The Encounter - Inspiriert vom Roman "Amazon Beaming" lässt Simon McBurney einen faszinierenden Regenwaldtrip als Hörerlebnis entstehen
Reise an den Anfang der Zeit
von Gabi Hift
Wien, 3. Juni 2016. Ein Kopf auf einer Stange steht grau und augenlos im Zentrum der Bühne. Noch hat es nicht begonnen, oder doch? Simon McBurney kommt und geht, linst verschmitzt unterm Rand seines Käppis hervor ins Publikum. "Wieso soll ich im Theater Kopfhörer aufsetzen?", sagt eine Dame mit Perlenohrringen indigniert. "So ein Blödsinn!" Fünf Minuten später juchzt sie beglückt: McBurney, der Menschenflüsterer, hat ihr ins Ohr geblasen. Manchen wird das rechte Ohr ganz heiß. Der Stangenkopf, den McBurney umtänzelt, mit dem er ganz intim spricht, ist der Kopf jedes Einzelnen im Saal. In den Gehörgängen sitzen Mikrofone, wir hören binaural, können jedes Geräusch im Raum verorten.
"Theater ist das, was im Kopf der Zuschauer stattfindet", das galt für all die überraschenden und völlig unterschiedlichen Produktionen, die McBurneys "Théatre de complicité" in den letzten dreißig Jahren gezeigt hat. Diesmal ist die Frage, wie das geht, wie das Theater in den Köpfen kreiert wird, selbst Teil der Geschichte.
Den Amazonas im Gehörgang
Wir reisen in den Amazonas-Regenwald, sitzen in der Nacht an einem knisternden Feuer. Dann öffnen wir die Augen und sehen, dass das Knistern von einer Chipstüte herrührt. Wem wird das Hirn glauben, dem Auge oder dem Ohr? Überraschender Weise siegt das Feuer, warum? Weil wir es selbst aus Erinnerungen an all die Feuer, die wir erlebt haben, zusammenphantasieren, es ist ganz und gar unser eigenes, es hat die größere emotionale Überzeugungskraft.
Menschenflüsterer Simon McBurney in "The Encounter" © Robbie Jack
In den Dschungel des Gehirns reisen wir auf den Spuren des Fotografen Loren McIntyre. 1969 stößt er bei der Suche nach der wahren Quelle des Amazonas auf drei Mayoruna, Mitglieder eines Stammes, der noch nie in Kontakt mit der Zivilisation war. Er folgt ihnen fasziniert, verliert die Orientierung und kann nicht zurück. Einen Monat lebt er bei den mysteriösen Katzenmenschen, dabei gerät sein Weltbild völlig aus den Fugen. Nach seiner Rettung spricht er zwanzig Jahre lang nicht über seine Erlebnisse, aus Angst, für verrückt gehalten zu werden. Erst Ende der 1980er Jahre spürt ihn der Schriftsteller Pietro Popescu auf. Dessen Roman "Amazon beaming" ist die Grundlage von McBurneys Erzählung.
Das Rätsel unserer Herkunft
So wie für McIntyre wird auch für den Zuschauer die Reise mit der Auflösung jeglicher Sicherheit immer anstrengender. Wie bei einer Achterbahnfahrt ist es zu Anfang ein großer Spaß, dann wird einem schwindlig. McIntyre ist einsam unter den Mayoruna, die seine Sprache nicht sprechen, und auch wir begreifen, dass die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, einzigartig sind, Bergwerke der Erinnerung, aber dass wir damit allein sind. Das Hirn will Vereinbarungen, aber McBurney gönnt uns keine Ruhe. Mit einem Wust von Magnetbändern, die er aus den Homevideos seiner Kindheit gezerrt hat, erraschelt er den Urwaldboden. Er ist jetzt kein sanfter Clown mehr, sondern ein Bruder von Krapp aus Samuel Becketts "Letztem Band".
"Warum bist du hier?" wird McIntyre von den Eingeborenen gefragt. Und warum kommen wir ins Theater? Um uns Geschichten zu erzählen? Das scheint das Einzige zu sein, was wir gemeinsam haben. Seit Jahrtausenden suchen Abenteurer im Dschungel nach unermesslichen Schätzen. Das können Gold und Elfenbein sein, oder aber auch die Lösung der Rätsel unserer Herkunft. Diese Suche hat eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. McIntyre fürchtet, dass die Fotos, die er von den Mayoruna macht, sie zerstören könnten. Aber auch die Mayoruna selbst sind auf einer Reise zurück an den Anfang der Zeit.
Simon McBurney auf großer Amazonas-Reise durch die Gehörgänge des Publikums in "The Encounter" © Robbie Jack
Unser Hirn soll all diese Bälle in der Luft halten. "Sag mir doch endlich, an was ich glauben soll!", ruft es in uns. Ob die Rätsel gelöst werden, darf eine Besprechung freilich nicht verraten. Ist es den Katzenmenschen gelungen, an die Quellen der Zeit zurückzukehren? Hat McIntyre eine andere Welt hinter dieser erkannt? Stehen in diesem Stück Zeit und Wahrnehmung am Ende nackt im Kopf der Zuschauer, bereit, erkannt zu werden?
Sicher ist nur, dass hier Menschen durch ihren unstillbaren Drang nach Geschichten zusammenkommen. Dass wir von uns sagen können: "Ich bin die, die Geschichten braucht, und insofern bin ich wie alle hier im Saal, wie McBurney, wie McIntyre, wie die Mayoruna." Selten gelingt es einem Stück, eine so elementare Gemeinsamkeit spürbar zu machen. Das macht "The Encounter" zu einem ebenso verstörenden wie tröstenden, zu einem existentiellen Erlebnis.
The Encounter
von Simon McBurney
nach dem Roman "Amazon Beaming" von Petru Popescu
Regie: Simon McBurney, Co-Regie: Kirsty Housley, Bühne: Michael Levine, Sound: Gareth Fry, Pete Malkin, Licht: Paul Anderson, Projektion: Will Duke, Künstlerische Mitarbeit: Jemima James, Soundoperator Helen Skiera, Ella Wahlström.
Mit: Simon McBurney.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.festwochen.at
Norbert Mayer von Die Presse (3.6.2016) ist begeistert. McBurney zaubere seine Geschichten souverän herbei – rennend, schwitzend, keuchend, brüllend. "Wie ein Wirbelwind fegt der Schauspieler über die Bühne und zündet ein Feuerwerk an Hörerlebnissen." Diese zweistündige "Begegnung", die sich auf das Hören konzentriere, aber alle Sinne und starke Empathie wecke, werde zu einem wunderbaren Erlebnis.
"McBurney streift in seinem atemlosen Parforceritt philosophische und politische Themen." Nie verliere er dabei die Balance zwischen der intellektuellen Substanz und der metaphorischen Sinnlichkeit, lobt Christina Böck in der Wiener Zeitung (5.6.2016) . "Wenn man nach der Aufführung unter den Sessel greift, um das Programm aufzuheben und sich kurz wundert, dass da ja gar keine Lianen liegen, dann hat man aufregendes, hypnotisches Theater gesehen.
Ronald Pohl vom Standard (5.6.2016) schreibt: "Die Kopfgeburt der Welt, hier passiert sie wirklich." Das Hippiezeitalter erhebe sein drogenvernebeltes Wuschelhaupt. "Den esoterischen Beigeschmack wird The Encounter, dieser furiose Bericht einer seelischen Erweckung, nie ganz los. Das Schöne dabei ist, es spielt keine Rolle." Himmel- und Höllenfahrt seien ein- und dasselbe in dieser famosen Produktion.
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Es entsteht ein sinnlicher kluger humorvoller überraschender Abend. Man sitzt sprachlos staunend wie ein Kind davor und fragt sich: Warum zur Hölle ist Theater nicht immer so?
McBurney ist - für mich! - der bedeutendste Theatermann unserer Zeit! Weil er all die zynischen Brechungen der angeblich so berserkerhaften "Auswendiglernfigur"-Despoten hinter sich gelassen hat. Dass wir wirklich nur Theater sehen, muss dieser Mann nicht unaufhörlich postulieren. Es ist die Grundverabredung!
McBurney spielt um sein Leben. Er trifft auf die Gefahren des Amazonas, indigene Völker und ihre Riten, immer wieder platzt seine Tochter ins Zimmer... Konzeptionell sieht man, wie McBurney sich einem Roman nähert, unsere Gesellschaft hinterfragend. Wenn es ein Hörspiel wäre, könnte man die Augen schließen. Das kann man aber nicht! Was der Mann da treibt, die ist zum Niederknien! Virtuos, leicht, dramatisch, beängstigend, humorvoll und und und...
Grundverabredung Theater: am Ende fragt McBurney "Warum seid ihr hier?" Klare Antwort: weil einer der größten Schauspieler mir (und ich habe den gesamten Abend den Eindruck, er meinte nur MICH!) eine Geschichte erzählt und mir die Freiheit lässt, mich dazu zu verhalten!
Und genau diese Freiheit und Selbstverantwortung, die McBurney fordert und fördert, macht ihn so unendlich unterscheidbar von all den Regisseuren, die uns ihre Weltsicht unaufgefordert ins Gesicht halten...
Danke, das Theater so schön sein kann.
Danke Simon McBurney!
Inhaltlich erzählt McBurney von einer Reise ins Herz der Finsternis. Er stieß auf den Roman „Amazon Beaming“ von Petru Petrescu, der darin von der Amazonas-Expedition des US-Amerikaners Loren McIntyre zu den Mayoruna im Jahr 1969 erzählt. Schritt für Schritt verliert er die gewohnten Hilfsmittel der Zivilisation (seine Kamera, seine Uhr). Auf sich allein zurückgeworfen, nimmt er Raum und Zeit im Dschungel ganz anders wahr. Der Abend steuert damit esoterische und schamanistische Gefilde an.
McBurney tritt immer wieder aus der Rolle heraus, streut einige Bemerkungen gegen den Brexit oder Trump ein. Vor allem unterbricht er seine Erzählung mehrfach durch einen Dialog mit seiner Tochter, die ihn bei den Aufnahmen stört, aus dem Bett krabbelt und nicht schlafen will. Auf dieser zweiten Ebene geht es um das Erzählen an und für sich.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2018/05/21/the-encounter-live-hoerspiel-ueber-amazonas-expedition/