Die lebenden Toten - Christian Lollikes Soundbites von den Wällen der Festung Europa bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt
Im falschen Film
von Andreas Wilink
Recklinghausen, 24. Mai 2016. Das Alphabet der Herren und Dame A, B, C kennt alle rassistischen Vorurteile, Befürchtungen, Angstlustfantasien, Panikszenarien vom schwarzen (islamistischen) Mann, seiner Gewalt, seiner Potenz, seiner schieren Präsenz. Frei Schnauze geben sie sie irgendwo im Nirgendwo von sich. Wobei sie im selben Atemzug ihre emotionale Bewegtheit und Betroffenheit, ihre identifikatorische oder ästhetisch abschätzige Haltung, ihre Selbstschutz-Blockaden reflektieren. Sie probieren, verwerfen, fordern ein, kosten aus und halten Gefühle auf Distanz.
Ist es schon Provokation, einfach nur die Figuren dieses unkorrekte Zeug reden zu lassen? Alles findet im Kopf von A, B, C statt – Dialogpartner, Ortswechsel, Locations, Setting, Diskurse. Das ist der bescheidene Trick von Christian Lollike: Die Drei aus "Die lebenden Toten" stehen über oder neben den Dingen, Künstler eben. Sind etwas ironisch und nicht dingfest zu machen, legen Camouflage auf, betreiben Rollen- und Positionswechsel und nehmen das ganze Elend auch nicht zu ernst. Der Scherz tritt nie beiseite.
Die Meinungs-Gespenster
Sokrates nannte "die Meinungen der Masse Gespenster, womit man die Kinder schreckt". Lollikes namenlose A-, B-, C-Männchen, die sich bei André Kaczmarczyk (A), Antje Trautmann (B), Kilian Land (C) trotz performativen Eifers nicht zu S-T-emännchen auswachsen, wollen wahlweise einen Zombie- oder Gespensterfilm drehen, den wir uns als Horror-B-Movie vorzustellen haben – jedenfalls als Kinderschrecknis.
Tilmann Köhlers Uraufführungs-Idee, das Stück im Kleinen Theater des Ruhrfestspielhauses Recklinghausen zum Sandkastenspiel zu erklären, wendet sich im Ergebnis gegen sich selbst. Denn aus dem Geviert der Kinderei mit Schaufel und Strandstühlen kommt man nicht mehr raus. Die Abc-Schützen haben es dank ihres Regisseurs immerhin gegenüber dem Autor Lollike schon weiter gebracht. Köhler springt mit ihnen direkt ins Kino und in den Plot und re-inszeniert ein bisschen kreischendes, fauchendes Splatter-Movie, das allerdings knuffig gerät.
Aus zwei großen Kostümschränken, die natürlich auch Särge sein könnten (wir erinnern uns an "17 Mann auf des toten Mannes Kiste" aus der "Schatzinsel"), holen sie sich Gummimasken und Zubehör, machen Huhu und einen doch nicht bange. Spielen sich fleißig durchs Lollike-Seminar, mimen "Drama", grimassieren mit Vampir-Gebiss in die Video-Kamera, werden auf der Leinwand schwarzweiß entfärbt und verzerrt, probieren Waterboarding, lassen sich einbuddeln, nebeln die Bühne ein, treten als antike Gestalten auf usw.
Notstandverordnung für intellektuell ichzentrierte Hasenherzen
Dass der Urtext des Lollike-Lamentos einerseits nicht zu genau genommen wird, andererseits bis zum bitteren Ende leider wiederum übergenau, macht die Aufführung nicht kürzer und kurzweiliger noch stringenter. Sondern zeigt den verzweifelten und den vergeblichen Versuch, dieser Notstandverordnung für intellektuell ichzentrierte Hasenherzen eine halbwegs für 90 Minuten reichende Spielform zu verpassen.
"Die lebenden Toten" in ihrer schlicht antidramatischen Konstruktion – eine phrasenhaft überbordende, zuvörderst kalkuliert Verwirrung stiftende Meinungs-Kolportage – gewinnt auch nicht an Brisanz, wenn man weiß, dass der dänische Autor als Mitinitiator der dieser Tage in Kopenhagen eröffnenden Ausstellung "Märtyrermuseum" anscheinend zwei Heroinnen des Widerstands, Jeanne d'Arc und Rosa Luxemburg, mit den Brüsseler und Pariser Attentätern zusammendenkt.
In Lollikes Sturm auf die Festung Europa ist das auf unsere Küsten zuhaltende Zombieheer anonymisiert (bis auf eine Figur der Boat People, die innerhalb des Filmer-Trios zum männlichen "Franck" bzw. zur weiblichen "Fanus“ wird): "eine zerstörende und schäumende Masse aus schwarzen Gespensterseelen“, wie es im Text heißt. Dem irrationalen Taumel, der Zufluchts-Suche in "Ekstasen der Unvernunft", so der jüngst verstorbene Historiker Fritz Stern, will Lollike Ausdruck geben.
Das Brainstorming für das Filmskript reicht stimmreich von AfD-Parolen bis zu gemäßigt kritischen Standpunkten, von der launischen öffentlichen Meinung bis zum Veto von Menschenrechtsorganisationen, von abschottendem Nationalismus bis zum ökonomischen Ultraliberalismus und steht fortwährend zwischen Skylla und Charybdis. Ein EU-Kommissar kommt mit beschwichtigenden Ansprachen zu Wort und ins Spiel. Frontex wird mittels einer animierten Grafik erklärt wie bei einer Kroesinger-Lektion.
Zum Gruseln
In dem geplanten, teils gespielten Zombiefilm ist der den Kontinent Europa enternde Afrikaner nur ein Popanz; der wahre Schurke sind andere, aber deren Auftritte lange nicht so plakativ. Sie heißen: "Krieg, Bürgerkrieg, globale Nachfrage, Wettbewerb".
Die Untoten, die das Hirnrasen der studentischen A, B, C auf eine Weise aufruft, dass es jeder Talkshow Saures gäbe, sind auszugsweise: die hoffnungslosen, sich kannibalisch an uns nährenden Flüchtlinge, Europas Politiker, gleichgültige Bürger, Konsum-Kids, medial Verseuchte, "Vampir-Aristokraten“ (Elite-Klasse), Künstler und ihre déformation professionelle, Singles in ihrer Ichsucht, die scham-versessene Linke, bange Arbeitnehmer im Bann des Big Business, die Empathielosen angesichts der Inflation der Katastrophen.
Es war zum Gruseln, nur anders als intendiert. Im Theater gewesen – wie im falschen Film.
Die lebenden Toten
von Christian Lollike
Uraufführung
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Video: Clemens Walter, Dramaturgie: Robert Koall / Frederic Tidén.
Mit: André Kaczmarczyk, Kilian Land, Antje Trautmann.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.ruhrfestspiele.de
www.staatsschauspiel-dresden.de
Lollikes "Stück ist ein Wirrwarr aus Meinungen, Rollen und Haltungen zur Flüchtlingsfrage. Sie scheinen teilweise ungefiltert aus sozialen Medien abgekupfert zu sein", berichtet Dorothea Marcus für den Deutschlandfunk (25.5.2016). Regisseur Tilman Köhler verpasse mit seinem Zombifilm-Setting "dem ausufernden Text eine Rahmenhandlung, die das Stück immerhin strukturiert". Und doch ist die Kritikerin unglücklich mit dieser "sinnlosen Selbstbespiegelung", wie es sie derzeit zuhauf gebe. "Nach diesem zynisch-wohlfeilen Abend sehnt man sich nach echtem politischen Aktivismus. Oder möchte gleich den Geflüchteten von nebenan besuchen."
"Lollikes Text ist eine interessante Spielvorlage für eine scharfe gesellschaftliche Analyse. Auch wenn er wieder nur die Perspektive der Europäer einnimmt, wie fast alle Stücke zum Thema", sagt Stefan Keim vom Deutschlandradio (24.5.2016). Regisseur Tilmann Köhler "versagt allerdings bei der Herausforderung, ein paar klare Gedanken herauszuarbeiten. Ihm reicht es, die Stimmenvielfalt der Vorlage als konturloses Wirrwarr auf die Bühne zu bringen. Mit der banalen Aussage: Ach, wir sind ja alle überfordert." Fazit: "Ein Abend der hohlen Effekte, hilflos im Umgang mit dem wichtigen Thema."
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Bitte, liebe Dramaturgen, überlasst die Stückwahl nicht allein den Regisseuren, beratet sie darin, und begleitet sie. Aber lasst sie nicht allein damit, denn das überfordert selbst die Talentiertesten
Woran erkennen Sie, dass "Dramaturgien" sowie ggf. RegiekollegInnen "überfordert" sind?
Alles spannende Fragen...zunächst mal an: Sie!