Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft - Das Junge Theater Göttingen sucht mit Swetlana Alexijewitschs dokumentarischen Monologen das verlorene Leben im Reaktor-Sperrgebiet
In verstrahlter Erde
von Valerie Schaub
Göttingen, 22. April 2016. Was bleibt nach Tschernobyl außer radioaktivem Müll? Was bleibt bei den Menschen, deren Heimat dort ist? Swetlana Alexijewitsch bereiste das Sperrgebiet nahe ihrer Heimat und sprach mit Überlebenden. Zu den Göttinger Klimaschutztagen und auf den Tag fast 30 Jahre nach der Explosion hat Peer Ripberger Alexijewitschs dokumentarische Monologe am Jungen Theater in Göttingen inszeniert.
Die Welt von Tschernobyl ist auf der Bühne von Peer Ripberger nicht zu sehen. Sie ist ungreifbar unbegreiflich. Stattdessen ist dort, was greifbar ist: dunkle Blumenerde, beetförmig zwischen Rampe und Bühnenraum verteilt, vor einer quadratischen weißen Wand. Dazwischen tragen Katharina Brehl, Jan Reinartz, Peter Christoph Scholz und Karsten Zinser Teile einer Heimat über die Bühne: einen Korb voller Wäsche von rechts nach links, eine Tür, einen Teddybären von links nach rechts. Menschen entscheiden zu gehen, Menschen entscheiden zurückzukehren. Währenddessen drängen Namen wie Fukushima und Nagasaki aus Lautsprechern, Zahlen und Prozente, eine Gesellschaftsanalyse wird angerissen, verstummt.
Als wär's nur ein Märchen
Am rechten Rampenrand sitzt Agnes Giese und liest aus Alexijewitschs Werk den Monolog einer Rückkehrerin vor. Mit Lesebrille, als sei alles nur ein Märchen. Dann wandert die Stimme der Tschernobyl-Überlebenden in die Lautsprecher und bleibt dort für den Rest des Abends.
Was wir hören, sind Erzählungen von Menschen, die mit etwas leben, was sie nicht zu fassen bekommen. An diesen literarisch-psychologischen Portraits arbeitete Swetlana Alexijewitsch fast zwanzig Jahre und wurde schließlich selbst krank. Peer Ripberger stellt die Stimmen der Überlebenden neben die Schauspieler und trennt Erzählen und Erinnern: Die Geschichte der Mutter, die ihre Tschernobyl-Tochter am liebsten der Forschung als Versuchskaninchen überlassen würde, kommt aus den Lautsprechern. Agnes Giese sitzt dazu wortlos auf einem Schubkarren.
Was braucht's auf der Bühne, wenn die Geschichte aus den Boxen kommt? Der Vater, der auf der mitgenommenen Tür seine Frau und seine Tochter zu Grabe trägt, braucht nicht mehr als einen Blick von Karsten Zinser. Die Verlobte, die ihren Freund, einen Kunstmaler, nicht mehr heiraten kann, weil er die Katastrophe, die Explosion, die erschossenen Tiere auf der Straße nur malen wollte – dazu genügt Katharina Brehl eine Zigarette. Die Soldaten, die am Ende des Tages keine Kugel mehr für den Pudel übrig haben und ihn lebendig im Mogilnik (einem "Massengrab" für verstrahlten Müll) begraben müssen – all diese Geschichten sind auch auf der Bühne so eindrucksvoll, dass sie ohne gewaltige Materialschlacht auskommen. Nur ein paar Teddybären aus heimatlos gewordenen Kinderzimmern oder ein Bund Karotten aus radioaktiv verseuchten Gärten – dazu erinnernde Gesichter.
Das funktioniert nicht immer, aber wenn, dann ist das große Schauspielkunst. Peer Ripbergers diskrete Regie lässt die Geschichten atmen. Er begegnet ihnen mit dem gleichen Respekt, mit dem Alexijewitsch ihren Interviewpartnern begegnet ist, ohne dem Text viel hinzuzufügen.
Gewissensfragen
Dem Unfassbaren der Katastrophe versucht Ripberger mit Fragen zu begegnen, die frontal dem Publikum gestellt werden: Wieviel Atomstrom in Göttingen gibt es? Warum gab es Sonnenkollektoren nicht schon früher? Im Vordergrund setzt ein Bewohner Tschernobyls unbeirrt Zwiebeln in die verseuchte Erde, weil es Frühling ist. Die Fragen für ein reines Gewissen wirken kindisch, trotzig. Ja, sie nerven sogar. Weil die Antworten unbequem sind.
Die eindrucksvollste aller Geschichten hat Peer Ripberger kurz vor den Schluss gesetzt. Die Geschichte einer liebenden Frau, die ihren Mann am Sterbebett nicht mehr küssen darf, weil er ein "radioaktiv verseuchtes Objekt" ist. Katharina Brehl liest sie. Agnes Giese sitzt dazu auf einem umgedrehten Eimer und schält Kartoffeln.
Die mit Radioaktivität verseuchte Erde wird zum Schluss von den als Helden mystifizierten "Liquidatoren" abgetragen. Die eingesäten Zwiebeln pult einer wieder heraus und steckt sie ein. Ständig hört man das Klicken eines Messgeräts. Es sind kleine Gesten, mit denen Peer Ripberger den absurden Umgang der Menschen mit der Radioaktivität zeigt. Die Notenständer am Schluss: Ausdruck einer dunklen, traurigen Sinfonie.
Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft
nach den dokumentarischen Monologen von Swetlana Alexijewitsch
Regie, Bühne und Kostüme: Peer Ripberger, Dramaturgie: Nico Dietrich / Tobias Sosinka.
Mit: Katharina Brehl, Agnes Giese; Jan Reinartz, Peter Christoph Scholz, Karsten Zinser.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.junges-theater.de
Der Abend feiere zuallererst die außerordentliche Qualität der Texte, "die wundervoll zugespitzt und ausformuliert sind, ohne ihre Unmittelbarkeit, ihren dokumentarischen Charakter zu verlieren", schreibt Bettina Fraschke in der HNA (25.4.2016). "Erzählt wird vom Versuch, das Unbegreifbare zu begreifen. Schreckliche Entstellungen bei Neugeborenen, Kamikaze-Einsätze von Militär und Feuerwehr im Reaktor, heftige Krebsfälle." Und die Beharrungskraft der Menschen, angesichts der Katastrophe ihre Alltag weiterzuleben. "Zwischendurch gibt es mehrfach Lichtwechsel, treten die Schauspieler an die Rampe heran und sprechen direkt zum Publikum. Ihre Fragen, ihre Einwürfe ziehen die Thematik in die Gegenwart." Bei persönlichen Statements herrsche eine gewisse Peinlichkeitsgefahr. "Die wird aber vom Ensemble souverän gebannt. Man fordert engagiert eine neue Bürgerbewegung, bleibt dabei aber zugleich so authentisch und zurückhaltend, dass kein wohlfeiler Agitprop-Kitsch entsteht."
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