Ein Teil der Gans - Mareike Mikat verfüttert Martin Heckmanns an die Füchse des Trash
Bouleva ... Boule-voulez-vous? Buuh!
von Ralf-Carl Langhals
Heidelberg, 18. April 2008. Selten war ich so in Rage. Aber halt! "Ich" ist unjournalistisch. Kritiker sollen ja die Konventionen wahren, um dem Kunstprozess die nötige Stille und Würde zu geben. Dabei möchte man auch gerne mal aufmucken, politisch Unkorrektes in den Saal brüllen und sich unmöglich machen – etwa mit den Worten: "Mareike Mikat sollte man bei Wasser und Brot einsperren, zehn Jahre nichts als Stanislawski und Brecht zu lesen geben, zehn weitere Jahre nur bei Peymann assistieren lassen, zehn Jahre nur Peter Steins "Wallenstein" in Dauervideoschleife vorsetzen und nach 30 Jahren allenfalls 'Peterchens Mondfahrt' mit einem Etat von 200 Euro inszenieren lassen."
Aber solche Fantasien sind natürlich unwürdig. Und trotzdem sind sie milde im Vergleich zu dem, was Mareike Mikat mit Martin Heckmanns' Stück "Ein Teil der Gans" im zwinger1 des Stadttheaters Heidelberg gemacht hat. Wellen schlug zu Beginn der Spielzeit schon die Uraufführungsinszenierung der "Gans" am Deutschen Theater Berlin durch Philipp Preuss. Das Stück sei nichts, sagten die einen, der Regisseur unfähig die anderen.
Genialisch fetter Braten für die ganze Welt
Wir erinnern uns an den Plot: Bettina (Ute Baggeröhr) und Victor (Holger Stockhaus) erwarten zum Essen Besuch, von dem sie sich einen neuen Job für Bettina versprechen. Man braucht ihn, um das Häuschen abzubezahlen. Ein dunkelhäutiger Skin geistert durch Haus und Garten, während der nette Südländer Amin (Florian Hertweck) sich mit Gattin Tara (Monika Wiedemer) in absurder Tradition zur Stimme Afrikas entwickelt:
"Sie haben Ihre Zeit gehabt. Jetzt sind andere dran," sagt Amin als Organ der verdrängten Fremdheit, die eindringt in das "klein Häuschen", um da "ein Stück vom Glück", ein Teil vom Ganzen, ein "Teil der Gans" zu fressen. Aus dem Weihnachtsfest der Liebe, dem Mantel teilenden Sankt Martin, dem Weihnachts-, Martins- und Thanksgiving-Vogel fantasiert Heckmanns einen genialischen fetten Braten für die ganze Welt – mit viel Unterhitze aber ohne Heißluft.
Mehr Yasmina Reza oder eher Bart Simpson?
Ob das Etikett Boulevardstück denn zutreffe, Kritiker Stücke lesen und Heckmanns Humor eher in Richtung Yasmina Reza oder Bart Simpson gehe, war hier und in den Uraufführungskritiken die Frage. Kritiker, die zu den 99,9% gehören, die Stücke zu 99,9% aller Fälle lesen, sind selbst schuld. Wer "Ein Teil der Gans" liest, muss sich in Heidelberg 100 Minuten grün ärgern. In ignoranter Rotznäsigkeit ist der Text lediglich eine Spielwiese für selten lustige Einfälle, Kostümwechsel, Zirkusnummern, blödes Rumschreien und Herumkaspern. Zu keiner Sekunde versucht Mikat, auch nur einen einzigen Satz in den Raum zu stellen oder gar eine Szene zuzulassen.
Jeder Wortfolge sind mindesten drei Ausstiege aus der Figur, fünf knallige Bewegungseinfälle, zwei Orts-und Motivationswechsel zugeordnet. Die Protagonisten öffnen und schließen permanent Jalousien, laufen auf Rollschuhen im Hasen- und Bärenkostüm herum, bespritzen sich mit Seifenblasen- und Wasserpistolen, machen Puppen- und Theater-auf-dem-Theater-Theater. Kurz: eine 80er Jahre-Modenschau mit Vokuhila- wie Afrolook-Perücken (Maike Storf). Hier spielt man nicht mal "einen Teil der Gans" sondern frei nach Günter Wallraff: Gans unten.
Ernst-Busch-Flohmarkt-Talentschau
Ganz unten ist mit dieser Produktion auch Heidelbergs sonst recht erfolgreiche bunte Nummern-Reihe im Studioformat. Zeigt sich doch zwei Wochen vor dem Stückemarkt, dass es niemandem in Heidelberg um Autoren geht, sondern um die übliche Ernst-Busch-Flohmarkt-Talentschau, die andere vor zehn Jahren schon besser machten. Bouleva ... Boule-voulez-vous? Eine Vorlage derart kämpferisch zu ignorieren - das muss man erst einmal hinbekommen bei einem Text, der pointenreich und rhythmisch durchkomponiert ist. Nur keine Pointe zünden, einfach drüber wegnuscheln, keine Lacher bitte, dass nur kein Boulevard aufkommt.
Dabei ist das Spiel mit den Boulevardkonstellationen (missglückte Abendgesellschaften, ungebetene Gäste, Unheil bringende Eindringlinge) und deren Mechanismen (Pointenaufbau, Treppenwitze, wechselnde Paarallianzen) von Heckmanns humorvoll und ohne jede Anbiederungsgefahr angelegt. Er dekliniert seine Idee nicht nur durch die Register Reza ("Drei Mal Leben") und Gieselmann ("Herr Kolpert"), sondern auch durch die hohe Schule Molières ("Tartuffe") und Loriots, bis er den Wohlstandsmüll mit einer absurden Note (auch Ionescos "Kahle Sängerin" und "Delirium zu zweit“ lassen grüßen) in einen etikettenfreien Raum stülpt.
Gut gebautes, aktuelles Schauspielerfutter
Stets aber – und darin liegt die Qualität des Stückes – ohne das zitierte Genre zu denunzieren. Da greint nun das ganze Land um gutgebautes Schauspielerfutter und um Nachspielchancen für aktuelle Stoffe und ist zwei Mal in Folge nicht in der Lage, den üblichen Trash bleiben zu lassen und nach einem geeigneten Umgang für Neues zu suchen. Gelacht werden darf in Heidelberg nur über lustige Regieideen. Wenn es ernst wird, und der schwarze Mann aus Afrika zum Rache- und Beutefeldzug ansetzt, lassen wir ihn unverständlich durch eine Maske quatschen.
Alles sinnfrei und willkürlich gegen den Text, der nicht im Geringsten interessiert. Mareike Mikat inszeniert Mareike Mikats lustige Ideen, die sich mit lustigen Schauspielern, sie heißen Holger Stockhaus, Ute Baggeröhr, Florian Hertweck, Monika Wiedemer und Frank Wiegand, beim Proben, besser Probieren, so ergeben haben. Dann hat die Schreierei ein Ende, es folgt ein Lied, das man nicht versteht. Aber darauf kommt es nun auch nicht mehr an.
Ein Teil der Gans
von Martin Heckmanns
Regie: Mareike Mikat, Bühne, Kostüme und Video: Maike Storf.
Mit: Holger Stockhaus, Ute Baggeröhr, Florian Hertweck, Monika Wiedemer, Frank Wiegand.
www.theaterheidelberg.de
Mehr lesen? Hier geht's zur Nachtkritik der Uraufführung von Ein Teil der Gans im Oktober 2007 am Deutschen Theater in Berlin. Und hier lesen Sie mehr über Mareike Mikat, ihre Heidelberger Antigone nämlich.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 22. April 2024 Intendanz-Trio leitet ab 2025 das Nationaltheater Weimar
- 22. April 2024 Jens Harzer wechselt 2025 nach Berlin
- 21. April 2024 Grabbe-Förderpreis an Henriette Seier
- 17. April 2024 Autor und Regisseur René Pollesch in Berlin beigesetzt
- 17. April 2024 London: Die Sieger der Olivier Awards 2024
- 17. April 2024 Dresden: Mäzen Bernhard von Loeffelholz verstorben
- 15. April 2024 Würzburg: Intendant Markus Trabusch geht
- 15. April 2024 Französischer Kulturorden für Elfriede Jelinek
neueste kommentare >
-
Besuch der alten Dame, Dresden Blutleer
-
Intendanz Weimar Österreich
-
Medienschau Alexander Scheer Mit Verlaub
-
Deutschlandmärchen, Berlin Sehenswert
-
Intendanz Weimar Empfehlung
-
Zauberberg, Weimar Zumutung
-
FIND-Eröffnung, Berlin Klares Profil
-
Kolumne Slevogt Verantwortungsgefühl
-
Medienschau Alexander Scheer Tief im Herzen
-
Theaterbrief Istanbul Aufführungszahl
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Bondy? Ich plädiere für Jan Bosse. Bei Bondy wird's womöglich zu sehr gemütlich, und gemütlich komisch ist das Stück nicht. Bei Bosse könnt's dagegen komisch und garstig werden, könnt' man vielleicht was von der Schärfe des Witzes sehen. Oder na ja. Vielleicht ist doch Stemann der richtige dafür!
Mitteilung der Redaktion: Für die Überschrift ist die Redaktion verantwortlich, nicht der Autor. Und die steht dazu.
P.S. Das Schlusslied klingt zwar wie ein Song von Peter Maffay, war aber Heroes von Bowie. Ganz gut gepasst hätte sicherlich auch "5 Minuten vor 12" von Udo Jürgens ;-)
Und Mareike Mikat kann einiges, und zwar in sehr vielen unterschiedlichen Facetten.
das bundesrepublikansche theater der 60ziger ist ja vielleicht eine lösung. folter, gehirnwäsche und demütigung ein adäquater umgang mit fremden kulturen...auch traditionell...der martin heckmanns der rbzone heißt übrigens rudi strahl und es hört sich so an als wäre in heidelberg ein teil der gans öffentlich verweigert worden.
Und an die Diskutanten, weil ihr vehementer Einsatz bestätigt, was die taz heute über Nachtkritik geschrieben hat: Hier draußen ist wirklich was los. Und das stimmt hinsichtlich der Lage der Theater mal wieder optimistisch.
falls einer von Ihnen diese Postings liest - ist es nicht eine Überlegung, "Ein Teil der Gans" online zu stellen, vielleicht sogar, falls möglich, auf dieser Seite? Geld verlieren Sie nicht, vielleicht spielen's noch ein paar Theater nach... Und jeder könnte sich ein Bild machen, worum es hier eigentlich geht.
Ich gehöre ebenfalls zu denjenigen, die ihn nicht kennen, die auch nicht die Inszenierung gesehen haben. Allerdings muss ich ganz unabhängig davon sagen, dass mich die Kritik von Herrn Langhals ziemlich erschrocken hat. Gegen streitbare Positionen, Jann Drehaas, ist ja nichts einzuwenden, aber muss man aus SOLCHEN Gründen (immerhin werden aber ja überhaupt konkrete benannt) derartig auf eine junge Regisseurin eindreschen? Sind die sprachlichen Mittel oder besser Geschütze, die hier aufgefahren werden (in der Tat sehr fragwürdige Phantasien...), dem Gegenstand der Kritik überhaupt irgendwie gerecht? Texte nicht 'adäquat' (ja, Karla, stimme dir zu: was soll das eigentlich sein?) zu inszenieren (so lautet ja die Anklage), ist doch hierzulande noch kein Kapitalverbrechen, für das man EINGESPERRT werden sollte, oder irre ich mich? Klar kann im Übereifer mal was daneben gehen. Scheitern gehört dazu, Ausprobieren auch. Vor allem, wenn irgendwann mal Kunst rauskommen soll. Aber wegsperren? Damit suggerieren Sie, Herr Langhals, dass Mareike Mikat nie und nimmer und ganz bestimmt niemals irgendeine gute Inszenierung auf die Bühne stemmen wird. Sich so viel Zukunftsvorausschau anzumaßen, ist aber wohl doch sehr vermessen.
Ich verstehe Ihr Erschrecken über Herrn Langhals Kritik durchaus und halte ebenfalls einige der geäußerten Thesen für sehr fragwürdig. Aber mit Kritik sollte jede/r Künstler/in beim Schritt in die Öffentlichkeit umgehen können. Selbiges gilt selbstverständlich auch für die Zunft der Kritiker. Die Forderung nach einer "adäquaten" Inszenierung entspringt wohl dem Wunsch, das Stück endlich als solches erkennbar auf der Bühne erleben zu dürfen, und diesem Wunsch schließe ich mich an. Denn das, was Frau Mikat hier gezeigt hat, ist nur Desinteresse an einer Auseinandersetzung mit dem (meiner Ansicht nach sehr gelungenen) Text, und das wiederum wird der Arbeit von Martin Heckmanns in keinster Weise gerecht.
Die Theaterverlage können also (a) die Texte nicht online stellen und (b) gehen die Theaterverlage nicht pleite, wenn die Autoren z.B. (siehe www.elfriedejelinek.com) dies tun würden, denn die Theaterverlage leben nicht vom Verkauf der Textvorlagen sondern von einer Beteiligung an den Tantiemen.
Dass einige Verlage trotzdem mitunter darauf bestehen, dass die Theater einen kompletten Rollensatz Textbücher kaufen hat vermutlich eher mit der Refinanzierung der (quasi vorgeschossenen) Druckkosten zu tun.
Grob vereinfacht.
(Liselotte Pulver)
wenn Sie schreiben: "Die Verlage können natürlich die Texte online stellen - eine Frage der Vereinbarung mit dem Autor, das kann man mit einer Mail regeln. Viele Verlage bieten die Texte ja auch schon zum Download an, aber eben nur an angemeldete Benutzer, z.B. Theater. Die Gründe, dass sie es nicht ganz öffentlich machen"
dann irren Sie. Im Sinne des Veröffentlichungsrechtes ist ein Theatertext veröffentlicht, wenn er aufgeführt wird, genau das steht in jedem Klappentext von Theatertexten. Das Zur-Kenntnis-Geben der Texte an Theater / Regisseure / Dramaturgen ist juristisch keine Veröffentlichung.