Magazinrundschau Mai 2016 – im Theatertreffen-Monat gewähren die Theaterzeitschriften Einblicke in die Jury-Arbeit und sehen sich (un)erschrocken mit der Realität konfrontiert

Theater ist kein Flugblatt

Theater ist kein Flugblatt

von Wolfgang Behrens

20. Mai 2016. "Es gab Abende, da kam einem das Theater nicht nur rat- und machtlos, es kam einem nurmehr lächerlich und nebensächlich vor." Es ist nicht selbstverständlich, einen solchen Satz von einem Theatertreffen-Juror zu lesen. Im Festival-Monat Mai ist den Theatermagazinen jedenfalls durchaus nicht nach einer fröhlichen Affirmationsfeier des Theaters zumute.

 

Die Themen: Was fehlt auf dem Theatertreffen? | Theatertreffen-Juror Bernd Noack über ein besonderes Jury-Reisejahr zwischen Realität und Kunst | Theatertreffen-Juror Peter Laudenbach über die TT-Auswahl | Über Theater mit Geflüchteten und den Umgang mit den Themen Flucht + Terror | Interview mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters | Theaterlandschaft Sachsen

 

Theater heute

Das Mai-Heft von Theater heute steht traditionellerweise ganz im Zeichen der Festivals in Berlin und Mülheim, des Theatertreffens und der Theatertage. Nicht zuletzt werden die jeweiligen Tableaus mehr (Berlin) oder weniger (Mülheim) ausführlich vorgestellt, und drei künftige Theatertreffen-Juror*innen benennen die Inszenierungen, die ihrer Ansicht nach in diesem Jahr fehlen: Frank Castorfs Brüder Karamasow von der Berliner Volksbühne (Eva Behrendt), Jan-Christoph Gockels Herz der Finsternis vom Theater Bonn (Dorothea Marcus) und Tom Kühnel/Jürgen Kuttners Der Auftrag vom Schauspiel Hannover (Christian Rakow).

Theaterheute 05 2016 180Mit Abstand am spannendsten liest sich jedoch der Bericht des scheidenden Theatertreffen-Jurors Bernd Noack über die Arbeit der Jury im vergangenen Jahr, da er einige ganz grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Kunst und Realität aufwirft. Angesichts der Flüchtlingssituation, die in den von der Jury besuchten Städten nicht zu übersehen war, habe man sich gefragt, "was das da vorne auf der Bühne denn überhaupt noch mit all dem zu tun habe, was sich im wahren Leben ereignet". Und Noack berichtet, es habe Abende gegeben, "da kam einem das Theater nicht nur rat- und machtlos, es kam einem nurmehr lächerlich und nebensächlich vor". Noack nennt den 13. November 2015, den Tag der Pariser Anschläge. Till Briegleb habe – so zitiert Noack – einen Tag später "gar keine Antennen" für Castorfs "Brüder Karamasow"-Aufführung gehabt, auch Peter Laudenbach habe am Tag danach beobachtet, dass das Theater "keine Chance gegen den Schrecken der Wirklichkeit" gehabt hätte.

Noack weiter: "Unsere Jury-Sitzungen waren geprägt von Verunsicherung, und es herrschte eine Atmosphäre, die sich so sehr von der in den vorangegangenen Jahren unterschied. Wir hatten uns anstecken lassen von dem, was die Bühnen als ihren 'Auftrag' ansahen. In den Auseinandersetzungen ging es auf einmal nicht mehr vordergründig um gut oder schlecht, um gelungen oder katastrophal – kurz: um das wirkliche subjektive Best-of. Die (nicht minder) leidenschaftlichen Diskussionen wurden jetzt hauptsächlich darüber geführt, wie wir uns selber zu verhalten, wie wir zu reagieren hätten. (...) Wenn das Tableau etwas von der Wirklichkeit und wie sie im Theater gesehen und behandelt wird, widerspiegeln sollte, dann musste es bestückt sein mit Aufführungen, die sich ganz konkret mit diesen aktuellen Fragen beschäftigen." Es stellten sich dann – bei der "hektischen Suche" nach "sehr bewusst zeitnahen" Inszenierungen – jedoch Zweifel ein, "ob alles Gutgemeinte auch vorzeigbar ist auf einem Festival, oder ob es gerade und nur am jeweiligen Ort einen Sinn macht und seine Berechtigung hat."

Man kann schon ins Grübeln kommen bei der Lektüre dieses Berichts. Ist am Ende etwas nicht in Ordnung mit der Kunst oder dem Theater, wenn etwa ein Terrorakt die Macht hat, uns ihnen derart zu entfremden? Sollte man äußeren Umständen diese Macht überhaupt zugestehen? Wie eigengesetzlich darf sich Theater, darf sich Kunst entwickeln? Und wann beginnt diese Eigengesetzlichkeit angesichts realer Ereignisse in Zynismus umzuschlagen? Ich hielt es ja bislang bei diesen Fragen eigentlich mit Robert Gernhardts "Mäusegedicht": "Und dräut die Katze noch so sehr, / sie kann uns nicht verschlingen, / solange wir nur unverzagt / von allem, was noch ungesagt, / von Lust und Frust / von Frist und List / und dem, was sonst noch sagbar ist, / nicht schweigen, sondern singen: / Das Singen wird es bringen!" Allerdings war das leicht gesagt, solange die Katze noch nicht so sehr dräute.

Die deutsche Bühne

Auch Die deutsche Bühne hat im Theatertreffen-Monat Mai einen (scheidenden) Juror befragt, Peter Laudenbach nämlich, der im Gespräch mit Redakteur Detlev Baur allerdings eher höfliche Allgemeinplätze äußert (in der Auswahl bilde sich die "Stilpluralität" der Spielpläne ab etc.). Auf die Frage, weshalb kaum "aktuelle politische Fragen" in den eingeladenen Inszenierungen vorkämen, meint er: "Vielleicht ist Theater auch einfach ein langsameres Reflexionsmedium und kein tagesaktuelles Flugblatt. Das Theatertreffen ist ein Kunstfestival und keine Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung." Über die Art und Weise jedenfalls, wie die Flüchtlinge in Karin Beiers Schiff der Träume zum Theatertreffen kämen, könne "man sicher streiten".

DdB 05 2016 180Womit man zwanglos beim Schwerpunkt des Mai-Heftes landet, der "Flucht ins Theater" heißt und nach der Reaktion der Theater auf die Flüchtlingssituation fragt. Barbara Behrendt haben sich bei der Reise zu mehreren Inszenierungen, in denen Schicksale von Menschen auf der Flucht oder diese Menschen selbst auf der Bühne zu sehen sind, mehr Fragen als Antworten aufgedrängt. Ist nicht "für einen Flüchtling nach der Ankunft in Deutschland ohnehin vieles wichtiger, als im Rampenlicht zu stehen und von seiner Herkunft zu berichten?" "Geht es hier letztlich doch mehr um Relevanz- und Authentizitätsnachweis der Theater als um die existenziellen Interessen der Flüchtlinge?" Sicher ist sich Barbara Behrendt jedoch, dass Theater mit Menschen auf der Flucht nur funktioniere, "wenn sie sich so individuell wie möglich zeigen und ausdrücken dürfen. Und nicht nur als Kollektiv, als gesichtslose Masse auf der Bühne herumstehen."

Auch der Autor und Theaterprojektentwickler Björn Bicker, der an den Münchner Kammerspielen das "Munich Welcome Theatre" organisiert, sieht die Gefahr, dass Flüchtlinge ausgestellt und "auf diese Weise wieder zu Objekten gemacht" würden. Der "naheliegendste Weg" für die Theaterarbeit mit Refugees sei daher, "nach professionellen Künstlern untern den Flüchtlingen zu suchen".

In einem lesenswerten Essay äußert sich Norbert Abels, Chefdramaturg der Oper Frankfurt, außerdem zutiefst skeptisch über den ästhetischen Umgang vieler Bühnen mit den Themen Flucht und Terror. "Die den Werken drohende Verkümmerung, die ihnen widerfährt, wenn sie partout aus dem Blickfeld ihrer Adaptierbarkeit an Themen wie Pegida, Dschihad oder Flüchtlingskrise auf die Theaterbühnen gebracht werden", habe die Häuser bereits flächendeckend erreicht. "Alles, was da auf der Bühne erscheint, soll sich nurmehr im Licht eines Diskurses zum Ausdruck bringen, der gar nicht kompatibel mit dem Stoffgehalt der Werke zu sein braucht." Abels bezichtigt die Inszenierungen, die er beispielhaft anführt und durch die IS-Flaggen und Sprengstoffgürtel geistern, einer "Wochenschauästhetik, die längst auch den zwanghaft migrationssemantisch ausgerichteten Wahrnehmungshorizont der Feuilletons bestimmt." Womit wir über Abels unversehens wieder bei Laudenbach landen: Nein, weder als Flugblatt noch als Wochenschau scheint sich das Theater zu eignen. Sollte sich das noch nicht herumgesprochen haben?

Theater der Zeit

Die Redakteur*innen Dorte Lena Eilers und Gunnar Decker von Theater der Zeit haben Kulturstaatsministerin Monika Grütters zu einem großen Gespräch gebeten, und sie haben ihr viele freundliche Worte über das Theater entlockt. Die Bühnen seien "die Säulen, die die Kulturnation Deutschland tragen, und sie sind unsere Seismografen für gesellschaftliche Veränderungen." Sie seien "geistige Tankstellen". Sie hätten "Gesellschaft nie nur abgebildet, sondern immer auch mit geformt." Und dergleichen mehr. In jeder zweiten Antwort. Und man glaubt ihr das auch. Allein: Als mantraartiges Lippenbekenntnis bedeutet es nicht viel, wofür Frau Grütters gar nichts kann, denn natürlich muss sie darauf hinweisen, dass der Bund für die Theater nicht zuständig ist. Zentral dagegen scheint ihr (auch bei der Theatertreffen-Eröffnung geäußerter) Satz: "Wir haben es weniger mit einer Krise des Theaters zu tun als vielmehr vielerorts mit einer Krise der kommunalen Haushalte." Und die Bundesregierung habe "die Kommunen mit mehreren Milliarden Euro bei ihren Pflichtaufgaben entlastet, durch Übernahme der Grundsicherung im Alter, Kosten für die Unterkunft etc. Dadurch sollen die Kommunen in die Lage versetzt werden, auch sogenannte freiwillige Aufgaben zu erfüllen, womit zuallererst die Kultur gemeint ist – und zwar fortlaufend." Hat das eigentlich schon einmal jemand den Kommunen gesagt, dieses "zuallererst die Kultur"? Vielleicht wissen die das ja gar nicht ...

 TdZ 05 2016 180Da Theatertreffen ist, hat Theater der Zeit freilich näher hingeschaut – es läuft nämlich derzeit das Sächsische Theatertreffen in Bautzen, und Michael Bartsch hat die Theaterlandschaft des Landes in den Blick genommen. Grütters' Interview im Hinterkopf, könnte man erst denken, es sei alles in Ordnung: "Im Freistaat Sachsen ist es (...) gelungen, das flächendeckende Netz an Theatern und Orchestern nicht nur nahezu vollständig zu erhalten, sondern fest in der Gesellschaft zu verankern", zitiert Bartsch aus einem 2007 erstellten Gutachten. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das schnell als ein "euphemistischer Satz": "Die Personal- und Sachkosten wachsen schneller als der bislang nur 2004 und 2014 dynamisierte Landeszuschuss an die Kulturräume, an den wiederum die kommunalen Beiträge gekoppelt sind. Personalabbau, Spartenschließungen und Haustarife sind die Folgen. Mit Ausnahme der Mittelsächsischen Theaters verzichten alle Kulturraumtheater und die Landesbühnen auf sechs bis 21 Prozent der ihnen tariflich zustehenden Gagen." Und Kunstministerin Eva-Maria Stange sagt: "Wir werden uns in Zukunft nicht alle Theater leisten können." Das hört sich dann schon etwas anders an als bei Monika Grütters.

Auf der immer sehr liebevoll mit Schnappschüssen befüllten Eigen-PR-Seite "tdz on tour" sieht man in diesem Monat übrigens zwei Fotos von TdZ-Verlagsleiter Harald Müller, wie er in Stralsund Bundeskanzlerin Angela Merkel zum 100. Geburtstag der dortigen Bühne das Buch "100 Jahre Theater Stralsund" überreicht. Angela Merkel habe "die gute künstlerische Qualität des Hauses" gelobt. Na denn! Wenn's sogar die Kanzlerin sagt! Juhu, Theater ist also doch wieder relevant!

 

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