Die Lebensunfähigen

von Stefan Keim

Bochum, 29. Mai 2016. Der Junge ist doch lebensunfähig. Marc ist 19 Jahre alt, hat – laut Vater Gerd – ein "beschissenes Abi" gebaut und tut nichts. Genauer gesagt: Er hängt in seinem Zimmer rum, frisst den Kühlschrank leer und macht nachts Party. Lebensunfähig ist auch Heidrun, eine Frau Mitte dreißig, psychisch krank und Köchin in einer Kantine. Ohne ihre Medikamente und die Hilfe ihrer Tochter käme sie kaum klar. Oder? Natürlich ist auch die Frage erlaubt, wer da eigentlich anderen Menschen die Lebensfähigkeit abspricht. Und da wären wir mitten drin im neuen Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. "Wunschkinder" hatte nun in den Bochumer Kammerspielen Uraufführung.

Der Hübner-Nemitz-Effekt

Wie immer befindet sich das Autorenduo – Sarah Nemitz fungierte früher unter "Mitarbeit", nun als gleichberechtigte Partnerin – im direkten Kontakt mit der Alltagsrealität. Von der ersten Szene an funktioniert der Hübner-Effekt. Oder Hübner-Nemitz-Effekt. Er besteht im sofortigen Wiedererkennen. Ja, solche Sätze hat fast jeder Vater, fast jede Mutter, fast jeder Sohn schon mal gehört. Oder selbst gesagt. Hübner und Nemitz schöpfen aus der Wirklichkeit, recherchieren, destillieren Dialoge, die lebensecht wirken und zugleich enorm bühnenwirksam sind. Wie sie es im Erfolgsstück Frau Müller muss weg und vielen anderen Werken schon oft getan haben.

Wunschkinder 560 ThomasAurin uSie haben den Blues: Maja Beckmann (Heidrun), Sarah Grunert (Selma), Matthias Redlhammer (Gerd), Damir Avdic (Marc), Katharina Linder (Bettine), Annelore Sarbach (Katrin) © Thomas Aurin

Die erste Hälfte des neuen Werks "Wunschkinder" ist Edelboulevard, wie ihn sonst Yasmina Reza schreibt. In Deutschland reißen sich alle Bühnen vom Staatstheater bis zur Komödie um solche Texte, finden es aber meistens degoutant, wenn sie von deutschen Autoren kommen. Zugegeben: Es hat eine gewisse Oberflächlichkeit, dass Vater Gerd, ein leitender Ingenieur mit dickem Konto, seinen pointierten Pragmatismus mit Harald-Schmidt-Süffisanz ausstellt. Aber es macht Spaß, wenn er politisch völlig inkorrekt keinen Bock auf eine Willkommensparty für Flüchtlinge hat, wo er doch schon Geld dafür gegeben hat. Und außerdem Sohn Marc, dem Lebensunfähigen, die Meinung geigt. Mit Gattin Bettine liefert er sich die Wortduelle eines in Hassgewohnheit aneinander geschweißten Ehepaares jenseits des Liebesverfalldatums. Während Bettines Schwester Katrin als coole Ex-Biker-Braut beim nach Orientierung suchenden Sohnemann punktet.

Alle drehen durch

Mit der Liebesgeschichte kommt langsam mehr Ernsthaftigkeit in das Stück. Immer weiter verschwindet die Komödie hinter einem Sozialdrama. Die Figuren bekommen Hintergründe und Geschichten, schließlich führen sie Debatten, die ins Grundsätzliche gehen. Doch der Reihe nach: Marc verliebt sich in Selma, die das genaue Gegenteil von ihm selbst zu sein scheint. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen. Selma holt abends den Schulabschluss nach, hat zwei Jobs, engagiert sich für Flüchtlinge und kümmert sich außerdem um Mutter Heidrun, die labile Köchin. Dann wird sie schwanger, Marc ist der Vater, und alle drehen durch. Selma stößt erst einmal jeden, auch Marc, von sich und braucht ihre Ruhe. Der ist zum ersten Mal mit so einer existentiellen Situation konfrontiert und explodiert, als seine Eltern sich vehement einmischen. Weil sie dem Jungen nicht zutrauen, mit der Lage klar zu kommen. Er ist ja schließlich "lebensunfähig".

Wunschkinder 560a ThomasAurin uDialogkunst im grauen Nicht-Raum: Katharina Linder (Bettine), Maja Beckmann (Heidrun), Sarah Grunert (Selma), Damir Avdic (Marc), Matthias Redlhammer (Gerd) © Thomas Aurin

Gegen Ende verliert das Stück etwas an Dichte. Das liegt an der Sorgfalt der Autoren, die möglichst allen Figuren gerecht werden und die wichtigsten Denkmodelle durchspielen wollen. Das erhöht den Nutzwert des Stückes für anschließende Diskussionen, schadet aber dem dramaturgischen Drive. Es muss nicht alles zu Ende erzählt werden, da könnten spätere Regisseure ein paar Striche vornehmen. Bei einer Uraufführung ist das natürlich nicht ratsam, zumal Bochums Intendant Anselm Weber, der schon viele Stücke von Hübner und Nemitz inszeniert hat, mit großer Präzision dem Text dient. Lydia Merkels Bühne ist ein karger, leicht ansteigender grauer Nicht-Raum. Mehr wäre auch zu viel, weil alles andere in den Dialogen steckt. Das Stück braucht keinen Überbau, keine weiteren Dimensionen. Es geht um die Sache, nicht um ästhetische Spielereien. Subtil unterstützt die leise, rhythmusgeprägte Musik von Thomas Osterhoff die Schauspieler, fast unmerklich und gerade deshalb wirkungsvoll.

Der Kampf mit der grauen Strickjacke

So hat das hervorragende Bochumer Ensemble alle Möglichkeiten, die Szenen zum Leben zu erwecken. Damir Avdic als Marc zeigt mit berührender Glaubwürdigkeit die Unsicherheit des immer unterschätzten Sohns, Sarah Grunert ebenso stark die Angst einer jungen Frau, die harte Arbeit und Aufopferung gewöhnt ist, aber angesichts ihrer Schwangerschaft in Panik gerät. Die Köchin Heidrun ist eine wunderbare Rolle für die als Gast nach Bochum zurückgekehrte Maja Beckmann. Allein wie sie mit den viel zu langen Ärmeln ihrer grauen Strickjacke kämpft, ist ein Bild, das man so schnell nicht vergisst. Matthias Redlhammer serviert als Vater Gerd nicht nur Pointen, er zeigt auch Momente, in denen er die Welt nicht versteht und die Grenzen des Machers und Problemlösers schmerzhaft deutlich werden. Während Katharina Linder als seine Gattin Bettina ein tragikomisches (Haus-)Frauenschicksal ausbreitet, inklusive grandioser Brüllverzweiflung und berechnender Freundlichkeit. Annelore Sarbach wiederum verkörpert als Schwester Katrin die Stimme der Vernunft, auf die niemand hören will.

"Wunschkinder" ist ein ausgezeichnetes Stück für alle, die sich im Theater mit Alltagsproblemen auseinander setzen wollen. Unterhaltend, genau recherchiert, mit vielschichtigen Rollen, die den Schauspielern sichtbar eine Riesenfreude bereiten. Schon vor dem Auftritt des Regieteams fiel das Bochumer Publikum bei der Premiere in den beliebten Klatschmarsch.

 

Wunschkinder
von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Uraufführung
Regie: Anselm Weber, Bühne: Lydia Merkel, Kostüme: Irina Bartels, Musik: Thomas Osterhoff, Licht: Bernd Felder, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt.
Mit: Katharina Linder, Matthias Redlhammer, Damir Avdic, Annelore Sarbach, Maja Beckmann, Sarah Grunert.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

In unserer Video-Interview-Reihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" sprechen Sarah Nemitz und Lutz Hübner über den Wert von Geschichten und Einfühlung


Kritikenrundschau

"Reichlich Diskussionsstoff" sah Andreas Rossmann für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (31.5.2016) in Bochum. "Solide konstruiert und mit pointierten Dialogen" käme der Abend daher. "Ein Auftragswerk im doppelten Wortsinn. Statt Konflikte zu entwickeln und auszutragen, begnügt es sich weitgehend mit Konfrontationen: um sie der Bühne aufzutragen."

Nicht gänzlich überzeugt zeigt sich Elske Brault für Deutschlandradio Kultur (29.5.2016) von diesem Abend: "So sehr die Dialoge nämlich einen Sog entwickeln und der Druck auf die Heranwachsenden immer stärker spürbar wird  man könnte sich an diesem Skelett einer Inszenierung noch mehr Fleisch vorstellen." Als Aussicht für das Stück formuliert die Kritikerin: "'Wunschkinder' schreit nach der Verfilmung, wie das bereits mit 'Frau Müller muss weg' gut gelungen ist. Die würde all die Bilder liefern, die in Anselm Webers Textpräsentation fehlen."

 

Kommentare  
Wunschkinder, Bochum: schlimme Programmheft-Prosa
"Damir Avdic als Marc zeigt mit berührender Glaubwürdigkeit" - ich fand ihn dagegen, als einzigen Charakter, völlig unglaubwürdig besetzt. Das wäre ja gerade der Kniff gewesen, ihn mit Charisma (warum verliebt sich das Mädel bloß in ihn?) und Ambivalenz zu zeigen; als einen, der gg Eltern und Welt nach seiner Rolle im Leben (im 21. JH) sucht und das nicht nur behauptet.

Matthias Redlhammer als Vater großartig. Auch dass er, wie sonst oft im Drama, nicht moralisch geläutert wird.

Stimme zu, Stück hätte gg Ende gekürzt werden sollen.

Völlig daneben aber die Programminfo - typisch Theater: "Das neue Stück des Erfolgsduos Lutz Hübner und Sarah Nemitz ... ist eine genau beobachtete Untersuchung des Verhältnisses zwischen den Generationen und wirft zugleich einen kritisch-humorvollen Blick auf die Lebensmodelle des Mittelstands." Weder ging es um Generationen, noch um Lebensmodelle des Mittelstands. Das war eine Boulevardkomödie, stellenweise eine sehr lustige.
Wunschkinder, Bochum: falscher Vergleich
Ich habe mir die Premiere am Schauspielhaus Bochum angeschaut und bin der Meinung das man alles tun kann nur nicht Lutz Hübner mit Yasmina Reza zu vergleichen - kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Die Darsteller waren 1A allen vorran Matthias Redelhammer, Damir Avdic und Sarah Grunert.
Noch ein weiteres mal muss ich es aber nicht sehen.
Wunschkinder, Bochum: Korrektur
Doppelte Verneinung?
"…wer da eigentlich anderen Menschen die Lebensunfähigkeit abspricht." – hier ist eine Verneinung zu viel, nicht wahr?

(Stimmt! Vielen Dank für den Hinweis, ist korrigiert.

MfG
Georg Kasch / Redaktion)
Wunschkinder, Bochum: überraschend stimmig
Anselm Weber hat eine klare Wahl: Er könnte zum Beispiel die Klischeeschraube weiter drehen und aus dem Stück eine überdrehte Klamotte machen, mit angenehm satirischen Ton und vielen herzlichen Lachern. Schauspielhaus-Intendant Weber wählt einen anderen Weg: Er versucht dem Text die Wirklichkeit zurückzugeben. Er zieht das Tempo an, setzt auf Realismus, lässt sein feines Ensemble die Figuren plastisch formen. Das gelingt Matthias Redlhammer als dauerironischem Vater und Katrin Linder als dauerangespannter und nur vordergründig herzlicher Klammermutter ebenso stark wie Sarah Grunerts verletzlich taffer Selma. Das Ereignis ist Maja Beckmann als Selmas Mutter Heidrun, deren sehnsüchtige Verlorenheit anrührt, ohne je um Mitleid zu betteln. Einzig Damir Avdic als Marc tut sich mit seiner Rolle etwas schwerer. Zu Beginn viel zu reflektiert, tastet er sich nur langsam ist die Hilflosigkeit seiner Generationsmetapher hinein.

Das Ergebnis ist ein überraschend stimmiger Abend, der dem Text und seiner geschwätzigen Erklärsucht so lange den Kampf ansagt, bis er so nahe an die Wirklichkeit, die er behauptet, herangerückt ist, wie es ihm möglich ist. Wann immer er sich in Platitüden zu vergangen droht, zwingt Weber ihn in die nächste Szene, so als wolle er den leitmotivischen Schlüsselsatz „Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?“, immer dann geäußert, wenn sich eine Figur ihrer Fremdbestimmung für einen Moment zu entledigen sucht, der Textvorlage ins Gesicht schleudern. Lydia Merkels Bühne ist ein leerer, leicht angeschrägter Möglichkeitsraum, den zu erklimmen immer ein wenig Mühe erfordern, auf dem man aber leicht, wenn auch nicht im Wortsinn, ins Rutschen gerät. Ein Experimentierfeld, auf dem es gilt, den richtigen Ton zu finden, den passenden Umgang – mit dem Anderen wie mit sich selbst. Eine Übung, die denn bei aller räumlichen Abstraktion näher an der Wirklichkeit ist als das Textkorsett. Und so verblüfft an diesem Abend vor allem die Leichtigkeit, die Selbstverständlichkeit, mit der er die sperrigen Familienabgründe verhandelt, erstaunt, wie natürlich er zwischen komödiantisch-satirischem Ton und stiller, beklemmender Berührung wechselt, seine Figuren ernster nimmt, als ihre Autoren es getan haben und sie nie an billige Effekte verrät. So wird Wunschkinder zum lebendigen Konversationsstück, unterhaltsam und schmerzlich. Dabei bleibt es natürlich analytisch an der Oberfläche – den Themen Generationenkonflikt und überforderte Jugend in einer postmodernen, globalisierten Welt, in der alles möglich scheint, und doch kaum mehr Halt zu finden ist, fügt er wenig hinzu. Doch taugt er als spannende Zustandsbeschreibung eines Gesellschafts- und Familienkostrukts, welches das Um-Sich-Kreisen zum Lebensinhalt gemacht hat. Intelligente Unterhaltung – wenig ist das nicht.


Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/03/einfach-mal-die-klappe-halten/
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