Die Erben Lessings

von Thomas Rothschild

2. Juni 2016. Das Berufsbild des Dramaturgen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert. Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts oblag es den Dramaturgen vornehmlich, Vorschläge für den Spielplan zu machen, die Programmhefte zu redigieren und eventuell Strichfassungen vorzubereiten. Oder man beschäftigte sie mit Nebenaufgaben, weil sie von Theatertexten außerhalb des engen Kanons und erst recht von deren geschichtlichen Bedingungen nicht allzu viel Ahnung hatten. Mit der Durchsetzung des so genannten Regietheaters wuchs – im deutschsprachigen Raum – die Bedeutung und das Ansehen der Dramaturgen.

Dramaturgen sind die neuen Autoren

Mehr und mehr wurden sie zu engen Mitarbeitern der Regisseure (Stichwort: Produktionsdramaturgie), oft sogar zu den eigentlichen Erfindern der Regiekonzeption, den Lieferanten des Interpretationsansatzes und zuletzt zu eingriffslustigen Bearbeitern – wenn nicht sogar zu Autoren der Spielvorlagen. In dem Maße, in dem die Dramaturgen in den Vordergrund rückten, verloren die Dramatiker an Bedeutung, bis hin zur Provokation des Gurus Thomas Oberender im Mai 2015: "Das Theater ist selber zum Autor geworden, es generiert selbst seine Stoffe, es ist ein Allesfresser geworden – nicht mehr ein Verdauungsapparat, sondern Erzeuger der eigenen Stoffe und Gegenstände." Schon zwei Jahre zuvor hatte Oberender über die Theater verkündet: "Heute sind diese Institutionen Orte, in denen Autoren arbeiten und diese Autoren nennen sich Regisseure." Er hätte hinzufügen können: "und Dramaturgen".

In der Tat gerieren sich heute viele Dramaturgen als Autoren. Ob die Ergebnisse ihrer Arbeit besser oder auch nur zeitgemäßer als die Texte von außerhalb des Theaterbetriebs stehenden Dramatikern oder ob sie lediglich Ausdruck einer kolossalen Selbstüberschätzung sind, kann hier nicht entschieden werden. Wahrscheinlich gibt es nicht die auf jeden Einzelfall zutreffende Antwort. Tatsache ist indes, dass den Dramaturgen im gegenwärtigen deutschsprachigen Theater eine zentrale Rolle zufällt. Das war nicht immer so.

Rüge für Schiller

Evelyn Deutsch-Schreiner beginnt in ihrer chronologisch aufgebauten Übersicht mit Lessing und schreitet kapitelweise über Schiller, Schreyvogel, Kahane, Brecht, Rainer Schlösser, Kurt Hirschfeld und Heinar Kipphardt zu unseren Zeitgenossen voran, wobei sie jedem dieser Namen eine historische Epoche (Aufklärung, Vormärz, DDR) oder eine spezifische Problematik (Stadttheater, Postdramatische Theaterformen, Freie Szene) zuordnet. Die Zusammenfassung theoretischer Positionen und die Auflistung der Stationen praktischer Arbeit, nicht nur auf dem Gebiet der Dramaturgie, spickt die Verfasserin mit biographischen Daten. Die Auswahl, schreibt sie, erfolgte danach, ob sie die Dramaturgen "und ihre Konzepte als prototypisch für die Entwicklung des Berufs ansah". Mehrfach rügt sie Lessing und Schiller für deren harsche Kritik an den Schauspielern, mit denen diese arbeiten mussten. Gerade diese Kritik aber hat die Schauspielkunst und ihre analytische Durchdringung vorangebracht.

Für die Gegenwart beschränkt sich die Österreicherin auf Dieter Sturm, Hermann Beil, der an Peymanns Burg, und Stefanie Carp, die bei den Wiener Festwochen gearbeitet hat, sowie auf Nadine Jessen. Michael Eberth, Hans-Joachim Ruckhäberle, Juliane Votteler, Bernd Stegemann, Marius von Mayenburg, Malte Ubenauf, Sarah Israel beispielsweise oder gar wegweisende Operndramaturgen wie Klaus Zehelein oder Sergio Morabito sowie nicht deutschsprachige Dramaturgen kommen nicht vor. Kürzlich verstorbenen Dramaturginnen und Dramaturgen wie Ursula Voss und Wolfgang Wiens nützte auch der Standortvorteil nichts. Sie zählen für die Autorin offenbar nicht mehr zur Gegenwart.
Was Sprachstil und Grammatik der vorliegenden Arbeit betrifft, so mögen einige wenige Zitate als Kostproben die Beurteilung ersetzen und die Bewertung dem Leser überlassen: "Madame Hensel hingegen bekam mehrmals seine (Lessings) spitze Zunge zu spüren." "Reinhardt begeisterte sich dafür, den Menschen als Masse auf die Bühne zu bringen." "In Jessens Arbeit ist der Übergang von Kunst, Theorie und Kunstvermittlung fließend und wird als zusammengehörig begriffen." Der fließende Übergang?

Und jetzt bitte die Lücken schließen

Wenn Deutsch-Schreiner behauptet, dass es Frauen als Dramaturginnen "erst seit den 1970er-Jahren" gebe, prolongiert sie die Missachtung von Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau, Käthe Rülicke und Isot Kilian, auf die sie in ihrem zweiten Brecht-Kapitel mit guten Gründen hinweist. Dass aus Mendelssohn ein Mendelsohn, aus dem Rütli ein Rüthli, aus Reinhardt ein Reinhard wird, wollen wir als lässliche Sünden registrieren und auf das Konto des Lektorats verrechnen.
Mit ihrem Buch füllt Deutsch-Schreiner einen weißen Fleck der Theaterliteratur inmitten von Schauspieler- und auch Regisseursmonographien. Jetzt kommt es darauf an, die immer noch zahlreichen Lücken zu schließen, die sie offen gelassen hat.

 

Evelyn Deutsch-Schreiner:
Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart
Böhlau, 352 Seiten, 24,99 Euro

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