Kann da die Kunst helfen?

von Michael Wolf

Berlin, 20. Mai 2016. Monster Truck provozieren gern. Zuletzt wurde die Gruppe vom Schauspiel Leipzig ausgeladen, weil das Schauspiel Leipzig nicht wollte, dass auf seiner Bühne ein Schwein filetiert wird.  Sie haben das Schwein dann an den Berliner Sophiensälen filetiert. Dort feiert jetzt auch ihre neueste Produktion "Sorry" Premiere, die sie mit Kindern der nigerianischen Company "The Footprints" erarbeitet haben. An diesem Abend gibt es aber keinen Skandal. Das ist ein bisschen enttäuschend. Der Programmtext ließ mehr erhoffen.

Kein Ritter, kein Sport

Darin ist die Rede von afrikanischen Vampiren, die nach Europa fliegen, um Jungfrauenblut zu trinken. Jungfrauen gibt es aber keine und Blut auch nicht, dafür jede Menge Schokolade.

SORRY 560 Florian Krauss uMonochrome chocolate © Florian Krauss

Andreas Klinger – dick, weiß, Europäer – setzt sich auf einen Stuhl und isst eine ganze Packung Ritter Sport. Sein Blick ruht auf einem schwarzen Jungen im Grundschulalter, der nur mit weißen Unterhosen bekleidet reglos da liegt – wahrscheinlich nicht zufällig in genau der Haltung, wie der ertrunkene Alan Kurdi, dessen Bild im letzten Herbst um die Welt ging. Als Klinger den Jungen auf den Arm nimmt, beißt der ihm in den Hals, guckt irre, fletscht scharfe, lange Eckzähne und ringt ihn nieder. Der dicke, weiße Mann ist gerade erlegt worden. Ging ja einfach.

Klischee, Aneignung, Anmaßung

Schade, dass das nicht das letzte Bild ist. Den Abend nach fünf Minuten enden zu lassen, wäre doch ein mindestens so netter Einfall gewesen wie das Folgende: Drei weitere Kinder kommen dazu und tanzen zu dem in Endlosschleife abgespielten Baby can I hold you von Tracy Chapman. Die Choreographie wirkt zunächst wie die Persiflage einer Boygroup mit Anleihen aus afrikanischen Tänzen. Da kann ich mich aber auch irren, weil ich natürlich keine Ahnung von afrikanischen Tänzen habe. Darum geht es an diesem Abend: Um Klischees, Aneignung, Anmaßung und all dem, womit wir uns in postkolonialen Zeiten herumschlagen müssen, weil es diese präpostkolonialen Zeiten gab, in denen wir Europäer (personifiziert vom dicken, weißen Mann im Hemd) schwarze Jungs in weißen Baumwollunterhosen angestarrt haben – was wir (personifiziert vom vollschlanken, weißen Kritiker im Hemd) genau betrachtet gerade auch wieder tun. So richtig im Lot ist die Beziehung also immer noch nicht oder wie Tracy Chapman es ausdrückt: "Years gone by and still  /  Words don't come easily  /  Like sorry".

Kann da die Kunst helfen? Denn Kunst wird an dem Abend auch gemacht. Nicht Theater, sondern richtige Bildende Kunst-Kunst. Nach etwa fünf oder sechs mal "Baby can I hold you" schiebt Klinger ein Schlagzeug neben die Bühne und nach noch mal etwa drei, vier mal "Baby can I hold you" schlägt er wild auf seine Trommeln und dann fällt Schokolade als Regen auf die Tänzer herab. Sie halten ihre Gesichten in den Strom, verteilen das süße Zeug, fallen übereinander her, fressen sich ein bisschen auf – bis der weiße Bühnenboden aussieht wie ein Jackson Pollock oder ein Yves Klein. Nur in cholocat statt monochrome bleu.

Die Zuflüsterungen des Kollektivs

Später unterhalten sich die Jungs – jetzt in sauberen Hemden – über afrikanische Kunst. Das heißt: Möglich, dass sie über etwas ganz anderes reden, weil ich ihre Sprache nicht verstehe und nicht mal weiß, wie sie heißt. Den Texttafeln im Hintergrund zufolge geht es aber darum, dass Künstler von Riefenstahl bis Vampire Weekend auf der Suche nach Inspiration in Afrika gewildert haben. Und die Jungs kritisieren, dass afrikanische Kunst nur als modern gilt, wenn sie der westlichen ähnelt und sagen noch andere Sätze, die weder afrikanische noch deutsche Kinder in ihrem Alter sagen würden, wenn ein in Hessen gegründetes Theaterkollektiv sie ihnen nicht zugeflüstert hätte.

Wenig später entpuppt sich der Bühnenboden als Leinwand, die zerschnitten, gerahmt und für zehn Euro ans Publikum verkauft werden kann. "We use the money to pay my school bills", sagt der jüngste der Jungs und es ist nicht ganz klar, ob er die Wahrheit sagt, oder das nur gutes Marketing ist. So oder so: der cleverste Moment des Abends.

 

Sorry
von Monster Truck
Konzept: Monster Truck, Segun Adefila, Künstlerische Mitarbeit: Seun Awobajo, Dramaturgie: Marcel Bugiel, Sound: Alice Ferl, Licht & technische Leitung: Stine Hertel.
Mit: The Footprints, Andreas Klinger.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.sophiensaele.com

 

Kommentare  
Sorry, Berlin: dem Zuschauer voraus
Erstaunlich, wie man als Kritiker die Hintergründigkeit eines Theaterabends komplett übersehen kann. Denken Sie wirklich, John (der kleinste der nigerianischen Tänzer hat sich uns sogar vorgestellt) benötigt das Geld für seine Ausbildung, oder nutzt diesen Satz ernsthaft als Marketing Strategie? Ist Ihnen nicht einen Moment der Gedanke gekommen, dass Ihnen da ein Klischee vorgeführt wird?
Alles was Sie schreiben ist äußerlich vollkommen richtig (außer der Tatsache, dass insgesamt 5 Jungen aus Nigeria auf der Bühne stehen und nicht nur 4, zumindest in den Stuttgarter Aufführungen) aber ihre überhebliche Schreibweise "ich verstehe ihre Sprache nicht und weiß nicht einmal wie sie heißt" ist der beste Beweis dafür, dass der Abend nicht nur klüger ist als mancher Zuschauer, sondern vorallem wichtig und richtig. Von mir ein großes Lob an Monster Truck und The Footprints - die meiner Meinung nach all das, was Sie beschreiben genau wissen und genau so beabsichtigen.
Sorry, Berlin: in die Falle getappt
Liebe Grete P, Lieber Michael Wolf,
da kann ich mich nur anschließen, das ist der Berliner Kritiker - auch noch "personifiziert, vollschlank, weiß im Hemd" - doch tatsächlich selber mit seiner leicht arroganten Haltung und beschwingt unangenehmen Überheblichkeitsschreibe in die dramaturgische Falle getappt und hat doch eher die "armen afrikanische Kinderlein" als fünf coole, freche, mutige Jungs gesehen, die sehr wohl wissen, was sie da auf der Bühne tun, vor allem wenn sie am Ende Mr. Andi und damit das ganze Publikum für sich tanzen lassen. Ganz wunderbar eigentlich. Ein genialer Abend, mit viel Tiefgang und einer mutigen Haltung. Danke Monster Truck.
Sorry, München: unvergesslich
Gestern im Werkraumtheater, München, haben wir einen unvergesslichen Abend mit Monster Truck und den Footprints erlebt. Selten gingen die Meinungen der Zuseher so aus einander: Ich konnte mir das Schmunzeln, v. a. in der Schlussszene, als die "afrikanische Kunst" für 10 Euro angeboten wurde, nicht verkneifen, während einer meiner Begleiter die Zuschauer als Intellektuelle, die das Intellektuelle suchen, angriff, eine andere Begleiterin das Projekt als "interessant" einstufte. Selten wurde so kontrovers interpretiert. Mich haben besonders die verschiedenen Ebenen von "sorry" angesprochen, das alle Sinne ansprechende Projekt mit den Stilelementen der Wiederholung. Es war einer der besten Abende seit langer Zeit im Theater, den ich auf keinen Fall missen möchte. Vielen Dank
Sorry, Berlin: Vorfreude
Schwache und etwas zu gewollt desinteressierte Kritik für jemanden, der literarischen Schreiben studiert hat. Ich freu mich indes auf das Stück!
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