Surfen im Weltenschlund

von Christian Rakow

Potsdam, 23. April 2016. Die blonden Perücken lassen diese Norweger wie Wikinger ausschauen. Schulterlange Haare, gewellt und ungewaschen. Blass leuchten sie inmitten eines tiefschwarzen Raumes, den Ausstatter Wolfgang Menardi ins Potsdamer Hans Otto Theater gezimmert hat: eine wuchtige Bühnenschräge aus Bohlen, gesäumt von dunklen Plastikplanen. In der Mitte steht eingangs noch eine Bretterwand, die später gen Schnürboden entschwindet, sodass nurmehr ein friedloses Loch zwischen den Spielern gähnt. Eine Zeitlang ist es mit schwarzen Luftmatratzen gefüllt, wie zur Seenotrettung.

Anders als die Wikinger ist der Spintisierer und Auswanderer in spe Peer Gynt von Anbeginn akut untergangsgefährdet. Alexander Nerlich hat seiner Ibsen-Deutung einen Prolog vorangestellt, ein Gespräch aus dem Schlussakt des Stückes, mit Gynt an Bord eines Schiffes kurz vor der Havarie. Peer, der gealterte Weltenbummler (Bernd Geiling), trifft auf sein jugendliches Alter Ego (Alexander Finkenwirth), das ihm als Anatom entgegentritt und ihn vorausschauend um seinen Leichnam anschnorrt: "Ich zeig Ihr Inneres der ganzen Welt! / Vor allem suche ich den Sitz der Träume". Nur wo wäre dieser Sitz zu finden, bei Gynt, dem Mann der viel träumt und viel fabuliert und der sich doch – in der berühmtesten Allegorie des Stückes – als Zwiebel begreift: Schale um Schale, Haut unter Haut. "Wann kommt denn endlich mal der Kern ans Licht?"

peer gynt1 560 HL Boehme uSpintisierer, Aufsteiger, Untergeher: Michael Schrodt (Monsieur Ballon), Bernd Geiling (Peer Gynt), Philipp Mauritz (Herr von Eberkopf), Eddie Irle (Master Cotton) © HL Böhme

Verflüchtigungsstudie am Abgund

Nerlich hat ein Faible für Spiegelungen und Doppelgängermotive (man denke auch an seinen Potsdamer Urfaust oder an den Hamlet). Und damit liegt er bei diesem frühen Ibsen (von 1867) natürlich genau richtig. Anders als die späteren realistischen Bürgerdramen des Norwegers steht der "Peer Gynt" mit beiden Beinen fest in der Romantik. Überall wimmelt es von Trollen und Teufelsfiguren, wenn der junge Peer Gynt das Haus seiner verwitweten Mutter verlässt, Frauen verführt und geächtet wird, bald in die Welt zieht, wo er als Sklavenhändler zu Geld kommt, den Reichtum wieder verliert und heimkehrt nach Norwegen, zu der einen, die alle Jahre auf ihn gewartet hat: Solvejg. In gängiger Deutungstradition setzt Nerlich Franziska Melzer als Solvejg mit Peer Gynts Mutter Aase (Rita Feldmeier) parallel, ein Hauch von Ödipus umweht den Narziss.

Ähnlich wie Gottfried Kellers grünem Heinrich gingen Peer Gynt mit der Vaterfigur die bürgerlichen Konventionen verloren (und Nerlich lässt seine beiden Peer Gynts wohl nicht von ungefähr bevorzugt in grünen Samtanzügen und Hemden umherstreifen). Das "Finde dich selbst", dieser Generalauftrag an das Subjekt der Moderne, den Ibsen hier mit großer Radikalität auseinandernimmt, wird Gynt zum "suche dich anderswo". Es ist eine Verflüchtigungsstudie. Oder in den Worten des späten Peer Gynt (in der wundervoll rotzigen Vers-Übersetzung von Angelika Gundlach): "Geboren zum Genuss, lasst uns genießen!"

peer gynt8 560 HL Boehme uAuf der schwarzen Luftmatratze: Alexander Finkenwirth ist Peer Gynt © HL Böhme

Nirgends zeigt sich dieser Genuss im dunklen Orkus dieses Abends lustvoll oder prall. Nerlichs Peer Gynt surft am Weltenschlund entlang, getragen von suggestiven Finster-Sounds (die ihm Malte Preuß, der sich selbst auch als Regisseur einen Namen gemacht hat, gemixt hat). Regelmäßig begegnet Gynt sein älteres oder jüngeres Ich als Verkörperung des Unheimlichen. In den leer hallenden Raum stößt Alexander Finkenwirth seine Einsamkeit aus, ruft ohne Antwort, zürnt dem Himmelsgewölbe, das seinen Sinn verborgen hält. Dann krabbelt er wie ein Insekt über die Bühnenschräge. Eine schillernde, faszinierende Kreatur, zerbrechlich und scheu, dann wieder blitzschnell, unbiegsam, hart. Einzig in der Zweisamkeit mit seiner Mutter Aase, wenn er ihr den Tod durch eine Fabel vom Einzug in das Gottesreich erleichtert, findet er einen Moment von Wärme. Wie humanitär kann lügen sein! Ein großer Abend von Finkenwirth.

Neon überm schwarzen Nichts

Zwei Stunden bis zur Pause erlebt man das Potsdamer Ensemble in Höchstform. Mit klaren, kalten Strichen gleich Spurrillen im Schnee skizziert Nerlich die Figuren als Gespenster aus Peer Gynts Kopflabyrinth. In der letzten Stunde, wenn der Gang durch die Welt bis in den Orient ansteht und Gynt in die Jahre gekommen ist (hier: Bernd Geiling), wird der Abend weniger tief in seinem Verlorenheitsporträt und spielerisch weniger variabel. Eine tönende Selbstüberhebung schlägt in Gynt, einmal zum Geldmenschen geworden, durch. In Marokko wird er von sonnengebräunten Chargen umtänzelt. Sein arabisches Abenteuer mit der Sängerin Anitra (Denia Nironen) rutscht ins Thekenwitzige: "Ich bin ein geiler Hahn! / Komm her, du kleines Biest, /damit du es auch siehst!" Im Dunkel des Nordens aber, wo Nerlich Neonlichter über schwarzem Nichts statt des Polarsternenhimmels bietet, dort hat er einen Peer Gynt in aller Verlassenheit und Abgründigkeit gezeigt. Den "Sitz der Träume" offenzulegen, hatte er im Prolog versprochen. Wie ein Pathologe. Und er hat ihn gezeigt. Erholsame Träume waren es nicht. Es waren die Tänze der Alben.

 

Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Deutsch von Angelika Gundlach
Regie: Alexander Nerlich, Bühne / Kostüme: Wolfgang Menardi, Musik / Sounddesign: Malte Preuß, Choreografische Mitarbeit: Alice Gartenschläger, Dramaturgie: Helge Hübner.
Mit: Alexander Finkenwirth, Bernd Geiling, Rita Feldmeier, Franziska Melzer, Denia Nironen, Michael Schrodt, Eddie Irle, Philipp Mauritz.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.hansottotheater.de

 

Kritikenrundschauen

"Dass sich der impulsive Ich-Mensch in so viele 'falsche Welten' verrennt, unterstreicht Regisseur Alexander Nerlich, indem er Peer Gynt zunächst von Alexander Finkenwirth spielen lässt, dann von Bernd Geiling", so Karim Saab in der Märkischen Allgemeinen (25.4.2016). Die Grenze zwischen Gut und Böse inspiriere den hochtalentierten 37-jährigen Theatermann bereits in seinem Potsdamer "Urfaust" zu Spiegeleffekten und Doppelfiguren - "Nun setzt er noch eins drauf". Mit äußerster Intensität erschließe sich das Ensemble Ibsens Sprache. Vor allem Rita Feldmeier als Mutter Aase pendele effektvoll zwischen den Polen. Eine Glanzleistung sei die Musik von Malte Preuß. "Im Programmheft ist treffend vom 'Sounddesign' die Rede. Ihm gelingt es, feine poetische Nuancen herzustellen, indem er Geräusche, Akkorde und Melodien zu tiefenscharfen akustischen Gebilden montiert."

Die Geschichte Peer Gynts verschiebe sich in ein Zwischenreich zwischen Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod, schreibt Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (25.4.2016). Eine Art schwarzes Fegefeuer, ohne Flammen. "In der Holzbühne von Wolfgang Menardi ist es düster und feucht, ein schmaler Wasserstreifen trennt Bühne und Saal." Der zweite Teil enttäusche. "Aber wie sagt Peer einmal? 'Das Glück ist etwas, das sich wendet'. So scheint das auch mit Inszenierungen von Alexander Nerlich zu sein: Dass man beglückt in die Pause ging, muss eben nicht bedeuten, dass man so am Ende des Abends auch nach Hause geht." Doch wenn ein paar Momente nur gut genug waren, "dann lohnt sich das große Ganze allemal".

"Eine rundum gelungene Inszenierung, hier stimmt einfach alles: die zupackende Regie, die perfekte Bühne, die sparsam akzentuierte Musik, die großartige Neu-Übersetzung und Nach-Dichtung von Angelika Gundlach", so Frank Dietschreit auf rbb kulturradio (25.4.2016). Wahre Freude sei es, den beiden Schauspielern auf ihren Abenteuern durch die Welt zu folgen, die doch eigentlich nur in ihrer Fantasie – und damit auch in unserer – stattfinden. Fazit: "Wen diese Inszenierung nicht berührt, bewegt, verzaubert, traurig und froh macht, dem ist nicht zu helfen."

 

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