Ritt über Russland 

von Regine Müller

Düsseldorf, 16. April 2008. Grau wässriger Schneematsch bedeckt die Bühne und macht jeden Schritt zur Rutschpartie. Tauwetter? Keineswegs. Im Hintergrund ragen öde Plattenbau-Hochhäuser in einen bleiernen Himmel, davor ducken sich elende, windschiefe Bretterbuden, ein voll gerümpelter Innenraum mit durchgesessenem Sofa, Küchengerät und verdreckter Badewanne. Prekariat auf Russisch.

Thilo Reuthers Bühne gibt sich ziemlich konkret und spielt nur selten mit den von Regisseur Sebastian Baumgartens so geliebten Verfremdungseffekten. Tabea Brauns Kostüme machen es sich bequem im zeitlosen Retro-Schick. In sicherer Entfernung zur Berliner Volksbühne arbeitet sich Sebastian Baumgarten in Düsseldorf nun bereits zum zweiten Mal an einem "Castorf"-Stoff ab, zwar auch im gebührenden zeitlichen Abstand, aber dennoch auffallend. In Berlin brauchte Castorf für sein Dekonstruktionsritual von Michail Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" die üblichen fünf Stunden, Baumgarten rafft seine Adaption im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels auf knappe 140 Minuten zusammen.

Auf Monitoren die schräge Variante der Passionsgeschichte 

Bulgakows satirisch allegorischer, in alle Richtungen wild wuchernder Roman, der den Stalinismus und die starre Bürokratie anprangert und sich absurd eingefärbte Exkurse in biblische Zeiten erlaubt, scheint für Baumgartens Assoziations- und Aktionstheater eine ideale Steilvorlage, denn Verfremdungseffekte, Perspektivenwechsel und absurde Verdrehungen sind im Stoff schon eingebaut. So kann Baumgarten denn aus allen Rohren seiner Theatermittel feuern und lässt es richtig krachen.

Mit gewohnt leichter Hand choreographiert er virtuos das Geschehen, hält durchweg ein hohes Tempo und findet immer den richtigen Rhythmus. Dabei vertraut er vor allem auf die Musikalität seiner Darsteller, die Tonspur (Ingo Günther) trumpft zwar hier und da auf, hält sich aber zumeist auffallend bedeckt. Auf zwei Videowänden und zwei Monitoren flimmert bisweilen Bulgakows schräge Variante der biblischen Passionsgeschichte in Bildfolgen des klassischen Sandalenfilms, ein paar Comicstrip-Einlagen wetterleuchten am Moskauer Himmel, ansonsten setzt Baumgarten diesmal weniger auf Technik-Gewitter als viel mehr auf die Darsteller.

Gallige Ironiker, nüchterne Hysteriker, Varieté-Conferenciers   

Markus Scheumann gibt den Meister – einen im Irrenhaus gelandeten Dichter, der an einem Roman über Pontius Pilatus arbeitet – lakonisch trocken, mit grübelnder Komik, Nadine Geyersbach ist als seine Geliebte Margarita von gleichsam nüchterner Hysterie, Voland – der Teufel in der Gestalt eines schwarzen Magikers – ist bei Rainer Galke eine Varieté-Gestalt, Christoph Müllers Korowjew ein galliger Ironiker, Cathleen Baumann eine überdreht keifende, selbstironische Katze. Das restliche Personal fügt sich nahtlos ein, Winfried Küppers legt mit Blondinenwitzen einen großen Auftritt als Varieté-Conferencier ein. Baumgartens Collage- und Revue-Verfahren, das zuletzt bei seiner Lars-von-Trier-Adaption in Düsseldorf als belehrendes Dauerfeuer nur noch nervte, bleibt bei Bulgakow atemlos und nervös, kommt aber auf den Punkt und entwickelt bemerkenswerte Komik.

Er zitiert – auch Castorf! – verfremdet, überdreht, verdreht und spitzt zu, er veralbert ganze Passagen, und doch bagatellisiert er Bulgakow nicht. Denn all die hübschen und so eifrig erprobten Werkzeuge der Dekonstruktion scheinen an diesem Stoff stumpf zu werden und bewirken dieses Mal das erstaunliche Gegenteil: Annäherung an den Roman. Bulgakows böse lustiges Spiel um Leben und Tod, Atheismus und Glauben, Gott und Teufel, Erlösung und Verdammnis ist selbst schon eine einzige große Dekonstruktion. Keine blitzenden Teilchensplitter eines atomisierten Stoffs präsentiert Baumgarten also diesmal, sondern eine erstaunlich runde Sache. Großer Zuspruch.

 

Der Meister und Margarita
nach dem Roman von Michail Bulgakow
Übersetzung von Thomas Reschke Fassung von Sebastian Baumgarten und Andrea Schwieter
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Tabea Braun, Musik: Ingo Günther, Video: Stefan Bischoff, Licht: Konstantin Sonneson.
Mit: Markus Scheumann, Nadine Geyersbach, Rainer Galke, Christoph Müller, Cathleen Baumann, Miguel Abrantes Ostrowski, Jean-Luc Bubert, Winfried Küppers, Markus Danzeisen.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

Mehr von Sebastian Baumgarten: Im Februar inszenierte er Tosca an der Volksbühne Berlin, im vergangenen November in Düsseldorf Europa nach Lars von Trier. Und nicht zu vergessen sein herausragender Faust, der im Oktober 2007 am Schauspiel Hannover Premiere hatte. 

 

Kritikenrundschau

Im Deutschlandfunk (17.4.2008) hat Dorothea Marcus die Aufführung besprochen. Ein "entlarvender Blick auf das Russland von heute", befindet sie. Die Hauptrolle spiele das "rasante" Bühnenbild. Baumgarten illustriere Bulgakows fantastische Groteske souverän und manchmal fast zu effektsicher. " … auch eine gewisse Spiralblock-Affäre scheint auf, wenn der Meister ins Publikum klettert und einem Kritiker fast das Schreibmaterial entreißt." Baumgarten erzähle "unterhaltsam und stringent, dass der Einzelne hilflos dem Teufel ausgeliefert ist, aber dass das ja auch ziemlich lustig ist". Dass in der prekärsten Bretterbude das gefährliche Reich der Fantasie lauere, das die Menschen vermeintlich aus ihrer Ohnmacht befreien kann - um sie gleichzeitig ins Verderben zu stürzen. Es scheine so, "als seien die ohnmächtigen, lächerlichen und verrückt gewordenen Russen nur Vorboten dessen, wo es auch mit uns einmal hingehen könnte - ins fröhliche Verderben."

Auch Günther Hennecke in der Kölnischen Rundschau (18.4.2008) weist besonders auf das Bühnenbild Leo Rütters hin, "dem Lichtregie und Videoprojektionen überraschend neue Ebenen des Sehens hinzufügen". Sebastian Baumgarten und Andrea Schwieter hätten den Roman "faszinierend" für die Bühne adaptiert. Zwar werde "die historische Folie nur schwach ausgereizt". Dafür fände die Inszenierung "einen verblüffenden und unmittelbaren Zugang zur Umbruchs-Situation im heutigen Russland". Baumgarten sei es allerdings "weniger um Realität zu tun, als um die alles durchdringenden dramatischen Volten". Permanent wechsele die Inszenierung die Ebenen, "springt aus philosophischen Disputen in die Groteske, spielt mit Katzen im Ofen und schreckt selbst vor Ausflügen in mitreißend arrangierte Varieté-Szenen nicht zurück". Es werde "gebrüllt und gebrummt, verbal gekämpft und grotesk gehandelt. Es ist auch und vor allem ein Abend anarchischer Spielfreude."

Andreas Rossmann schreibt in der FAZ (18.4.2008): Baumgarten habe den Roman nicht eingerichtet, er habe ihn zu "entfesseln" versucht, "Theater auf Teufel komm raus". Er traue sich (zu), "für die formalen Besonderheiten von Bulgakows assoziativ wuchernder Prosa, ihre Ebenen- und Perspektivenwechsel, Simultaneitäten und Phantasmagorien szenische Lösungen zu (er)finden." Das Grauen geriere sich als "Comicstrip" und das Ganze sei "überdreht, überbordend, überkonnotiert". Doch auch "wenn vom Roman nur Schnipsel- und Schlüsselszenen übrigbleiben, seine Atmosphäre und was davon noch oder wieder die russische Gegenwart trifft, vermag die Aufführung herzustellen". Die Inszenierung sei "logistisch eine Meisterleistung, inszenatorisch nicht so ganz". Gelegentlich hätten die neun Schauspieler Mühe, sich gegen den Einsatz der überreichen technischen Mittel zu behaupten. Insgesamt aber schlügen sie sich mit Tempo, Spiellust und Prägnanz beachtlich, der Abend "sei kein Schnee von gestern."

"Der Meister und Margarita", schreibt Stefan Keim erfreut in der Frankfurter Rundschau (22.4.2008), "ist eine reife Inszenierung, in der Baumgarten weiter anarchische Spiellust entfesselt und fröhlich mit Effekten spielt. Aber die Handlung verschwindet nicht mehr hinter der Kommentarebene." Baumgarten und Dramaturgin Andrea Schwieter hätten die fantastische Handlung in die Gegenwart verlegt. Das funktioniere leichter, als man es sich beim Lesen vorstelle. "Denn die russische Gesellschaft befindet sich heute wie damals im Umbruch. In den 30er Jahren wurden Helden der Revolution über Nacht zu Staatsfeinden, Ähnliches passiert heute erfolgreichen Geschäftsleuten, die Machtkämpfe verlieren." Zwar gingen "manche Feinheiten" von Bulgakows Roman verloren, "richtige Schmerzpunkte", an denen es "gefährlich" werde, fehlten der Aufführung. Aber der Abend habe einen "coolen Soundtrack vom Russenpop mit fetten Bässen bis zum naiven deutschen Schuhreklameschlager". Und "Schauspieler, die sich mit voller Energie auf die rutschige Bühne werfen."

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