Vergebliche Sehnsucht

von Dorothea Marcus

Recklinghausen, 4. Juni 2016. Erstmal einen Montepulciano. Oder eine Orangina, wie jene, bei der sie sich kennenlernten. Munter plaudernd wandert das verlobte Paar, Vincenzo und Ginetta, durch die Zuschauerreihen und schenkt Getränke aus. Doch was heiter beginnt, wird grausam enden. Als Viscontis große, traurige Filmlegende "Rocco und seine Brüder" mit dem umwerfend schönen Alain Delon als Rocco 1960 erstmals gezeigt wurde, warf man ihm Brutalität und Pessimismus vor. Dabei hat das ausweglose Gleichnis über eine Familie, die aus der Armut flieht und darüber zerfällt, viel Realitätsgehalt. Und ja, es ist auch eine Migrationsgeschichte. Bis zuletzt wird Rocco Sehnsucht nach den Familienwerten und Olivenhainen des Südens haben, zu denen er nie mehr zurückkehren wird.

Vorsichtige Aktualisierung

Als Simon Stone "Rocco und seine Brüder" zuletzt flapsig dramatisierte, wurde ihm die Vulgärsprache und ein "Jugendsprechwahn" vorgeworfen. Lars Ole Walburg hält sich nach den Anfangsimprovisationen dagegen recht eng an das Filmskript. Er nimmt den Stoff – den Bruderneid, die Selbstopferung – durchgehend ernst in all seiner psychologisch-biblischen Wucht. Zwar kokettiert Ginetta auch mal mit der kapitalistischen Liebestheorie von Andy Warhol, streitet sich das bürgerliche Ehepaar wie die Rohrspatzen, wer den Haushalt übernimmt – und ist der Ehemann Hausmann in Elternzeit. Doch das legt sich um die Dialoge wie eine diskrete, keineswegs aufgesetzt wirkende Aktualisierung.

Polternd brechen die schwarzgekleideten Mailand-Einwanderer in die Verlobungsfeierlichkeiten, noch trägt Mutter Rosaria die Madonna eng im Arm, später wird sie am Bett verstauben. Sogar physisch ähneln die Schauspieler den Film-Brüdern: Wie Simone sieht man Jakob Benkhofer das labil-machistische schon am runderen Gesicht und an der kräftigen Figur an. Benkhofer spielt sehr nachvollziehbar die Wohlstandsfantasien des aufstrebenen Boxers, den Macho mit Hang zum Lebemann im Pelzmantel über dem Unterhemd, der die Demütigung durch den erfolgreichen, auch moralisch perfekten Bruder nicht erträgt. Jonas Steglich ist der schmale, heilige Rocco, die Jesus- oder auch biblische Josefs-Figur, der Liebe und Leben opfert, um die Familie beieinander zu halten – man meint, Ähnlichkeiten mit Delon zu erkennen. Und auch Ciro (Marcel Zuschlag), der sich zunächst diskret und fleißig lesend meist heraushält, und der jüngste Luca (Gabriel Schlager ist noch ein Kind) ähneln italienisch dunkelhaarig den Vorbildern.

Rocco2 560 Katrin Ribbe uHier sind beide noch am Leben: Simone (Jakob Benkhofer) und Nadia (Sarah Sandeh).
© Katrin Ribbe

Die Bühne von Robert Schweer ist zunächst fast leer bis auf die Rockband A Boy Named River, deren Mitglieder Daniel Nerlich und Sandro Tajouri auch als Box-Personal mitspielen. Sie grundieren die aufgeheizte Halbwelt-Atmosphäre der Boxkämpfe mit krassen Bässen, schaffen auch stille Atmosphären, um schließlich, als Simone Roccos große Liebe, die Prostituierte Nadia, ermordet, heftigstes Death Metal rauszuknallen. Ansonsten ist es eher leer, Bett, Boxringe und Kühlschrank tauchen auf, wenn man sie braucht. Die riesige Leinwand im Hintergrund fährt zuweilen in vier Teile auf und ist dann der erhöhte Boxring. Sie bebildert in Assoziationen: einzelne Worte, Box-Scheinwerfer, zuckende Kampfbilder, Geldscheinstrudel, Wolken. Nur die Blutseen am Schluss sind dann doch etwas zu pathetisch-deutlich-übertrieben. Die Tragik der in ihren Ehrkodex verstrickten, untergehenden Familie vermittelt sich auch so.

Unterschichts-Acting

Es ist ein Schauspielerabend, auch einer der Frauen: Sarah Sandeh beherrscht als Nadia sehr schön die lasziv-pragmatische Mischung der charmanten Hure mit mädchenhafter Sehnsucht, als sie sich in Rocco verliebt. Großartig spielt sie die angewiderte, selbstzerstörerische Ehrlichkeit, mit der sie Simone mit Worten als Mensch vernichtet. In der ersten Liebesszene der beiden schlachten die beiden eine Wassermelone und stöhnen sich tierhaft inbrünstig in den Sexrausch, das Melonenwasser spritzt. Später, in ihrer zuckenden Mordszene, werden Blutfontänen spritzen. Das ist dann doch etwas zuviel Parallelführung. Auch kurz vorher übertreiben die beiden, torkeln sich betrunken an, versinken etwas zu selbstverliebt im Unterschichts-Acting.

Walburg dreht nur wenig, um den Familienverfall der Parondis als Gleichnis von Migration und Flüchtlingsfrage zu lesen. Immer wieder sieht man im gefallenen Simone auch den sexuell übergriffigen, zutiefst frustrierten angry young man, dem nach der Einwanderung Rollenbilder und hergebrachte Werte entgleiten, der sich aufplustert in Halbwelt und Kapitalismusglitzer.

Rocco1 560 Katrin Ribbe uUnscharfes Gitarrenspiel: das Ensemble des Schauspiels Hannover auf den Ruhrfestspielen.
© Katrin Ribbe

Und so gelingt Walburg, auch wenn Pathos und Deutlichkeitswille zuweilen mit ihm durchgehen, ein gleichnishafter Abend. Er nimmt den Stoff und seine psychologischen Tiefen zutiefst ernst, spannt dramaturgisch klug den Bogen des Familienuntergangs: eine archaische Welt geht verloren, auch wenn krampfhaft und verlogen versucht wird, das zu leugnen. Und er zeigt die Aktualität auf, wie sich Migrationsgeschichten wiederholen, wie Ungleichheit Neid und Gewalt produziert.

Am Schluss entpuppt sich der stets lesende Ciro als der perfekte Flüchtling: bildungs- und integrationsbeflissen ist er der einzige, der moralische Klarheit hat und aus dem Familienterror ausbricht. Schon bei Visconti war er Hoffnungsträger, bei Walburg hat er zudem den Blick aufs Große und Ganze: Im finalen Dialog mit Luca holt er zur umfassenden Globalisierungsanalyse aus. Er spricht über den Fetisch des Wachstums, für den keiner mehr eine Alternative hat. Darüber, dass Menschenströme aus dem Süden die unausweichliche Konsequenz sind. Dass wir erst den Anfang ahnen. Dem kann man nichts hinzufügen.

 

Rocco und seine Brüder
nach dem Film von Luchino Visconti, Fassung für das Schauspiel Hannover von Lars-Ole Walburg, Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen.
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Nina Gundlach, Musik/Komposition: Daniel Nerlich, A Boy Named River, Video: Darja Pilz, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Catherine Stoyan, Henning Hartmann, Jakob Benkhofer, Jonas Steglich, Marcel Zuschlag, Gabriel Schlager, Lisa Natalie Arnold, Sarah Sandeh, Andreas Schlager, Daniel Nerlich, Sandro Tajouri.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.ruhrfestspiele.dewww.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Bildsprachlich gibt es starke Momente, schön der Boxkampf und ein Melone-Essen als Beischlaf-Metapher", schreibt Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhrnachrichten (6.6.2016). "Das Ensemble spielt gut, herausragend Sandeh (mit Nina Hagen-Kodderschnauze) und der Wüterich Benkhofer als die treibende Kraft familiärer Selbstzerfleischung." Problematisch werde es, wo das Stück über Visconti hinausgehen wolle, so Brinkmann: "Dessen Subthema Landflucht und Arbeitsmigration wird im verbalen Nachklapp zum Warnruf vor Globalisierung und Konzernmacht - eine plump zeigefingernde Bedeutungs-Ansage, die sich wie ein Fremdkörper anfühlt." Formale Aktualisierung vertrage der Stoff, "thematische weniger".

Lars-Ole Walburg habe offenbar eine Verbindung zum gegenwärtigen Flüchtlingsproblem erspäht, "es dann aber halbherzig bei Anspielungen belassen", schreibt Arnold Hohmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (6.6.2016). Seine Bühnenversion orientiere sich brav an den Dialogen des Films. "Das Jahr 1960 scheint trotz Handys und Warhol-Zitaten noch immer durch", so Hohmann. Viscontis Film jedoch habe "eine zu starke Substanz für solche Blaupause". Und so würde es den Figuren "besser gehen, wenn nicht immer wieder eine Band mit hartem Rock in den Ablauf eingreifen würde. Und wenn sie nicht hin und wieder Mätzchen des Regisseurs ertragen müssten, der Sex und Tod in Rot vereint sehen möchte – mal mit roter Melone, mal mit spritzendem Blut".

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