Der Schiller des deutschen Fußballs

von Dieter Stoll

Nürnberg, 10. Juni 2016. "Wir beten nicht um den Sieg, wir beten um das Spiel", sagt der Trainer beim Abschiedsbesuch in der Kabine. Es ist 1932. Der Amtsinhaber von 2016 würde diese Formulierung, so kurz nach der verpassten Aufstiegschance, vermeiden. Jenö Konrád, vor 84 Jahren zuständig für die Mannschaft mit dem Kult-Kick, wagt auch Sätze wie: "Der Ball kennt keine Hautfarbe, keine Religion." Der gebürtige Ungar mit jüdischem Glauben, ein Hoffnungsträger für den von ihm empathisch verehrten fränkischen Verein (der Hochdrucksatz "Der Club ist das Blut, das in unserem Körper wie ein Schalker Kreisel kreist" wird ihm zumindest auf der Bühne zugetraut), muss seine Familie in Sicherheit bringen. Konrád sah frühzeitig, dass man ihn "als Nachbar nicht haben" möchte. Nach zwei Niederlagen steht im Nazi-Hetzblatt "Der Stürmer", der Club gehe "am Juden zugrunde".

Anpfiff

Autor Albert Ostermaier, einst Torwart der Poeten-Nationalmannschaft, also nah am Ball, hat für sein Stück "Linke Läufer (Erster sein)" die Spur des fast Vergessenen aufgenommen. Der Nürnberger Sozialwissenschaftler Bernd Siegler sicherte sie bei der Recherche über die Club-Historie, die begeisterungsfähige Fangruppe der "Ultras" holte 2012 im Stadion mit einer Massen-Choreographie zu Konráds Ehren die Erinnerung aus der Aktenlage auf den Rasen zurück. Vier Jahre hat es gedauert, ehe daraus jetzt die Uraufführung des Auftragswerkes wurde.

Gegenpressing

Es ist eine Hommage, bei der sich der Dichter in die Gedanken des Trainers einschleicht. Regisseur Oliver D. Endreß tut gut daran, dem "Requiem" im Untertitel nicht zu trauen. Er hat von Birgit Leitzinger den Spielerkabinen-Grundriss bauen lassen, einen eigenen Mini-Planeten mit dem anmaßenden Anspruch, fürs Gute geschaffen zu sein. Umgeben von  Zuschauertribünen, auf denen das Publikum das Scheitern dieser Utopie beobachtet. Die Inszenierung stemmt sich diskret gegen die Helden-Story im Trauerrand, sie will kein Standbild schmücken.

LinkeLaeufer 560a MarionBuehrle uIm Zweikampf: Martin Bruchmann, Gerd Beyer @ Marion Buehrle

Halbzeitansprache

In drei Teilen beschwört Ostermaier den Geist des 1978 im US-amerikanischen Exil verstorbenen Sportsmannes: Auf den lyrischen Wildwuchs des fiktiven Monologs entlang an Trikots und Anekdoten der Mannschaftsmitglieder, wo Liebeserklärungen an den unzerstörbaren Club ("Wie das Gras, das sich wieder aufrichtet") auf die Einspielung von Hitlers Machtergreifungs-Rede prallen, folgt das Duell mit einem jungen Mann, der doppeldeutig "Stürmer" ist. Er repräsentiert die infamste Seite der Ideologie, war aber auch gescheiterter Spieler, der beim Eignungs-Test am Club-Gelände die Bälle in Serie über Heiner Stuhlfauths Kasten knallte. In den Wortgefechten dieser Gegner verlagert der Text seinen Schwerpunkt metaphorisch auf Kopfbälle und der vom Autor mit Bildungsguthaben arg eingemummelte Trainer, der seinen FCN als "den Schiller des deutschen Fußballs" bezeichnet (ob der FC Bayern schon Shakespeare oder noch Anzengruber war, wird nicht erörtert), lockt den foulenden Angreifer mit Brecht-Zitaten in die Abseitsfalle. Da weiß er längst, dass dieses Spiel mit Vernunft nicht zu gewinnen ist.

Angriff über den rechten Flügel

Gerd Beyer wird von einer Textlawine durch das Stück gejagt, lässt sich aber nicht begraben. Als eleganter Herr im Anzug tänzelt er nicht ohne Eitelkeit entlang an Erinnerungen, hält den (abwesenden) Spielern ihre Schwächen vor und betreibt verbalen Widerstandskampf als private Trainingseinheit. Ob das, vor allem wie  es in Ostermaiers aufploppender Variante des Jelinek-Wortspieltriebs gesagt ist, jenseits der Fiktion je unterzubringen war? Es ist kein Dokumentarspiel, es muss nicht erklärt werden. Als "Stürmer" im SA-Mantel tritt Martin Bruchmann mit funkelnden Augen und Hakenkreuz-Tätowierung an, gibt den todessüchtigen Psychopathen, der zwischen Liegestütz und Russisch Roulette den Wegweiser zum Untergang sucht. Beiden Schauspielern sieht man gebannt zu.

Verlängerung

"Jetzt gehört der Club uns", hatte der junge Mann triumphiert – und "Fußball macht frei" gerufen. Gut 20 Jahre später, 1955 in New Jersey bei einem USA-Gastspiel des FCN, begegnet der Ex-Trainer seiner unvergesslichen Liebe noch einmal – und lässt sich kein böses Wort über ihren Lebenswandel entlocken. Auch nicht  über "Führer"-Qualitäten des nachgerückten Max Morlock, der nach verlorenem Freundschaftsspiel den Gastgebern ausrichtet, in Nürnberg würde man sie "wegputzen". Konrád bleibt bei dem, was er vom Club immer erwartete: "Er muss der Erste werden." Da braucht auch der Zuschauer einen starken Glauben.

Aus! Aus! Aus!

Albert Ostermaier hat einem anderen Ex-Trainer des Clubs sein Stück, das eher zu den vizemeisterlichen gehört, gewidmet: Hans Meyer, der den Verein 2007 mit dem deutschen Pokalsieg zum bislang letzten Triumph führte, kam zur gefeierten Premiere. Kann aber sein, dass dem Autor eine andere Ehrung noch wichtiger war. Im Netz hatte ein Mitglied der Ultras über ihn zur Premiere gepostet, er sei "zwar Bayern-Fan, aber trotzdem ein kluger Kopf".

 

Linke Läufer (Erster sein)
Ein Requiem für Jenö Konrád von Albert Ostermaier
Uraufführung
Regie: Oliver D. Endreß, Bühne: Birgit Leitinger, Kostüme: Linda Siegismund, Musik: David Rimsky-Korsakow, Dramaturgie: Katja Prussas.
Mit: Gerd Beyer, Martin Bruchmann.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

Fridrich J. Bröder von der Bayerischen Staatszeitung (10.6.2016) hält den ersten Teil, die Abschiedsrede des Trainers an seine Mannschaft, für einen großen, mit antikischem Pathos vorgetragenen Monolog. Die zweite Halbzeit sei ein grandioser Rede-Zweikampf.

Für die Süddeutsche Zeitung (14.6.2016) berichtet Florian Welle aus Nürnberg: Ostermaiers Stück habe "mehr Substanz" als seine Oden zur Fußball-WM 2014, "weil er weitgehend auf Pathos verzichtet". Der Abend über Jenő Konrad kommt gut weg in dieser Kritik: "2012 huldigten die Fans des 1.FC Nürnberg Konrad in einer Stadionchoreografie. Ostermaiers Werk ist die würdige Fortsetzung dieser Hommage mit dramatischen Mitteln."

In den Nürnberger Nachrichten (11.6.2016) schreibt Regina Urban: In der spannungsvollen Inszenierung von Oliver Endreß entfalte Gerd Beyers "intensive Darstellung eine Dringlichkeit, die unter die Haut" gehe. Martin Bruchmann spiele die Figur Stürmer "beeindruckend als diabolischen Schwächling, der seine Schwäche mit Aggressivität tarnt".

In der Nürnberger Zeitung (11.6.2016) schreibt Marco Puschner: Das "Stück, dessen ernste Thematik in Zeiten von AfD und Pegida eine beklemmende Aktualität gewinnt", habe "durchaus auch heitere Seiten". Doch immer wieder kippe die Stimmung Gerd Beyers "intensives Spiel" vermittele "die Seelennöte des feinsinnigen, belesenen Konrad überzeugend". Nach dem dichten ersten Teil sei das 90-Minuten-Stück "nicht immer frei von Längen"; die "historisch überlieferten Details" würden jedoch auch hier geschickt eingebaut.

 

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