete, Informative, Faktische des Titels ist Programm an diesem Abend. Um den Schrecken greifbar zu machen, stützt Christoph Klimke sich auf akribische Recherche, lässt statt eigener Charaktere oder dramatischer Konflikte Zahlen, Quellen, und Zitate sprechen. Seine Figuren – Opfer und Täter gleichermaßen – referieren reales biographisches Material. Opfer etwa lesen aus ihren Krankenakten, im pragmatischen Ärztejargon verkünden sie Erniedrigung, Verstümmelung, Tod. Ärzte referieren Todesarten, "Erbkrankheiten", Kosten, Machtstrukturen, Forschungsgebiete – und, vor allem: Biographien, die in der NS-Zeit begannen und sich in BRD oder DDR fortspannen.

Mitten in seinem Faktenwald versucht sich Klimke dann doch noch an einer Geschichte, stellt er mit Aquilin Ullrich (Ulrich Voss als brummender, selbstzufriedener Koloss) einen NS-Arzt aus der Euthanasieklinik Brandenburg-Goerden vor, der bis ins hohe Alter im Nachkriegsdeutschland nicht nur geduldet, sondern gefeiert wurde. Sein Enkel Hans (Thomas Rudnick) ist die personifizierte Nachkriegsbequemlichkeit, die lieber blind als verantwortlich ist: Er will erben. Als lebensmüder Greis bittet Ullrich den Arzt Karl Niemand (Maxim-Gorki-Veteran Manfred Borges) um Sterbehilfe. Niemand entpuppt sich als ein ehemaliges Opfer Ullrichs und verdonnert ihn zum Leben. Was wie der potentielle Auftakt eines Konflikts klingt, ist jedoch bereits sein Ende. Die Dialoge zwischen Ullrich und Niemand sind so gestelzt, so journalistisch konstruiert, dass man sich zurück ins Dokumentarische wünscht.

Vergessen, verdrängt, verpufft

Warum Klimke die beiden überhaupt aufeinander treffen lässt, wird nicht klar. Ihr Austausch verpufft schwerelos. Im Faktischen spürt man, dass Klimke aufklären, informieren will, gegen das Vergessen und Verdrängen angehen, Opfern ihre entrissenen Geschichten wiedergeben und Tätern ihre verdrängten Geschichten aufzwingen will. Im Faktischen überzeugt Klimke auch, weil die grauenvollen Details es tun. Für ein überzeugendes Stück jedoch braucht es jedoch mehr als gute Recherche. Denn wer auf Sprache, Sinnlichkeit, Vieldeutigkeit verzichten will, kann auch Zeitung lesen.

Hannes Hametner hat die Schwäche des Stückes erkannt und sich gefügt: Er inszeniert es als wohltemperiertes Dokumentarstück. In David Königs erhöhter Behandlungszimmer-Bühne sitzen die Darsteller weitgehend unbeweglich auf ihren Stühlen, sehen sich nur selten an und sprechen aneinander vorbei direkt ins Publikum. Den informationsschweren Texten begegnet Hametner mit musikalischen Verdauungspausen – mal sperrige Blechbläser, mal melancholische Streicher.

Über die schwachen Dialoge hilft eine solch zarte Regie freilich nicht hinweg. So bleibt von einem aufrüttelnden Thema der Eindruck eines etwas lauen, in Momenten beunruhigenden, insgesamt gediegenen Abends. Man wolle das tribuenen-Publikum nicht vergrätzen, hieß es ja, als Anna Langhoff gehen musste. Die Direktion darf beruhigt sein, der Abend ist verdaulich. Im Mai folgt dann wieder ein Musical.  

 

Tiergartenstraße 4
von Christoph Klimke
Regie: Hannes Hametner, Ausstattung: David König, Musik: Gernot Schedlberger.
Mit: Friederike Frerichs, Katharina Spiering, Manfred Borges, Thomas Rudnick und Ulrich Voß.

www.tribuene-berlin.com

Mehr
über die tribuene und den Konflikt um die Entlassung Anna Langhoffs erfahren sie hier, hier und hier, sowie im nachtkritik-forum.


Kritikenrundschau

Peter Hans Göpfert muss in der Berliner Morgenpost (13.4.2008) anlässlich der Uraufführung von Christoph Klimkes "Tiergartenstraße 4" an der Berliner Tribüne "daran denken, welche diffizile und gebrochene szenische Vision Christoph Marthaler zur selben Thematik mit der Inszenierung 'Schutz vor der Zukunft' gelungen ist." Klimke sei nun aber kein Marthaler, "nicht einmal ein kleiner Hochhuth. Er knüpft an das Dokumentartheater von vorgestern an" – und das "in Form eines unbeholfenen Betroffenheitstheaters." Das Ganze sei eine "unzulängliche Mischung fiktiver und dokumentarischer Mittel, die den Personen nicht die geringste Irritation, dem Thema 'Euthanasie' keinen tatsächlichen Erkenntniswert, allenfalls oberflächliche Wirkung abgewinnt". Göpfert konstatiert auch eine Krise der Tribüne: "Der Eindruck verstärkt sich, dass man dort den klaren Blick verloren hat, für welches Publikum man spielt. Und was theatergerechte Stück sind."

Im Berliner Tagesspiegel (15.4.2008) schreibt Patrick Wildermann: Christoph Klimke, der zuvor bereits ein Stück über die berüchtigte Wiener Klinik "Spiegelgrund" verfasste, habe "wieder sorgsam recherchiert". So "ehrenwert die Absicht" sei – der Abend gerate "zum Referat". Zu sehr zielten "die Schicksalsberichte", die Regisseur Hannes Hametner als "Sprechstück des Grauens auf ein paar Stühlen einrichtet", auf den "sicheren Empörungseffekt". Auch die Schauspieler distanzierten sich "so weit von ihren Figuren, Tätertexte rekapitulierend, dass sie fast neben sich stehen".

 

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