Dornenkrone aus Stacheldraht

von Falk Schreiber

Hamburg, 21. April 2016. Der White Cube ist die mit Abstand gängigste Präsentationsform für Bildende Kunst: ein leerer, weißer Raum, in dem nichts vom eigentlichen Kunstwerk ablenke. Auch die Hamburger Deichtorhallen haben sich jetzt in einen riesigen White Cube verwandelt, in eine leere Bühne, die mit weißen Vorhängen verhüllt ist, mit weiß gekleidetem Orchester und weiß gekleidetem Chor. Auf dass nichts von "La Passione" ablenke, Romeo Castelluccis Inszenierung von Bachs "Matthäus-Passion" für die Hamburger Staatsoper.

Zur Kreuzigung hängen Statisten am Trapez

1981 choreografierte John Neumeier mit "Matthäus-Passion" eine seiner besten Arbeiten fürs Hamburg Ballett, ein Dauerbrenner, der immer wieder ins Programm rutscht – kommenden Sonntag ist Wiederaufnahme. Es wäre ästhetisch wie inhaltlich sinnlos gewesen, am gleichen Haus eine Konkurrenzproduktion zu programmieren, also wurde "La Passione" fernab vom Opernhaus entwickelt, in den Deichtorhallen, einem Ausstellungskomplex am Rande der Hafencity. Nicht als szenische Bebilderung wie bei Neumeier. Sondern als Bildermusiktheater.

Passione4 560 BerndUhlig xGroße Bilder auf weißem Grund – weniger Überwältigungsästhetik als stille Mehrdeutigkeit
© Bernd Uhlig

Das Konzept ist dem Spielort angemessen. Castellucci inszeniert ein Stück in Nachbarschaft zur Installation, der Abend ist der Bildenden Kunst näher als dem Musiktheater. Will sagen: Das Philharmonische Staatsorchester spielt unter Leitung Kent Naganos, während im Vordergrund 18 allegorische Bilder auf- und wieder abgebaut werden. Bilder von Krankheit, Zerstörung, Trauer und Tod sind das, kaum der Überwältigungsästhetik verhaftet, die man von Castellucci kennt, meist stille, mehrdeutige Bilder, die sich unspektakulär in den Szenen entwickeln und ebenso unspektakulär wieder verschwinden. Als Abendmahl wird das letzte Essen eines Todkranken präsentiert. Zur Kreuzigung hängen Statisten an einem Trapez, bis die Körper schlappmachen. Starke Bilder sind das, aber es sind Bilder, die sich nicht aufdrängen, die ihr Geheimnis wahren, das ein Mitleiden überhaupt erst ermöglicht.

Festung Europa im Elektrolyse-Bad

Manchmal scheitert die Regie freilich an der eigenen Raffinesse. Im Bild zur Dornenkrone wird Stacheldraht entrollt und in einem elektrolytischen Bad vergoldet. Das ist klug gedacht, gemahnt in seiner politisch aufgeladen Materialität gar an die sich abschottende Festung Europa, bloß: Man sieht Weißkittel in Schutzbrillen, die sich an technischen Geräten zu schaffen machen. Die man erstens nicht versteht und zweitens von der Publikumstribüne aus gar nicht genau erkennen kann. Also konzentriert man sich auf die Musik, was zwar lohnt, allerdings ist's ein wenig schade um den Aufwand, den Castellucci hier betreibt.

Die musikalische Ebene ist jedoch tatsächlich spektakulär. Nagano treibt Bachs Komposition vielleicht ein Stück zu forciert in den Wohlklang, konzentriert sich sehr auf die lyrischen Passagen und vernachlässigt die Dramatik. Einerseits geht er damit sensibel auf die Akustik des Ortes ein: Ein Ausstellungsraum ist kein Konzertsaal, stille Passagen funktionieren hier gut, während die lauteren Momente, wenn Orchester und Chor gemeinsam anheben, auf der Tribüne eine Tendenz zum Klangbrei zeigen. Andererseits ist besagte Tribüne gerade bei den lyrischen Momenten wirklich ein Problem, verstärkt sich auf ihr doch die kleinste Unruhe im Publikum zum Knirschen und Knacksen. Was man natürlich mit Dramaturg Johannes Blum auch als "Scandalon" lesen kann, als Stolperstein, der dem rein kulinarischen Musikgenuss im Weg steht.

Fast unerträglich mit Bedeutung aufgeladen

Ein tatsächlich eingeplanter Stolperstein ist Ian Bostridge als Evangelist. Der lässt seine Tenorstimme immer wieder ins Raue kippen, zeigt, dass es hier um Schmerz geht und um Leiden, während Philippe Sly sich als Jesus stärker auf seinen warmen Bass verlässt. Wobei "La Passione" immer um mehrere Ecken denkt, man könnte in dieser Besetzung auch ein inhaltliches Zeichen suchen: Kommt Slys Jesus vielleicht deswegen schöntönender daher, weil der Beobachter viel stärker leidet als der Gekreuzigte? Das ist das Problem des White Cube: Wo alles Störende eliminiert wurde, ist das, was noch da ist, fast unerträglich mit Bedeutung aufgeladen. Dass Nagano sich zu Beginn die Hände wäscht – heißt das, dass der Dirigent mit Pontius Pilatus identifiziert wird? Steht der umgekippte Reisebus im Bild "Ecclesia" für die Gemeinschaft der Gläubigen? Und weswegen kämpfen zwei Ringer im Bild "Einsamkeit"?

Alles ist geprägt von heiligem Ernst. Das ist in Castelluccis Konzept nachvollziehbar: Es geht hier darum, die Passion als ultimative Verlusterfahrung, als Trauerarbeit am Menschen zu skizzieren, da haben Subversion und Ironie keinen Platz. "La Passione" ist beeindruckendes Bildertheater, das zwar Raum zur Interpretation lässt, die Grundkoordinaten, nach denen es hier ernst zuzugehen hat, allerdings vorgibt. Das letzte Bild gehört dann noch einmal Tenor Bostridge: Der tritt vor, ohne Gesang, ohne Musik. Und verschwindet hinter einer Maske. Ein stummer Schrei, endloses Leid.

 

La Passione
von Johann Sebastian Bach
Musikalische Leitung: Kent Nagano, Konzept, Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht: Romeo Castellucci, Künstlerische Mitarbeit: Silvia Costa, Mitarbeit Bühnenbild: Maroussia Vaes, Dramaturgie: Piersandra di Matteo.
Mit: Ian Bostridge, Hayoung Lee, Christina Gansch, Dorottya Láng, Bernard Richter, Philippe Sly, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Audi Jugendchorakademie.
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

www.staatsoper-hamburg.de

 

Im deutschsprachigen Raum war von Romeo Castellucci in den letzten Jahren u.a. Hyperion. Briefe eines Terroristen (F.I.N.D. der Schaubühne Berlin, März 2013), Le Sacre du Printemps (Ruhrtriennale, August 2014) und Ödipus der Tyrann (Schaubühne, März 2015) zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Wener Theurich von Spiegel-Online (aufgerufen am 22.4.2016) erlebte eine "szenisch gedachte Bach-Passion, die von Anspielungen, Querverweisen, Assoziationen und scheinbar themenfremden Denkanstößen nur so strotzte". Der Zugriff Castelluccis auf den Stoff bestehe darin, "Leiden als das 'Anstößige' (Skandalon), als existentielle, individuelle Erfahrung, die nur im Ritus - vielleicht - nachvollziehbar gestaltet werden kann" zu zeigen. Wenngleich der Abend "über Strecken einen sehr kryptischen Eindruck bot, so verließ man das stille Spektakel berührt und nachdenklich. Nicht das schlechteste Ergebnis nach einer Aufführung des Leidens Christi."

Daniel Kaiser vom NDR (aufgerufen am 22.4.2016) sah eine "Passion aus dem Chemie-Baukasten, eine Labor-Revue zu Bachs Musik: Die Anatomie des Dr. Castellucci." Manche Chemiekunststücke würden banal wirken, "Castellucci gelingen aber auch beklemmende, rätselhafte Bilder - wie das der Frau, die minutenlang in einem Plastiksarkophag gesperrt wird". Er wolle das Leiden wörtlich verstehen. Der Abend wanke zwischen ergreifenden Bildmeditationen und Übungen, "die so auch auf Konfirmandenfreizeiten stattfinden könnten". Letztlich seien die Bilder aber zu gefällig geraten. "Kunst, die Leiden in Szene setzen will und dabei nicht verstört, verletzt und aufwühlt, hat etwas falsch gemacht. Diese Passion tat niemandem weh."

Einer "dreistündigen Sitzparty für Cliquenesoteriker" hat Jan Brachmann beigewohnt, wie er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.4.2016) schreibt. "Im Vergleich dazu könnte keine konventionelle Aufführung des Werkes so museal sein in dem Sinne, dass sie uns und die Kunst wechselseitig unberührbar füreinander machte." Der Abend pendle "zwischen Lächerlichkeit und Langeweile, dessen zeremoniöse Betulichkeit die Banalität nicht verdecken kann".

Milder urteilt Elmar Krekeler in der Welt (23.4.2016): "Braucht es das? Nein. Aber interessant ist es schon." Castellucci liefere ein vergleichsweise zahmes dreistündiges Paradoxon. Eine musikdramatische Ausstellung von Bildern, Elementen, Objekten eines säkularen Kreuzwegs. Manchmal sei der Abend relativ albern. "Manchmal schön und rätselhaft. Man lernt viel."

"Unaufgeregtes Denktheater" hat Reinhard J. Brembeck gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (27.4.2016): Castellucci verweigere sich konsequent dem herkömmlichen, einfühlend nachschöpfenden Theater, er löse die Matthäus-Passion aus der "in ihrem Fall so befremdlichen Konzertästhetik" und stelle damit den "ursprünglichen, also unmittelbaren Bezug zwischen Publikum und Passion gleichsam wieder her. Der Regisseur will keinen Kunstgenuss, sondern Lebensbefragung", so Brembeck. Das wirke enorm befreiend: "Das bürgerliche Publikum trampelt am Ende begeistert wie nach einem Popkonzert."

Castellucci schaffe "bewegte Szenen und szenische Installationen", "aufgeladen mit Assoziationen", die jeden Einzelnen dazu verleiten sollten, "sich selbst Gedanken zu machen über das Gesehene und Gehörte", schreibt Christian Wildhagen auf der Website der Neuen Zürcher Zeitung (30.4.2016). Seine Bilder erreichten allerdings nicht die "Intensität und gleichnishafte Stimmigkeit" früherer Arbeiten. Manche dieser Assoziationen erschienen "nicht nur hermetisch, sondern auch ein bisschen flach".  Wie so oft balanciere Castellucci mit seinen Einfällen "auf Messers Schneide – zwischen Stimmigkeit und Banalität".

 

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