Leerstelle des Gefühls

von Andreas Tobler

Zürich, 23. April 2016. In den grossen Momenten, von denen es an diesem Abend dann doch so einige gibt, kippt das satte Bunt des Licht ins zersplitterte Grau. Schatten von bewegten Händen drehen am Horizont vorüber, die sieben Ladies, die den Abend hauptsächlich bestreiten, gruppieren sich zu einer Menschenskulptur, als die sie auf der Drehbühne an uns vorbeirotieren. Das sind nur einige der Momente, in denen man gerne einen Brief schreiben möchte. Wie anno dunnemals, als Louis Aragon 1971 dem bereits verstorbenen André Breton von Robert Wilsons "Deafman Glance" berichten musste – als Verwirklichung der gemeinsamen surrealistischen Träume.

"Lieber Freund“, müsste es heute heissen, wenn man im Parkett des Zürcher Schauspielhauses sitzt, "wir haben einstmals so sehnsüchtig von einer Kunst des Nicht-Verstehens geträumt, mit der das Theater als Zwangsanstalt der Sinnvermittlung zum Einsturz, und die Kunst als etwas Autonomes – ganz ohne jegliche Zwecke – befreit werden könnte. Und jetzt also ist das endlich Wirklichkeit geworden: mit Herbert Fri..."

Und immer, wenn man an diesem Abend so glücklich am Schreiben seines kleinen Briefes ist, grätscht leider, leider wieder dieser Hugo Wolf dazwischen, von dem Wikipedia behauptet, seine Kompositionen seien "die direkte Konsequenz einer äusserst tiefen poetischen Einsicht und Vorstellungskraft". Mag sein. Aber an diesem Abend nervt der Spätromantiker ganz gewaltig. Und dies aus dem leider beklagenswerten Grund, dass seine Gedichtvertonungen nur allzu deutlich machen, was für ein Bastelwerk der neue Abend von Herbert Fritsch ist, den man nun am Schauspielhaus Zürich zu sehen bekommt.

HugoWolf2 560 Matthias Horn uWonne? Pein? Unbekanntes Weh? Verzücktes Hüpfen? © Matthias Horn

Spiegelnde Oberflächen

"Wer hat Angst vor Hugo Wolf?" heisst das jüngste Oeuvre von Fritsch und ist aus insgesamt drei Elementen zusammengestückelt: Da gibt es zum einen das Bühnenbild, das aus einer Drehbühne besteht, auf der die Spieler die Wände von drei Flächen in Rotation versetzen können. Inspiriert sei das von Barnett Newman "Who's afraid of red, yellow and blue", wie Herbert Fritsch gegenüber dem Architekturprofessor Philip Ursprung erklärt, worauf sich die beiden schon bald in einem Gespräch darüber verlieren, dass es in Zürich verboten sei, gewisse Rottöne für Plakate zu verwenden, da sie Autofahrer "aufregen und ablenken" könnten (erstaunlich, was man so alles erzählen und wissen kann, wenn das Programmheft 32 Seiten umfasst).

Für Fritschs Wolf-Abend ist eigentlich nur wichtig, dass die spiegelnden Oberflächen der drei Wände so toll geleuchtet werden können, dass sich der Bühnenraum zu einer Kathedrale des Lichts weitet, in der die dort zelebrierten Farben nichts als sich selbst zu bedeuten haben (Licht: Gerhard Patzelt). Und dass diese Bühne einen durchaus passablen Spielraum für die sieben singenden Schauspielerinnen und den Pianisten Carsten Meyer abgibt, der in seinem Kostüm so aussieht, als sei er gerade einer Elvis-Show in Las Vegas entlaufen. Aber eben, das eigentliche Problem des Abends sind – als drittes Element neben Bühne und Spiel – die Gedichtvertonungen von Hugo Wolf, in denen man sich dauernd "durch unbekanntes Wehe", mit "Wonne" und "Pein" nach irgendetwas Unerreichbarem verzehrt.

Süße Pimmelnummern

Und genau hier, bei den Sehnsuchtsgedichten von Mörike, Eichendorff und Goethe, die Wolf sich für seine Vertonungen vorgenommen hat, wird der neueste Fritsch schwierig. Denn in den insgesamt 85 Minuten, auf die der Abend angesetzt ist, wird nur allzu deutlich, dass sich Fritsch noch nicht mal im Ansatz für das interessiert, was in Wolfs Liedern an Gefühlsschmelz besungen wird. Und dass ihm als Regisseur im Grunde genommen auch nichts wirklich Überzeugendes einfällt, wie er sich zu diesen Liedern verhalten kann und will. Das wird vor allem in der ersten Hälfte des Abends deutlich, in der mit eifrigen Kostümwechseln – von schwarzen Anzügen bis zu aufgepoppten Geisha-Kostümen – so sichtbar nach Haltungen, Bildern und Positionen gesucht wird, mit denen man die Wolf-Lieder ins Parkett herab singen kann.

HugoWolf3 560 Matthias Horn uGewisse verbotene Rottöne oder existenzielle Leere? Herbert Fritschs Bühne nach Barnett Newman.  © Matthias Horn

Gewiss, man könnte argumentieren, dass die Spätromantik mit ihren Sehnsuchtsgesängen nichts anderes als artifizielles Gefühl und Klischee zelebrierte – und so über die existenzielle Leere hinwegtäuschte, an der sie mutmasslich litt. Und dass sie sich deshalb so oft in den Witz floh, der auch auf der Bühne von Fritschs Wolf-Abend nochmals reanimiert und in der zweiten Hälfte des Abends um einige lustige Untenrum-Pantomimen ergänzt wird (süsse Pimmelnummern gehen eben immer, vor allem wenn in Liedern von "kleinen Dingen" die Rede ist, "die entzücken". Diese Nummern bedienen denn auch die eigentliche Sehnsucht, die man mit den Fritsch-Abenden seit jeher verbindet: die reine Sinnlosigkeit, die sich allem Zweckrationalen und aller Vernunftkunst widersetzt. Am reinsten ist diese mal wieder in der Applausordnung zu erleben, die den Abend bei der Premiere auf 105 Minuten anwachsen liess). Wenn man also nett sein will, könnte man sagen, dass Herbert Fritsch mit seinem jüngsten Abend eine Leerstelle des Gefühls deutlich macht, die sich hinter der glatten Oberfläche seiner Bühne und der nach vorne gespielten Expressivität verbirgt. Selten so gedacht.

 

Wer hat Angst vor Hugo Wolf?
von Herbert Fritsch
Uraufführung
Regie: Herbert Fritsch, Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Bettina Helmi, Musikalische Leitung: Carsten Meyer und Ruth Rosenfeld, Dramaturgie: Amely Joana Hag.
Mit: Hilke Altefrohne, Sofia Elena Borsani, Lisa-Katrina Mayer, Carsten Meyer, Elisa Plüss, Anne Ratte-Polle, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler.
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause.

www.schauspielhaus.ch


 

Kritikenrundschau

"Minutenlang kreisen die hochglanzlackierten Elemente um sich selbst und sehen einfach nur gut aus, very sophisticated, ganz l'art pour l'art", so der begeisterte Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (25.4.2016). "Wer hat Angst vor Hugo Wolf?" sei witzig, schnell, unglaublich präzis, "es ist die pure Lust zuzuschauen. Der romantische Genie-Kult bekommt sein Fett weg, der japanisierende Exotismus". Nichts sei naiv oder manieriert – "schon gar nicht, dass Schauspielerinnen die Kunstlieder singen. Der Regiekniff hilft, den verborgenen Grundgefühlen in den hochglanzpolierten Liedern wieder auf die Spur zu kommen, ihrer hundertfach übersungenen lyrischen Emotionalität – gewissermassen in den poetischen Primärfarben. Red, Yellow, and Blue." Gerumpel unter der Kunstoberfläche se das, "jener Wolf, vor dem man wohl Angst haben muss – und dass diese Expedition in Wolfsche Welten eine Ahnung davon zu vermitteln vermag, ist gewiss nicht ihr kleinster Gewinn." Fazit: "Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau werden es ein wenig schwerer haben fortan."

Kühler dagegen Torbjörn Bergflödt im Südkurier (25.4.2016): "Das Bemühen, nur ja keinen braven Wolf-Lieder-Abend zu präsentieren, resultiert in musikalischer Hinsicht in einer recht willkürlich anmutenden Auslegeordnung." Die Singdarstellerinnen geben sich betont Fritsch-frisch und Fritsch-frech, "es gibt brillant gespielte Blödeleien. Aber die von Fritsch demonstrierte Liebe zum Humor bleibt manchmal unerwidert." Es gähne in dieser Nummernrevue überhaupt ein Sinndefizit, "das alle synkopierte U-Musik und Unterleibsgymnastik, alle sich drehenden Bühnenelemente und Augenrollereien nicht wegzaubern können".

Wovon der Abend "eigentlich handelt, ob er eventuell sogar eine Art Kern hat – das ist im Grunde nicht zu sagen", berichtet Michael Laages im Deutschlandfunk (24.4.2016). "Alles ist zu sehen und hören – und zugleich eben nichts." Beim Zuschauen und Hinhören herrsche zwar durchaus blankes Vergnügen – aber auch beharrlich die Leerstelle, an der sich bei aller Sympathie unabweisbar die Frage erhebe nach irgendeiner Art von Sinn und Ziel und Zweck. Fritsch setze dabei fundamental auf das Theater selbst. "In extrem konzentrierter Choreografie bringt er das ruckelnde, rappelnde, lärmend rotierende Maschinchen selber auf Touren, bis es zuweilen so aussieht, als würde es gleich aus den Gleisen springen und das ganze Haus in Schutt und Asche legen. Aber da sind ja Goethe und Mörike, Hugo Wolf und Barnett Newman, sowie sieben grandios singende Aktricen, die das verhindern."

Dieser Liederabend sei "so sinnfrei wie einst die schläfrig-schönen Liederabende von Christoph Marthaler", so Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (28.4.2016). Fritsch interessiere sich nicht "für Herz und Schmerz der Spätromantik, sondern mehr für ihre komischen, kindlichen, derben Seiten, Sachen wie Prinz Pipi oder das Brünstigwerden verliebter Inbrunst." So drehe er "Hugo Wolfs innige Balladen (...) durch den Fleischwolf seines synästhetischen Nonsens-Musiktheaters", löse aber "zum Glück nicht alles in Zötchen, Grimassen und fröhlichem Tralala auf. Vor diesem kleinen lustigen Wolf muss niemand Angst haben, aber es gibt auch leise, poetische, ja sogar anrührende und düstere Momente." Gut möglich, dass sich Hugo Wolf und seine großen Interpreten im Grabe umdrehten, "aber farbig und hübsch ist dieser rot-gelb-blaue Liederabend schon".

 

Kommentare  
Hugo Wolf, Zürich: warum Hugo Wolf?
Wozu eigentlich gerade Wolf? Und nicht Wolkenstein oder Schwitters oder Lao-Tse?
Also gerade Wolf dürfte ja für ein Zelebrieren des Nicht-Sinns der denkbar falsche Gegenstand sein.
HAt man sich da irgendwas bei gedacht?
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