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Was Theaterkritiker tagsüber machen
von @regenbericht
23. Mai 2016. Die Stimmung in der Redaktion war schlecht, sehr schlecht. Die Geschäftsführerin hatte als Quartalsziel einen Zuwachs an Likes und Herzchen um 15 Prozent gefordert.
"Unmöglich. Für so viele Likes ist doch gar nicht genug Liebe da draußen im Netz." Der Jungredakteur hauchte ein Herzchen auf seinen Retina-Display.
"Irrtum! Ihr müsst euch nur mit eurer ganzen Persönlichkeit für unser Ziel einsetzen." Die Geschäftsführerin hatte an der Businessschool Spandau einen Kurs zur Mitarbeitermotivation belegt. Sie selbst war hoch motiviert, den letzten Tropfen Herzblut aus ihrem Team herauszuholen. "Ihr müsst innovativ sein. Ihr müsst überraschende, neue Wege gehen."
"Aber wir sind doch schon auf Instagram", wandte die Chefredakteurin ein. "Und da haben wir sogar ein Foto mit Lars Eidinger. Lars Eidinger kriegt die Herzchen zugeschmissen." Die Wangen der Chefredakteurin erröteten ophelianisch.
"Und wie viele Follower haben wir? Nicht genug! Niemals genug! Ihr müsst euer ganzes Potenzial mobilisieren. Im Kampf um Herzchen gibt es kein Privatleben. Ihr müsst alles, absolut alles aus euch herausholen." Die Geschäftsführerin sah auffordernd ins Rund.
Es wurde wieder mal still am Redaktionstisch. Es war diese berühmte Stille, die, wie es sich der Opernkritiker vorstellte, eines Tages mit dem Adjektiv nachtkritisch in den Duden aufgenommen würde: eine absolute Stille, nicht getrübt, sondern eher verstärkt durch das unterdrückte Mahlen von Kiefern, die sich verlegen am Streuselkuchen zu schaffen machten. Für gewöhnlich galt die unausgesprochenen Regel, dass sich derjenige zu Wort melden musste, der zuerst die träge Teigmasse hinunterschluckte. – Ein Spiel, durch das mitunter einige Minuten Arbeitszeit verloren gingen, weshalb die Geschäftsführerin nicht einsah, weiter an ihm festzuhalten.
Mit ihrer Kuchengabel wies sie auf den Jungredakteur. "Was ist denn mit dir?"
"Mit mir?"
Erleichtert schluckten die Kollegen.
"Ja. Was machst du sonst noch so? Hast du Hobbys?"
"Ich, also, ich", stotterte der Jungredakteur. "Ich schreibe Gedichte."
"Gedichte?"
"Ja. Das mit dem Theater mache ich nur, um Geld zu verdienen so lange meine Sonette noch nicht so gut laufen. Also, eigentlich mache ich in Food-Porn-Poetry."
"Interessant." Die Kolumnistin musterte ihren Kollegen interessiert.
"Mit Gedichten sind wir doch schon mal gescheitert, als Sibylle Berg zu Besuch war", wandte die Chefredakteurin ein. "Und Foodporn-Poetry kommt außerdem gar nicht in Frage. Auf nachtkritik.de wird nicht herumgeschmuddelt!"
"Aber das ist ein ganz neues Genre. Ich bringe Rezepte gutdeutscher Gerichte in die Form des barocken Sonetts. Soll ich mal ein Gedicht vortra-"
"Dein Hobby bringt uns nichts", unterbrach ihn die Chefredakteurin. "Lyrik lässt sich doch nicht verkaufen! Niemand hat jemals einen Kreuzreim geliket. Aber wie sieht es denn bei dir aus?" Die Geschäftsführerin lächelte den künftigen Theatertreffen-Juror so freundlich an, wie sie es in ihrem Kurs "Herzlichkeit für Medienmanager" gelernt hatte. "Du hast doch früher so schöne kleine Bilder gemacht."
#Shakespeare-Shorties: #completeworks rather incomplete: http://t.co/k9G1TFeOEi pic.twitter.com/peljDOhArm
— Christian Rakow (@ChRakow) 30. Juni 2015
Der Theatertreffen-Juror schüttelte den Kopf. "Das Zeichnen musste ich aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Seit mein Sohn geboren ist, habe ich den Dennis-Arm." Zur Demonstration wog er die Kaffeekanne an seiner Brust hin und her.
Die Reihe kam an die Kolumnistin, die, was keiner gewusst hatte, demokratische Donaldistin war.
"Ich bin demokratische Donaldistin“, sagte die Kolunnistin frei heraus.
Was für ein Donald will US-Präsident werden? Es gibt nur einen Donald! pic.twitter.com/LXvDvkNneO
— Esther Slevogt (@EstherSlevogt) 31. Januar 2016
"Huch!", rief die Redaktion. "Du bist was?"
"Ich bin demokratische Donaldistin. Ich verbinde meinen Kampf für Frieden und Freiheit mit meiner Verehrung für Erika Fuchs und Carl Barks. Muss ich mich für meine politische Überzeugung etwa rechtfertigen?"
Is was? pic.twitter.com/SkYnX4hZPd
— Esther Slevogt (@EstherSlevogt) 31. Januar 2016
"Alles ist politisch", beeilte sich der Heiner Müller-Experte zu versichern. "Das sind universale Werte. Die gelten bestimmt auch in Entenhausen."
Die Geschäftsführerin schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Hat denn wenigstens einer unserer Autoren ein normales, verwertbares Hobby?"
"Kai Bremer baut Theaterhäuser mit LEGO nach. Gilt das?"
"Die deutsche Bühnenlandschaft als Legoland. Das wäre doch was", erwog die Geschäftsführerin. "Sonst interessiert sich ja doch wieder niemand für das Kindertheater."
"Soll ich jetzt mein Gedicht vortragen?", fragte der Jungredakeur.
"Und Jan Fischer spielt als Geeky Gisbert Luftgitarre. Er ist schon mehrmals niedersächsischer Vize-Meister geworden. Vielleicht ließe sich damit auch was anfangen."
"Und er gärtnert! Ist schon ein vielseitiger Typ der Jan Fischer", merkte die Niedersachsen-Beauftragte an.
35 Liter Blumenerde zwecks Errichtung einer Tomatenplantage auf dem Balkon quer durch die Stadt geschleppt. Denke über Feierabendbier nach.
— Jan Fischer (@nichtsneues) 16. April 2016
"Warum ändern wir unseren Namen nicht gleich zu nachtschattengewaechse.de?!", ereiferte sich die Chefredakteurin.
"Hey, guckt mal!" Der Jungredakteur deutete auf den Instagram-Auftritt der Wien-Korrespondentin. "Das sieht ja lecker aus."
"Können wir uns vielleicht bitte mal wieder auf unser Kerngeschäft konzentrieren?“, grollte die Chefredakteurin.
"Wenn du glaubst, dass du das Quartalsziel an Herzchen nur über das Theater erreichen kannst, dann schlägt in deiner Brust ein Parkett-Abo!", keifte die Geschäftsführerin zurück.
"Na, warte!" Die Chefredakteurin zielte mit der Sahne-Sprühflasche nach der Geschäftsführerin. Die Geschäftsführerin griff zum Tortenheber. Der Opernkritiker ging hinter dem Kuchenblech in Deckung. Die Tränen der Niedersachsen-Beauftragten weichten die Butterkekse auf. Die Kolumnistin ächzte. Seit der Ernennung Chris Dercons war die Redaktion nicht so in Aufruhr gewesen.
Nur der Jungredakteur blickte immer noch ganz verzückt auf den Instagram-Auftritt der Wien-Korrespondentin und twitterte leise, ganz leise und unbeeindruckt vom Shitstorm um ihn herum, sein Gedicht.
Neue Literatur-Gattung erfunden: #Foodpornpoetry pic.twitter.com/vukBgMGRVn
— Michael Wolf (@regenbericht) 17. Mai 2016
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Wenigstens sind keine von diesen Ekelkeksen mehr-