Das Leben ist ein Schlachthaus

von Hartmut Krug

Berlin, 12. Mai 2016. Der Roman ist berühmt, aber heute wohl nicht wirklich viel gelesen. Die Geschichte von Franz Biberkopf, der nach vier Jahren aus dem Gefängnis kommt, wo er gesessen hat, weil er aus Eifersucht seine Freundin erschlug, und nun bei seinem Versuch scheitert, im Großstadtmoloch Berlin ein ordentliches Leben zu führen, die kennt man vor allem durch Fassbinders Film. In Berlin hat sich das Theater seit 1999 immerhin gleich drei Mal an Döblins Roman versucht. Ben Becker spielte den Biberkopf 1999 am Maxim Gorki Theater, in einer Fassung von Oliver Reese und einer Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg. Frank Castorf hat seine Zürcher Inszenierung des Romans 2005 im Skelett des Palasts der Republik gezeigt, während Volker Lösch ihn 2009 an der Schaubühne mit Knackis als Sozialreportage zu aktualisieren versuchte.

Passionsgeschichte und Totentanz

Sebastian Hartmann zeigt "Berlin Alexanderplatz" am Deutschen Theater nun als eine existentielle Geschichte, als eine Art Passionsgeschichte, die naturgemäß zum Tode des Menschen führt. Wir sehen einen Totentanz, der von viel biblischer und religiöser Ikonographie bestimmt ist. Dabei erzählt Hartmanns Bühnenfassung Döblins Roman nicht linear, sondern nur punktuell nach, und er öffnet ihn zu Assoziationen und allegorischen Aspekten.

Alexanderplatz2 560 ArnoDeclair hGroßbildbauer Sebastian Hartmann: vom leeren Raum zur Videoatmosphärenbühne © Arno Declair

Anfangs vermitteln ein Erzähler (Moritz Grove) und ein Chor die Rahmenbedingungen von Biberkopfs Lebenslauf, dann wird das Geschehen immer wieder in grellweißes Licht gesetzt: Batterien von Leuchtröhren umrahmen den leeren Bühnenraum, auf dem Bühnenarbeiter drei große, segelartige Kulissenteile hin und her schieben. Auch die sind nicht nur voller Leuchtröhren, sondern funktionieren gleichzeitig als Spielorte.

Der Sex ist den Menschen ein Trost

Biberkopf zieht eine Kiste hinter sich her, aus der Minna steigt, die Schwester der von Franz aus Eifersucht erschlagenen Ida. Sie gerät mit dem zudringlichen Franz in ein anfangs abwehrend lustloses sexuelles Gerangel, bis sie recht aktiv und fordernd wird und sich eine hochkomödiantische Sex-Szene entwickelt (wunderbar: Andreas Döhler und Katrin Wichmann). Später wird auch Felix Goeser mit kräftiger Körpersprache einen ganz anderen Franz spielen und mit dem ersten Franz wenig verblüfft zusammentreffen. Wenn Minna schließlich wieder in ihre Kiste steigt, bekommt Franz aus der Requisite einen Blumenstrauß und eine Schnapsflasche gereicht, die er an Minna weitergibt. Das wiederholt sich mehrmals als variierter Running Gag.

Der Sex ist in dieser Inszenierung immer wieder ein Trost und ein Lebenszeichen für die Menschen. Selbst wenn am Ende ein Mann, der nackt und wie am Kreuz an einem erleuchteten Kulissenteil hängt, von einem engelsgleichen, strahlend weißen Wesen herabgeholt wird, kommt es zur ausführlichen, aber zarten erotischen Begegnung. Zu zweien geht alles besser, hat Döblin geschrieben. Und der Alkohol hilft den Menschen durchaus ...

Hartmanns ehrgeizig in verschiedene Deutungsstränge ausgreifende Inszenierung erhält ihre szenische Kraft auch dadurch, dass sie sich weder vor Komik noch vor tieferer Bedeutung scheut. Ja, sie sogar zueinander fügt. Wenn ein Jude kommt und Franz mit der Erzählung vom Betrüger Stefan Zannowich, der am Galgen endet, warnend belehren will, dann wird dies durch die unterschiedliche Größe der beiden zugleich zu einer Slapsticknummer. Wie die Zeitrevue, mit der Michael Gerber komische Couplets ganz ohne Gesang vorträgt. Dagegen setzt Markwart Müller-Elmau die Erinnerungen und Überlegungen eines Kommunisten.

Wie leben wir, wie leiden wir?

Wie lebt und leidet der Mensch?, fragt die Inszenierung mit Döblin. Sie erzählt die Geschichte von Hiob und die von Abraham und Isaak, und sie zeigt, immer wieder durch die Projektion von wunderbaren animierten Zeichnungen Tilo Baumgärtels, das Schlachthaus mit seinen Schweinehälften als tödliches Vernichtungssystem und Kommentar – so lebt und leidet der Mensch. Was Franz in Berlin erlebt und wo er ist, zeigen uns Baumgärtels Zeichungen ebenfalls: Hinterhöfe, Nutten, Baumalleen und mit drehenden Rädern das die Menschen verschlingende System der Stadt. Eine weitere Reflexionsebene ist das Deutsche Theater, das durch Videobilder eines Raumes mit Kristallleuchter und dem Schriftzug des Hauses selbst auf die Bühne geholt wird.

Die Fülle der Bedeutungsebenen und das tolle Ensemble lassen immer wieder vergessen, dass Hartmann oftmals zu viel erzählen will. Und dass er manchmal nicht den richtigen Rhythmus findet und die Inszenierung in Spannungslöcher fallen lässt.

Nach der zweiten Pause wird es zuweilen zäh, auch, weil die sonst so schätzenswerte Almut Zilcher als Tod in der Auseinandersetzung mit Franz in Lautstärke und Bedeutungseifer heftig übertreibt. Aber insgesamt ist dies eine ambitionierte Inszenierung, die immer wieder überzeugende szenische Formen für ihre philosophischen Behauptungen über das Leben der Menschen findet.

 

Berlin Alexanderplatz
nach dem Roman von Alfred Döblin, Fassung von Sebastian Hartmann, Meike Schmitz und dem Ensemble
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Lichtdesign und Videogestaltung: Voxi Bärenklau, Videoanimation: Tilo Baumgärtel, Musik: Sebastian Hartmann, Dramaturgie: Sonja Anders, Meike Schmitz, Künstlerische Leitung Chor: Christine Groß.
Mit: Andreas Döhler, Edgar Eckert, Christoph Franken, Michael Gerber, Felix Goeser, Moritz Grove, Gabriele Heinz, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Markwart Müller-Elmau, Katrin Wichmann, Almut Zilcher.
Dauer: 4 Stunden 30 Minuten, zwei Pausen

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Einen "sehr assoziationsfreudigen und interpretationsoffenen Abend" hat Christine Wahl gesehen und schreibt im Tagesspiegel (14.5.2016): Sebastian Hartmann "umschifft (…) nicht nur die naturalistische Milieukitschgefahr, sondern findet überhaupt eine sehr eigene Form der Roman-Dramatisierung." "Vergleichsweise viele Szenen" versuchten, "neben der per se immer wirkungssichereren Komik ein gewisses Pathos zuzulassen statt sich mit einer Brechung komfortabel herauszukatapultieren", so Wahl: "Das geht zwar nicht immer gut, ist aber – zumal es verständlicherweise von den meisten Regisseuren vorsichtshalber vermieden wird – die wesentlich schwierigere Übung und so gesehen, auch vom Gesamtresultat her betrachtet, durchaus bemerkenswert."

Sebastian Hartmann reduziere die "Moralapostel und Denknachhelfer" aus Alfred Döblins Roman "noch ein bisschen unmissverständlicher auf ihren Kern", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (14.5.2016). "Was sieht Franz? Was sehen wir? Was wollen wir sehen von den Grausamkeiten der Welt?" Diese Fragen spiele Hartmann an diesem "kurzen langen, unangenehm aufgeräumten Bühnenabend" immer wieder durch. "Statt Döblinscher Polyphonie und Montage (…) ein reduziertes Erzähl-Theater, das auch vor Klischees und Kitsch nicht haltmacht. Trotzdem verlässt man das Theater angestochen."

André Mumot hat das Theater "wie ein geprügelter und doch sehr glücklicher Hund, mit übervollem Kopf und wild in die Welt hinausschießenden Gedanken" verlassen und gibt im Deutschlandradio Kultur Fazit (13.5.2016) zu Protokoll: Gegen Hartmanns "Berlin Alexanderplatz" sähen all die anderen Adaptionsversuche der letzten Zeit klein, ziemlich verschwitzt und banal aus. "Hier, vor hellweißer Wand und einigen Neonlicht-Konstrukten erinnert das Theater daran, dass es aufregend sein könnte, wenn es nur wollte, schwierig und zugleich erhellend, betörend und krass, fleischlich und metaphysisch, gedankenschwer und so voller Leben, dass man selbst ins Schwitzen kommt, dass man einzelne Momente im eigenen Magen spürt und in den eigenen Knochen." Nicht alles fessele das Interesse gleichermaßen in diesem "waidwunden, bisweilen unzusammenhängend wirkenden Exerzitium". Manches rutsche ab, verliere sich für Momente, so Mumot: "Zugleich aber bleibt ein Abend, der Theater immer als große Kunstform begreift und nutzt, als Medium, in dem sich die letzten Dinge mit Feuer, mit Leidenschaft und Gedankenkühle gleichermaßen verhandeln lassen."

Das Experimentelle, das Populäre: die Werbung, die Schlager, die Montagen, mit denen Döblin seine Beschreibung des Zwanzigerjahre-Berlins auf ein Niveau gehoben hat – "das wurde entweder reprofanisiert oder schlicht rausgehalten", so René Hamann in der taz (17.5.2016). "Das Politische, das in genau diesem Döblin'schen Verfahren lag, hat Hartmann bewusst nicht sehen oder zulassen wollen. Oder für seine prätentiösen Zwecke missbraucht."

Ziemlich angetan ist Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (18.5.2016): "Das Wagnis und die große Qualität dieser Roman-Erkundung bestehen unter anderem darin, dass Hartmann, statt brav den Plot nachzubuchstabieren und ein literarisches Werk mit seiner Handlung zu verwechseln, Döblins Verfahren von Collage und Assoziation sehr kraftvoll in die Mittel des Theaters übersetzt und sich am Kern des Romans, Biberkopfs Passion, abarbeitet." Weil Hartmanns Regiekünsten das Kraftmeiertum und die Freude am Plakativen nicht fremd seien, gebe es auch die großen Ausrufezeichen. Laudenbachs Fazit: "viereinhalb Stunden Theater mit Wumms".

Joachim Lange schreibt in der Leipziger Volkszeitung (18.5.2016) und wir führen diese Kritik hier mit auf, weil die LVZ Sebastian Hartmann in seiner Leipziger Zeit nicht durchweg wohl gesonnen war: Dem Regisseur, der in seiner "postleipziger Zeit" offensichtlich" an "Souveränität deutlich zugelegt" habe, sei "tatsächlich mal so was wie ein Bühnenroman" gelungen. Er respektiere den "verständlich gesprochenen Text" auf "geradezu ehrfürchtige Weise". Vor allem aber adaptiere er das Vorgehen Döblins und transformiere es in sein Medium. Hartmann setze auf die "Suggestivkraft der Collage" und spiele seine Fähigkeit "gekonnt aus", aus "noch jeder handfesten Geschichte ins Surrale abzuheben". Dabei alles "fein dosiert" oder "witzig".

 

 

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