Die Kanaille bittet zum Tanz

von Gabi Hift

Berlin, 27. Mai 2016. Ach hätte es doch zur Pause geendet! Das wäre ein Triumph geworden wie bei der Uraufführung. "Schiller/Haußmann: das neue Dreamteam" hätte es geheißen, "Rückkehr des Theaters der Leidenschaften" und: "A star is born: Mosbach heißt die Kanaille!" Wäre nach dem ersten Teil Schluss gewesen, hätte es stehende Ovationen gegeben. Aber es gab noch einen zweiten. Danach sagten Menschen mit eckigen Brillen zueinander: "Interessanter Ansatz. Schon toll, das so durchzuhalten."

Der Ruf nach Freiheit

"Die Räuber“ sind eigentlich wie extra für Leander Haußmann geschrieben. Er hat ja fast nie etwas Anderes inszeniert als Geschichten über rebellische Jugendliche. Bei Einlass tanzt die Räuberbande zu "Best of Revoluzzer-Songs". Das Portal ist mit schwarzen Totenkopffetzen verhängt. Hinten blinkt eine Leuchtreklametafel, aus dem Schnürboden fahren leere Züge herunter und wieder hinauf, die Räuber tragen die Anzüge der Reservoir Dogs. Es herrscht Punk, Lust an der Wut – und eine unbestimmte Verlorenheit.

DieRaeuber 560 MonikaRittershaus uSturmisch drängend: Die Räuber (Raphael Dwinger, Fabian Stromberger, Sven Scheele, Felix Tittel, Jaime Ferkic, Felix Strobel, Luca Schaub, Anatol Käbisch) an der Windmaschine © Monika Rittershaus

Dann geht das eigentliche Drama los, das heißt bei Haußmann "Vater und Sohn". Matthias Mosbach sitzt schief im Rollstuhl. Franz Moor ein echter Krüppel? Wie Richard, der Dritte? Da ist er schon aufgesprungen und ist mitten drin in einer Comedy-Nummer, Thema: Mein scheußliches Leben. Jedes Wort von Schiller, jeder Satz eine Pointe.

Der halsstarrige, wehleidige Graf Moor (herrlich hingeschnoddert von Roman Kaminski), die kalte Verachtung verspritzende Antonia Bill als Amalie und der charmante Präsentator der häuslichen Hölle, Franz, sind ein brillantes Trio. Zusammen spielen sie Granada auf der Seelenklaviatur der Zuschauer. Nach jeder Szene gibt's Applaus. Franz immer obenauf, auch wenn ihm der Vater nebenbei mit dem Rollstuhl über die Hand fährt, oder ihm Amalie ein Stück Fleisch aus der Wange beißt, weil er versucht einen Kuss zu erzwingen. Franz wischt das Blut ab und macht weiter.

Bilder wie aus der Laterna Magica

Dagegen haben es Karl (Felix Tittel) und seine Räuberbande schwer. Hier, wo die Leidenschaft Räuber und Publikum in den Rausch treiben müsste, fehlt das gemeinsame Ideal. Was mitreißt, sind die Bilder.

Achim Freyer hat eine wunderbar dreckige Bühne geschaffen, ganz hinten eine schlampig schräg gehängte Leinwand. Auf ihr tauchen atmosphärische Filmbilder auf: Die Räuber wandern von der Bühne direkt in den Wald – wie in der Prager Laterna Magica. Es saugt einen geradezu hinein in die böhmischen Wälder und in die Romantik. Einmal zieht majestätisch eine riesige Schnecke über die Leinwand – ein leuchtendes, schleimiges Rätsel.

Die singende klingende Hippie-Leiche

Dann kommt eine Szene von enormer Wucht: Franz will endlich Herrscher sein. Durch Psychoterror töten um zu erben. Als es gelingt, als der Vater tot daliegt, raucht Franz stumm eine Zigarette, zerrt die Leiche aufs Bett, legt sich in Löffelstellung dazu und zieht den Arm des Toten um seinen Körper, hievt dann diesen Brocken von Mann hoch, manipuliert ihn wie eine Marionette und lässt ihn Cat Stevens' Father and Son singen: "I was once like you were now..." Die Poesie der gealterten Revoluzzer. Und dann nach alledem, ist der Vater gar nicht tot, wacht wieder auf.

Schiller und Haußmann sind wie Zwillinge. Bei ihrer Suche danach, "Effekt zu machen", unbedingt zu unterhalten, landen sie beide beim größtmöglichen Schmerz. Die Hand des Vaters kommt immer wieder aus dem Leichensack und Franz brüllt: "Willst du denn ewig leben?" Die Leute lachen und weinen. Gleichzeitig. Und jubeln.

Die karge Stunde der Nonnenschänder

Der zweite Teil ist nicht gut. Es gibt keine Fallhöhe für das, was mit Karl geschieht. Man hat seine Ideale nicht miterlebt, nun lässt einen sein Entsetzen darüber kalt, dass die Bande sich in eine Rotte gemeiner Mörder verwandelt, die Nonnen schänden und kleine Kinder verbrennen.

Haußmann will Tempo hineinbringen, er verschränkt die Szenen – mit dem Effekt, dass, wer das Stück nicht in und auswendig kennt, nichts mehr versteht. Alles wird auf einmal abstrakt. Kopftheater. Mit dem Spaß und dem Schmerz ist es aus; alle reden somnambul ins Leere. Wohl versteht man die Absicht: Franz und Karl werden als zwei Seiten eines einzigen Wesens behandelt. Amalie erkennt Karl nicht wieder, weil er durch seine Taten ein Anderer geworden ist. Alles sinnlos und schal. Und dadurch Durchschnittstheater.

DieRaeuber 560a MonikaRittershaus uVater & Söhne: Matthias Mosbach als Franz, Felix Tittel als Karl und Roman Kaminski als Graf Moor (im Video) © Monika Rittershaus

Ganz zum Schluss wird es noch ein wenig rührend. Der Geist der toten Amalie folgt den Räubern in die Wälder – dazu erklingt "Bella ciao". Und dann erwacht der tote Franz, ein Zombie, und balgt sich mit Karl. "Ein höheres Indianerspiel" hat Thomas Mann das Stück genannt, und Räuber sein, das war die Bubensehnsucht von Leander Haußmann.

Man könnte meinen, dass vielleicht nicht mehr drin ist, dass dieses Stück zu verrückt ist, zu unwahrscheinlich, zu sensationslüstern – wenn, ja wenn man nicht im ersten Teil erlebt hätte, wie Leander Haußmann kongenial das wahrhaft phantastische Spektakel zum Strahlen gebracht hätte, das in diesem Monstrum von Stück steckt – ein halber, ein riesiger Wurf.

 

Die Räuber
von Friedrich Schiller
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Achim Freyer, Kostüme: Janina Brinkmann, Dramaturgie: Steffen Sünkel, Licht: Ulrich Eh, Achim Freyer, Video und Soundbearbeitung: Jakob Klaffs, Hugo Reis, Mitarbeit Bühne: Nora Willy.
Mit: Antonia Bill; Uwe Dag Berlin, Raphael Dwinger, Jaime Ferkic, Anatol Käbisch, Roman Kaminski, Michael Kinkel, Peter Luppa, Matthias Mosbach, Luca Schaub, Sven Scheele, Fabian Stromberger, Felix Strobel, Felix Tittel.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Dass er kein Feuerwerk abfackeln würde, kann man Leander Haußmann nicht vorwerfen", berichtet Ute Büsing für das Inforadio des rbb (28.5.2016). "Der bei Schiller tief gelegte Vater-Sohn-Konflikt wird mit Cat Stevens' Song 'Father and Son' veroberflächlicht. Franz Moor stemmt dabei seinen Vater und lässt ihn zappeln wie eine Handpuppe. (..) Das drastisch Illustrierende liegt Haußmann." Begeistern lässt sich Büsing nicht: "Das Geballere und Gewummere nervt auf die Dauer." Ihr Fazit fällt nüchtern bis ernüchtert aus: "Eine Bombe hat das Berliner Ensemble also nicht gezündet."

"Es ist nicht der große, radikale Zugriff aufs Ganze des Schiller-Stücks. Die Stärke des Abends liegt in einzelnen Bildern, Szenen, in Situationen und Stimmungen", erklärt Barbara Behrendt im Deutschlandfunk (29.5.2016). Man spüre den Schmerz von Abschied, Einsamkeit, Todessehnsucht und auch großes, fürchterliches Pathos traue sich Haußmann. "Aber alle Fantasie und aller Schwung reichen am Ende doch nicht aus, um den Abend über volle drei Stunden zu tragen." Im zweiten Teil schwächele die Inszenierung, da Haußmann die Geschichte stellenweise aus den Augen verliere.

So "ironiefreudig Spielplatz-regressiv" und bei sich selbst, so im besten Sinne aufgedreht und erfreulich weit weg vom "Peymann-Stil der aufgerissenen Augen und handlungspathetisch mitrudernden Arme" sehe man die BE-Schauspieler selten, freut sich Christine Wahl vom Tagesspiegel (29.5.2016). Allerdings übernehme nach der Pause das Pathos das Kommando und aus der heiter-pubertären Familienaufstellung werde eine "ziemliche Ergriffenheitsshow", die sich drei mal so lange hinziehe wie das vitale Abenteuerspielplatz-Entertainment zuvor.

"Effekthungriges Trickbuden-Theater" voller "überbordender Showeffekte" hat Doris Meierhenrich für die Berliner Zeitung (30.5.2016) am Schiffbauerdamm erlebt. Der Abend sei "frei von jedes Gegenwartsgedankens Blässe". Mithin fällt das Fazit nicht eben überschwänglich aus: "Haußmann schnurrt die Pathosmaschine ab, bis es rockt: Ein schmackiger Einfall jagt den nächsten und die Soundtracks wimmern dazu. Allen Schulklassen, die in diese unschwere Theaterpflichtstunde müssen: Glückwunsch."

"Es ist natürlich Effekttheater. Vor allem in der zweiten Hälfte des Abends hat das seine Schwächen", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (1.6.2016). Haußmann zünde ein Feuerwerk an Einfällen. "Manche sind naheliegend und doof, manche aber wunderschön." Außerdem sei es "eine Freude", wie Mattias Mosbach den Franz spiele als "Springteufel im Korsett der Konventionen". "Bei allen Fieslings-Posen hat dieser Franz etwas zutiefst Tragisches: Er begehrt auf gegen die Rolle, die ihm das Leben zugedacht hat." Felix Tittel als Karl Moor dagegen habe außer seinem Dreitagebart offenbar nicht allzu viel in die Rolle eingebracht. "Sein Text ertönt in jenem getragenen Singsang, der zur Corporate Identity des Berliner Ensembles gehört." Und seine Führungskompetenz als Räuberhauptmann erschöpfe sich in "etwas abgegrabbelten Posen".

Kommentare  
Die Räuber, Berlin: Stückwerk mit Schauwert
Den Abend zeichnet vor allem eines aus: ein Eindruck der Unebenheit. Die Kernidee des brüderlichen Pubertätsdrama bildet vielleicht die Klammer, doch verliert Haußmann sie immer wieder über weite Strecken aus dem Auge. Farce wechselt mit Tragödie, ungefiltertes Pathos mit hübschen Albernheiten, ein fast heilig zu nennender Ernst mit ausgestellter Ironie. Das ist Stückwerk, theatrale Nummernrevue – davon zeugt auch der wiederholte, exzessive Szenenapplaus vor der Pause. Der Abend wirkt unfertig, so als fehlten noch ein paar Probenwochen, um aus den Fragmenten ein Ganzes zu machen. Aber wenigstens ist vor der Pause das Tempo hoch, der Unterhaltungswert auf Freyers angeschrägter und leicht messiehafter Bühne, die in jeder Szene in eine andere Farbe getaucht wird – maximaler Schauwert, minimale Aussage – eindrucksvoll. Im Zweiten Teil funktioniert auch das nicht. Haußmann montiert Szenen und schaltet sie parallel, vor allem, um Zeit zu sparen. Nur selten und erst gegen Ende entstehen daraus spannende Kontrastierungen der gleichzeitig ab- wie anwesenden Brüder, die aber auch hier am Ungleichgewicht der Figuren und der leeren Hülle, die Karl Moor ist, kranken. Ansonsten herrschen eineinhalb stunden Leerlauf und gähnende Langeweile, während der Abend dreieinhalb Akte mechanisch abspult. Hier ist auch kein Spieltrieb mehr zu spüren, keine Idee, keine Haltung zum Stück. Der Kernansatz kehrt erst ganz am Schluss zurück, wenn der tote Franz aufersteht, um sich mit dem Bruder zu raufen. Der erschöpfte Zuschauer wartet da schon längst nur noch auf die Klingel, die die Rüpel wieder zum Unterricht ruft.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/28/schulhofschlager/
Die Räuber, Berlin: Mosbachs One-Man-Show
Wenn man, etwas überspitzt ausgedrückt, in drei Stunden keine einzige Idee hat, außer Windmaschine und Kunstblut, und nicht wirklich klar wird, warum das Stück jetzt 2016 zum gefühlt hunderttausendsten mal inszeniert wird, ist es vielleicht gar keine schlechte Idee vom Theater erstmal Abstand zu nehmen, wie Haußmann zuletzt ankündigte. Dabei ist sein Woyzeck so toll. Einziger Lichtblick Matthias Mosbach als Franz Moor, der die erste Hälfte in einer Art One-Man-Show trägt, irgendwo zwischen Kurt Krömer und Horror-Ikone Jeffrey Combs.
Die Räuber, Berlin: weiß doch jeder
Mein Gott, in welcher Räuber Inszenierung ist Franz denn nicht interessanter als Karl.
Franz ist die viel geilere Rolle, das ist Richard der Dritte!
Und Karl hat ein viel komplexeres Gedankenkonstrukt zu transportieren. Für die Räuberbande ist es unglaublich viel schwerer eine stimmige Übersetzung für die Bühne zu finden, als für die Hofintriege von Franz.
Das weiss jeder Schauspielschüler, wenn er sich die Monologe von Franz aussucht.
Nur an Kritiker/innen scheint dieses Wissen vorbeigegangen zu sein.
Die Räuber, Berlin: Hinweis
#3 Kostanze Lauterbach, Schauspiel Leipzig, 1998, Karl war Thomas Büchel, Franz Jochen Noch
Die Räuber, Berlin: Link
Eben habe ich eine interessante Kritik im Netz gefunden:

https://pagewizz.com/berliner-ensemble-kritik-von-die-rauber-leander-35623/
Räuber, Berlin: lobende Erwähnung
Matthias Mosbach kommt in dieser Kritik fast etwas zu kurz. Vor allem die Szene, in der er seinen Vater tötet, ist für ihn ja sehr haarig.
Die Räuber, Berlin: will noch mal feilen
Wer nach den etwas mehr als drei Stunden noch Lust hatte, bekam nach der zweiten Aufführung beim Publikumsgespräch mit dem Regisseur, seinem Dramaturgen Steffen Sünkel und seinem Ensemble eine noch größere Show geboten.

Dabei zeigte sich auch, dass das einhellige Urteil der veröffentlichten Meinung und vieler Besucher durchaus Wirkung zeigt: Leander Haußmann kündigte an, dass er am zweiten, langatmigeren, schwächeren Teil noch mal feilen wolle. Er hat aber auch eine gute Entschuldigung dafür, dass dieser Teil etwas abfiel: das ist schon bei Schillers Original-Text so, das ungekürzt mehr als sechs Stunden gedauert hätte.

Falls Leander Haußmann nicht wieder – wie schon einmal – einen Rückzug vom Rückzug antritt, verliert die Berliner Theaterlandschaft einen bunten Farbtupfer. Mit seiner „Räuber“-Bande gelang Haußmann ein versöhnlicher, unterhaltsamer Spielzeit-Ausklang, der für seinen langweiligen „Guten Menschen von Sezuan“ entschädigt, aber nicht an stärkere Inszenierungen wie „Woyzeck“ oder „Hamlet“ heranreicht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/06/03/raeuberbande-schillers-raeuber-als-leander-haussmanns-abschiedsshow-am-berliner-ensemble/
Räuber, Berlin: insgesamt positiv
Als Zuschauer die Prämiere genossen, es war Sturm und Drang eines jungen Friederich Schiller. Was mich berührt ist der Generationskonflikt, immer aktuell zu jeder Zeit und in jeder Familie. NUR wie geht man damit im praktisvhen Leben um. KALASCHNIKOWS und Mordlußt sind auch mit aktuellen Zeitmaß wesentlich überzeichnet,gleichwohl skuril.

Trotzdeñ eine positive Kritik, schaue mir das Stück nochmels an.
Die Räuber, Berlin: interessante Bilder
Eine weitere interessante Kritik sowie 28 Inszenierungsfotos gibt es hier:
http://kultur24-berlin.de/die-raeuber-und-der-ber-am-berliner-ensemble/
Vor allem die Bilder 24-27 sind sehr interessant...
Die Räuber, Berlin: Parallelen
Haußmann hat in der Spielzeitpause seine Inszenierung um gut eine Viertelstunde gestrafft. Kein großer Wurf, aber doch über weite Strecken sehr unterhaltsam. Die parallel laufende Handlung im zweiten Teil kündigt sich ja schon vor der Pause an und ist wohl der Kerngedanke der Inszenierung. Zwei ungleiche Brüder, die aus verschiedenen Gründen gegen den Vater rebellieren und dabei doch zu ganz ähnlichen Mitteln greifen. Und Parallelen zur Gegenwart gibt es da immer. Man kann die Alten weg intrigieren, sich dann an ihre Stelle setzen und immer so weiter machen, oder aus idealistischen Gründen die alten Verhältnisse bekämpfen und dabei neue, noch viel grausamere errichten. Ansehen kann man sich das durchaus und sollte man auch noch. Das BE zählt schon die Tage runter bis zum großen Peymann-Ende.
Die Räuber, Berliner Ensemble: von wem ist das Lied?
Von wem ist das Lied, das immer wieder gesungen wird "How, how-how-how..."?
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