Alpha und Omega

von Martin Krumbholz

Recklinghausen, 9. Juni 2016. Die Offenbarung des Johannes ist ein sprachgewaltiges Stück Literatur, das man ohne weiteres dem metaphysischen Horrorgenre zuschlagen kann. 22 Kapitel, knapp zwanzig eng bedruckte Seiten in der Lutherbibel voller Fratzen, Blut, Hurerei, Teufel, Buße und Nicht-Buße, Engel und Trompeten, und über allem die Metapher der Metaphern: die große Kelter des Zorns Gottes, in der die Trauben der Erde, nachdem der Engel mit seiner scharfen Hippe (Sense) sie geerntet hat, zermanscht werden – denn sie sind reif (14. Kapitel). 

Clownerie und Widerstand

Herbert Fritsch, dieses Allroundgenie des Gegenwartstheaters, manche würden vielleicht sagen: das Alpha und das Omega des heutigen Theaters, hat den gruseligen Monolog genommen und ihn seinem Protagonisten Wolfram Koch in den Mund gelegt. Könnte man so einen gewaltigen Text auch trocken darbieten, ohne ihn mimisch oder sonst wie zu kommentieren? Man erfährt es nicht, denn Koch macht natürlich das Gegenteil, den Clown, das tolle Entertainment. Er illustriert den Text, indem er ihn verdoppelt: Er kratzt sich die Arme, verzieht den Mund, rauft sich die Haare, schwitzt, streckt die Zunge heraus und schiebt sie mit der Hand wieder in den Mund, und wenn im Text von einer "Donnerstimme" die Rede ist, donnert Kochs Stimme, was das Zeug hält. Das ist zunächst einmal hochvirtuos, aber der Text ist stark genug, Widerstand zu bieten gegen die Gefahr billiger Clownerie. Läppisch wird es nie. Und Lacher sind selten: Das Publikum ist beeindruckt. Hier ziehen mindestens vier abgründige Entertainer an einem Strang: Johannes, Luther, Fritsch und Koch.

Wolfram Koch im Höllenmeer

Fritsch selbst nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als Bühnenbildner. "Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau?", das berühmte Bild von Barnett Newman, hat jüngst schon am Zürcher Hugo-Wolf-Abend Pate gestanden. Fritsch hat sich in dieses Grundfarbenspektrum verliebt und lässt es auch hier dominieren, bis in das hautenge Harlekinskostüm hinein, das Koch am Schluss trägt, nachdem er seinen gold-grün-gelb glitzernden Entertainer-Anzug abgelegt hat. Ein gelber Lichtschacht, eingelassen in eine spiegelglatte bläuliche Grundfläche; Koch taucht anfangs aus diesem Schacht hervor und stürzt am Schluss auch wieder hinein. Eine gelbe steile Treppe, die sich spektakulär – mit dem stehenden Propheten darauf – aus dem Schnürboden senkt und in den Schacht passt. Durch Lichtfilter wird das Ganze in eine blaue Meerlandschaft mit offenem Horizont oder auch mal in ein rot glühendes Höllenmeer verwandelt.

apokalypse 560 ThomasAurin uWolfram Koch als Apokalyptiker © Thomas Aurin

Betreuter Untergang

Eine One-Man-Show, aber nur beinahe. Denn da sind noch zwei andere permanent auf der Bühne. Da ist der Musiker Ingo Günther mit seinem Mini-Synthie, seinem Mini-Xylophon und der am Bühnenrand stehenden Harfe. Und da ist die Souffleuse Elisabeth Zumpe, die in ihrem Kommunionsanzug, strenger Seitenscheitel (Kostüme: Victoria Behr), das Textbuch in der Hand, wie ein Schatten neben dem hektisch über die Bühne galoppierenden Koch agiert, vorwärts und rückwärts trippelt und den Text halblaut mitspricht, immer einen Halbsatz voraus. Ob sie gebraucht wird oder nicht: Während der Musiker sich eher diskret im Hintergrund hält, manchmal einen erschrockenen Blick ins Publikum wirft, bilden der Protagonist und seine Souffleuse ein seltsames Double: der Prophet und seine Einsagerin, der Wüterich und die im Textbuch blätternde Beistehfigur, oder wie auch immer man sie nennen will – Elisabeth Zumpe spielt wunderbar präsent mit. 

apokalypse 560a ThomasAurin uWolfram Koch, der Prophet des Untergangs © Thomas Aurin

Das Ende ist nah

"Wer Ohren hat zu hören, der höre." Der Autor der Apokalypse blickt in die Zukunft ("in der Kürze" soll es geschehen), spricht über weite Strecken aber in der Vergangenheitsform, als wäre alles schon geschehen. Der Text ist mit Zahlen gespickt, wohl über hundert Zahlen kommen auf den paar Seiten vor, vor allem die Vier und die Sieben, so bleibt nichts im Ungefähren; alle Zahlenmystik hat hier ihren Anfang. Herbert Fritsch, dem man gelegentlich einen selbstgenügsamen Ästhetizismus vorgehalten hat, war vielleicht noch nie so nah daran, eine knallharte Botschaft zu verkünden wie an diesem Abend. Vom melancholischen Hugo Wolf kommend, hat er sich mit der Donnerstimme Wolfram Kochs in die Apokalypse eingeklinkt. Die apokalyptischen Reiter sausen durch Recklinghausen und bald an die Berliner Volksbühne.

 

Apokalypse
nach der Offenbarung des Johannes
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Licht: Torsten König, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Carl Hegemann.
Mit: Wolfram Koch, Elisabeth Zumpe und Ingo Günther.
Koproduktion der Volksbühne Berlin und der Ruhrfestspiele Recklinghausen.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"Wolfram Koch fährt virtuos sein Können auf. Regisseur Herbert Fritsch, der wie immer auch sein eigener Bühnenbildner ist, setzt routiniert seine Licht- und Farbspielereien mit Spektralfarben und gestischen Brüchen dazu ein," beschreibt Dorothea Marcus den Abend in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (10.6.2016). Fritsch inszeniert aus Sicht der Kritikerin "ausnahmsweise einmal so etwas wie eine philosophische Ahnung in den Text hinein." Dennoch geht der Abend für sie nicht auf. Die Synchron-Soufflierung erlaube keine Pausen: "Rasend hetzt Wolfram Koch durch den gewaltigen Text, der so viel von seiner Wirkung verpasst". So wirke die 'Apokalypse' eher "wie eine szenische Lesung eines grandios wirkungsbewussten Schauspielers mit routinierten Regisseurs-Effekten".

Herbert Fritsch hat aus Sicht von Lucas Wiegelmann von der Tageszeitung Die Welt (10.6.2016) keinen überzeugenden Grund gefunden, "warum die Offenbarung überhaupt auf die Bühne gehört. "So viel einfallsarme Ehrfurcht vor dem heiligen Bibeltext mag Fritsch am Tag des Jüngsten Gerichts zugutekommen." Was den Abend davor bewahre, "ein richtiger Flop zu werden, ist das Wirken des großartigen Wolfram Koch". Koch "wirbelt über die Bühne wie die Monty Pythons durch das 'Leben des Brian', nur dass Koch alle Rollen selbst übernimmt, vom wahnsinnigen Gottessucher im Sandloch über die selbstgefälligen Revolutionäre der Volksfront von Judäa bis zum lispelnden Pilatus."

Aus Sicht von Michael Laages in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandradio Kultur (9.6.2016) folgt auch dieser Abend "den Regeln des Fritsch-Theaters". Kritiker-O-Ton: "Naja". 

Wolfram Koch wird aus Sicht von Bettina Jäger von den Ruhrnachrichten (10.6.2016) "zur hyperaktiven Aufsagemaschine, in die ein Bibeltext eingefüllt worden und eine Zirkusvorstellung herausgekommen ist." Die schönen Farb- und Schattenspiele der Bühne (auch Fritsch) und die Kostüme von Victoria Behr machten das nicht wett. "Weder wird die Offenbarung illustriert noch interpretiert oder verständlicher gemacht. Der Erkenntnisgewinn dieses Turbo-Bibel-Abends ist: keiner."

"Je länger diese 90 Minuten dauern, je mehr vermisst man Fallhöhe, Entwicklung und, bitte, eine Geschichte über die ermüdende Ornamentik des Urtextes hinaus," schreib Lars von der Gönna auf dem WAZ-Portal Der Westen (10.6.2016). "Wenn selbst einem Schauspieler wie Wolfram Koch (mit hoher Stirn wie Dürers Johannes-Porträt) die Farben, Ebenen, Töne knapp zu werden scheinen, dann wünschen wir mit sacht schlechtem Gewissen jenes Ende herbei, das bloß das der Vorstellung ist, nicht der Vorsehung."

Stimmen nach der Premiere der Produktion an der Volksbühne Berlin

"Starkes Deutsch" hat Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (24.6.2016) an diesem "tollen" Abend aus der Luther-Übersetzung vernommen und in allem einen triumphalen Wolfram Koch erlebt: Er "gibt den Entertainer. Den Woody Allen. Den Tartuffe. Den Teufel. Den Sportreporter und Kommentator der Engelsmannschaften – der vielköpfigen Ungeheuer, die mit der Erde und den Menschen spielen wie mit einem Ball. Johannes hat viele Jobs. Ansager, Einpeitscher, schmieriger Prediger. Mit der Sprache, mit Leib und Seele ist er Akrobat." Fritsch gehe mit den "Dimensionen der Volksbühne auf souveräne, brillante Weise um", sagt Schaper und sagt generell zur Zukunft der Volksbühne: "Was immer der Castorf-Nachfolger Chris Dercon vorhat, ohne Fritsch und Pollesch und ihre erfahrenen Schauspieler gibt es eine Implosion. Oder Apokalypse."

Fritsch habe die "apokalyptischen Offenbarungen des Johannes als Ein-Mann-Solo-Performance eines erleuchteten Deliriums inszeniert", berichtet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.6.2016). "Wolfram Koch lässt den Texten der Luther-Übersetzung ihre monströse Rätselhaftigkeit und versucht erst gar nicht, sie psychologisch realistisch auf Menschenmaß zu verkleinern oder wohlig im Schauder des Schreckens zu baden. Wie um den Text noch etwas fremder zu machen, zerdehnt und zersingt er die Vokale und verwischt kunstvoll die Konsonanten, bis die Sätze zu einer Jenseitsmelodie vom Ende der Menschheit werden." Angesichts des nahenden Endes der Intendanz Castorf an der Volksbühne bleibe Fritsch "sehr cool und souverän" und zeige: "unverwechselbares Theater".

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (24.6.2016) deutet diese "Apokalypse" vor dem Hintergrund des Offenen Briefes der Volksbühnenmitarbeiter zum Intendanzwechsel als "Kampagnen-Verlängerung". Mithin ist seine Hommage an den Regisseur Herbert Fritsch (und an diesen Abend und Protagonist Wolfram Koch, "Theatergottes ersten Stellvertreter auf den irdischen Brettern") wie ein Nachruf auf die Volksbühne Frank Castorfs angelegt: Fritschs Volksbühnen-Arbeiten "stimmen nicht nur jeden Theatergott milde, der ein bisschen bei Trost ist, sondern bestehen glänzend neben dem, was Castorf an brachialer Tiefe, René Pollesch an hipper Wachheit und Christoph Marthaler an postmelancholischem Trost liefern. Auch an diesem Abend, der ungefähr zehn Minuten länger dauert, als das Glück trägt, war der Jubel groß."

In den Augen von Ute Büsing vom Inforadio des rbb (23.6.2016) "schafft der Abend Distanz zur biblischen Apokalypse und auch große Fremdheit gegenüber dem von Hass und Vernichtungswillen geprägten Text. Er wird letztlich veralbert. Und weil diese Attitüde gleich zu Anbeginn herrscht, erlahmt das Interesse, verpuffen all die hübschen Effekte. Was Herbert Fritsch treibt, war noch nie so leicht durchschaubar. Aber er ist halt der Prophet virtuoser Unterhaltungskunst und wird entsprechend gefeiert."

 

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