Roadtrip im Gaga-Gewitter

von Petra Hallmayer

München, 20. April 2016. Die fetten Jahre sind vorbei. Nora Abdel-Maksoud führt uns in ein frostig kaltes Deutschland der nahen Zukunft, in dem das "Große Fasten" ausgerufen wurde. Die Schauspielerin, Autorin und Regisseurin, deren Berliner Kunstbetriebssatire "Kings" auch beim Münchner Festival "Radikal jung" zum Publikumshit wurde, hat für das Volkstheater ein neues Stück geschrieben, das nun unter ihrer Regie Premiere feierte.

Wirrkopf und Junkie suchen Andalusien

In "Sie nannten ihn Tico" schickt sie zwei auf der sozialen Leiter ganz nach unten abgerutschte Antihelden auf eine Reise durch eine von Egoshootern und Hohlbirnen, Profitgier, Rassismus und hirnvernebelndem Entertainment beherrschte Gesellschaft: den jungen Wirrkopf Lefty, der als Gameshowmoderator Karriere machen möchte, und Pancho, einen arbeitslosen Sozialarbeiter und Junkie.

Der todkranke Pancho (Eva Bay), der ein Riesenherz aus Gold hat, schenkt Lefty (Mehmet Sözer) Hoffnung, indem er ihn belügt. Er hat seinem Schützling einen Vater erfunden, einen "Ritter der Barmherzigkeit" und Beschützer der Abgehängten und Liegengebliebenen, der sich nach Andalusien abgesetzt hat, um eine bessere Welt aufzubauen. Dorthin will auch Lefty mit Pancho reisen. Zunächst aber finden die Freunde ein schwarzhaariges Baby in der Krankenhausmülltonne, das sie Abu Am Hamsa Hamed taufen. Es ist ein heimlicher Sprößling des "Kandidaten einer süddeutschen Volkspartei" Schorsch.

Tico1 560 DanielDelang uSchriller als die Polizei erlaubt: Moritz Kienemann, Max Wagner, Mehmet Sözer © Daniel Delang

Katharina Faltner hat einen drehbaren Turm aus Boxen und Lautsprechern auf die Bühne gestellt. Auf diesem und um diesen herum jagt Abdel-Maksoud die beiden liebenswerten Loser, deren Namen Towns Van Zandts Countrysong "Pancho und Lefty" zitieren, durch eine rasante Groteske. Bei deren Auftakt allerdings will die Komik nicht zünden. Es gibt einige Dinge, die sehr schwer zu persiflieren sind. Grottenschlechtes Fernsehen etwa, dessen Dumm- und Schrillheiten sich kaum toppen lassen. Darüber stolpert auch die Regisseurin in ihrer missglückten Quizshow-Parodie "Hütten und Paläste". Überhaupt dauert es ziemlich lange, bis man zum ersten Mal herzlich lachen kann.

Null Toleranz beim Schnullerklau

Dann aber gelingen der von Live-Band musikalisch begleiteten Inszenierung ein paar richtig tolle und lustige Szenen. Wie Lefty, wenn er mit Pancho und dem "Krümel" Abu vor der Polizei flieht, auf der Stelle rennend die Beine so hoch in die Luft schmeißt, als würde er gleich abheben, das ist klasse. Der Bayern-Schorsch (Max Wagner) kauderwelscht sich durch eine herrlich gagaeske Rede, in der er "Null Toleranz beim Schnullerklau" fordert. Und in einer rockig choreographierten Schlägerei toben, springen und hüpfen alle vogelwild herum.

Abdel-Maksouds politisch und medial verwahrlostes Deutschland, in dem die Habenichts gegeneinander aufgehetzt werden, ist von einer Fülle an Knallchargen bevölkert. Max Wagner, Luise Kinner und Moritz Kienemann führen lustvoll karikierend einen Reigen an Typen vor, deren Schädel mit Knautschfrisuren maskiert sind. Wir treffen den Ex-Moderator von "Geldenen ist Trumpfenen" und Erben einer Gemischtwarenhandels-Dynastie Lars-Ole-Vetjenfall, die Altfeministin Erika, die jetzt für ein "Ärsche- und Tittenblatt" schreibt, die einfaltspinseligen Polizisten Fredl und Gustl, die von Abstiegspanik gebeutelte Journalistin Bente, die eine Sondersendung über "Die stille Schwarzkopfisierung" leitet, Wutbürger und einen rechten Politpopulisten.

Tico2 560 DanielDelang uDie Stunde der Medienklamotteure: Luise Kinner, Eva Bay, Mehmet Sözer © Daniel Delang

Nora Abdel-Maksoud lässt es krachen, knallen und krawummsen, immer wieder aber verpuffen die Pointen in ihrer überdrehten Gesellschaftssatire. Nach einem Subtext braucht man darin nicht zu suchen. Die schlichten Botschaften liegen offen zutage, und in einer Ansprache ans Publikum erteilt uns Pancho schließlich auch noch eine kleine Lektion in Sozialkultur. Auf die hätten wir gern verzichtet. Ohnehin ist es ja ein Problem des Abends, dass man mit allem einverstanden ist, sein Witz nie weh tut.

Dennoch hat Abdel-Maksouds Mischung aus kapitalismuskritischer Farce, rührender Männerfreundschaftsballade und späthippieskem Märchen sehr viel Charme. Pancho und Lefty, diese beiden rotzig frechen und trotzig tapferen Verlierer mit den großen Träumen, muss man einfach gern haben. Die bessere Welt, nach der sie sich sehnen, finden sie natürlich nicht. Ein wenig Gutes aber kann der unheilbare Idealist Pancho doch noch vor seinem Tod bewirken: Schorsch nimmt Abu als seinen Sohn an, und die Polizisten Gustl und Ferdl gestehen einander ihre Liebe ein.

 

Sie nannten ihn Tico
von Nora Abdel-Maksoud
Uraufführung
Regie: Nora Abdel-Maksoud, Bühne: Katharina Faltner, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Enik, Lorenz Blaumer, Fabian Füss, Choreographie: Volkram Zschiesche, Dramaturgie: Nora Haakh.
Mit: Eva Bay, Moritz Kienemann, Luise Kinner, Mehmet Sözer, Max Wagner.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Sven Ricklefs vom Deutschlandfunk (aufgerufen 22.4.2016) hält das Stück für "ein Szenen- und Typenpanoptikum", in dem die Autorin und Regisseurin Nora Abdel-Maksoud mit Tempo und einem großen Gespür für schrilles Timing herumkurve. Das Stück habe unsere Gesellschaft trotz seines irrwitzigen Tempos genau im Blick, eine Gesellschaft, die sich in den letzten Monaten in einem mindestens ebenso irrwitzigen Tempo in weiten Teilen in eine Angstgesellschaft verwandelt habe. "Wie sonst, wenn nicht mit einer überdrehten Haudrauf-Komik kann man noch einer hysterisierten Szenerie begegnen, die längst zur Realsatire verkommen ist."

Abdel-Maksouds Verteilungskampf-Groteske auf Speed komme "zwischen dem ersten Moll-Akkord der Liveband und der noch nicht ganz durchrhythmisierten, allzu bekenntnishaften Schlussviertelstunde ganz wunderbar in Fahrt", so Sabine Leucht in der Süddeutschen Zeitung (21.4.2016). Vor allem der Roadmovie-Teil sei voller witzig-schräger, furios gespielter Szenen.

Die Autorin stehe der Regisseurin im Weg, findet Alexander Altmann im Münchner Merkur (23.4.2016). Die Botschaft des Stücks sei sehr sympathisch, aber seine Holzhammer-Pädagogik vermittle den Eindruck, man sitze im Jugendtheater. Abdel-Maksoud wage es nicht, "den belehrenden Comic-Strip in eine wirklich schrille Farce hochzuschrauben".

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