Ein Sack voller Knallfrösche

von Esther Boldt

Wiesbaden, 19. April 2008. Kommt ein Pantomime auf die Bühne. Mit einer roten Blume am Hut und weißen Wangen. Wird sofort von seinen Schauspielerkollegen als veraltetes Theatermodell identifiziert und ausgelacht, tastet sich aber weiter unbeirrt die Vierte Wand entlang – bis einer ruft: "Inspizienz! Vierte Wand deaktivieren!" Der Pausenclown verliert seinen Halt und fällt der Länge nach hin.

Er ist ein Regisseur, der seine Kraft verloren hat und zur Strafe im Körper eines Pantomimen gefangen sitzt: "Die behaupten, ich würde nur Nonsens inszenieren!" Es ist die hinreißende Szene mit Sebastian Muskalla als gescheitertem Regisseur, die man, wollte man mit Superlativen handeln, zum Höhepunkt des Abends ernennen könnte. Mit einem lachenden Auge und keinem weinenden. Ein Pantomime ist schließlich kein Pierrot.

Undurchschaubar, aber zwingend

Womöglich ist es dramaturgisch nicht klug, den Höhepunkt vorweg zu nehmen, aber wen schert das. Und lassen Herbert Fritsch und Sabrina Zwach nicht zu Beginn von "Spielbank" erstmal die Regeln brechen, damit die Anarchie ins Spiel einziehen kann? Vorher knarzten Regieanweisungen aus dem Off, fünf Schauspieler gingen unentschlossen auf der vollgemöbelten Bühne umher: "Handelt nach der Regel!" – "Sei du! Sei vor allem du!"

Dann steht eine Vase auf einem grünen Tischchen, auf dem "Casino" geschrieben ist. Die Schauspieler nähern sich ihr mit Ehrfurcht, justieren sie vorsichtig, blättern Regelwerke durch, entfernen sorgfältig Staubkörnchen und folgen einem schlichtweg undurchschaubaren, aber offensichtlich zwingenden Verhaltenscodex. Wie dies bei Regeln eben der Fall ist, deren Sinnhaftigkeit sich für Außenstehende nicht leicht erschließt. Bis Franz Nagler das Tonding einfach nimmt und zu Boden wirft, der Krug so lange zum Brunnen ging, bis er bricht: Pardauz! Das Regelwerk ist zerschmettert, jetzt kann es, endlich!, heiter und anarchisch werden.

Lauter doppelte Böden, aber sinnfrei

Mit Herbert Fritsch ist ein Altmeister des gehobenen Theaterklamauks am Staatstheater Wiesbaden zu Gast, der legendäre Castorf-Schauspieler, Filmemacher und Regisseur, und allein der Ortswechsel stimmt schon fröhlich. Wenn die Volksbühnenkultur nun in der hessischen Provinz angekommen ist, für oder gegen wen spricht das? Denn der Witz lässt sich offenbar mühelos verpflanzen, das Publikum amüsiert sich ganz prächtig. Unterstützt von einer Reihe Claqueuren, versteht sich – alles hat hier einen doppelten Boden, auch wenn er in der Regel völlig sinnfrei ist.

Denn unter jeder Spielebene kommt nur eine weitere Spielebene zum Vorschein, und so stellen sich die Schauspieler zu Beginn auch mit ihren bürgerlichen Vornamen vor – neben Nagler und Muskalla stehen Eva-Maria Damasko, Michael Birnbaum und Jörg Zirnstein auf der Bühne. Nicht immer scheinen sie sich in der Pointenkanonade zurechtzufinden, mitunter sehen sie etwas irritiert aus und verfallen dann doch für ein paar Sätze in rezitierenden Gestus. Aber man schlägt sich wacker durchs Geschütz.

Eine Absicht, aber welche?

Ge- und verwitzt wird alles, was mit Theater zu tun hat, die titelgebende Spielbank wird mit der Vasenzertrümmerung offenbar obsolet. Von ihr bleibt der grüne Filzboden. Im Übrigen tiriliert das Metatheater in Gestalt von Kabarettnummern fröhlich vor sich hin. Es reicht von der Regieeinfall-Pointe über die Inspizienten- und Dramaturgen-Pointe bis zur Dumme-Schauspieler- und Werktreue-Pointe. Ein Sack voll Knallfrösche, von denen manche nicht zünden, aber dann wird einfach der nächste herausgegriffen und auf den Bühnenboden gepfeffert: ein echter Knaller!

Dazwischen gibt’s beispielsweise einen gefühlt 20minütigen Diskurs über Judith Butlers "Gendertrouble", der sich von Schlagwort zu Schlagwort hangelt, vom Crossdressing zum hundertprozentigen Bio-Mann, der von solch erlesener Fadheit ist, dass man dahinter schon fast eine Absicht wittert. Aber welche? Und wieder klappt ein doppelter Boden ins Leere, während der Herr des Nonsens sich auf dem Heimweg wohl ins Fäustchen lacht: Nach Berlin!


Spielbank
von Herbert Fritsch und Sabrina Zwach, Uraufführung
Regie: Herbert Fritsch und Sabrina Zwach. Bühne, Video und Kostüme: Herbert Fritsch und Sabrina Zwach, Musik und Sounddesign: Timo Willecke. Mit: Eva-Maria Damasko, Michael Birnbaum, Sebastian Muskalla, Franz Nagler, Jörg Zirnstein.

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Mehr von Herbert Fritsch: seine Inszenierung von Curt Goetz' Das Haus in Montevideo am Neuen Theater Halle und der gemeinsam mit Sabrina Zwach inszenierte Abend Angst. Ein performatives Konzert über den schlechtesten Berater unserer Zeit am Berliner Theater Engelbrot.

 

Kritikenrundschau

Im Wiesbadener Tagblatt (21.4.) schreibt Brigitta Lamparth: "Das Kind im Manne will spielen. Also toben, robben, steppen die fünf [Schauspieler] über die Bühne der Wartburg." Die Zuschauer müssen Krawatten tragen, die Bühne ziert ein "skurriles Sammelsurium an Mobiliar", außerdem gibt es "diverse absonderliche Spielregeln". Was allerdings die "Drei-Sparten-Spiel-Bank" genau sei und " welche Regeln hier gelten, entzieht sich auch nach diesem Abend der Kenntnis." Regisseur Herbert Fritsch habe "typisch anarchistischen Volksbühnen-Charme von Berlin nach Wiesbaden exportiert", doch "ein großer Wurf" sei ihm nicht gelungen, obwohl "die Akteure an diesem schrägen Spiel ohne Grenzen sichtlich Spaß haben." – "’Wir haben den Kontakt zum Publikum verloren’, stellt zwischendurch einer der Schauspieler fest. Und auch, dass die Show wohl ‚aus dem Ruder gelaufen’ sei. Beides stimmt."

Gerd Klee schreibt im Wiesbadener Kurier (21.4.): Bei "Spielbank" handele es sich "eine unorthodoxe Collage, in der es von Anspielungen nur so wimmelt: Raumschiff Enterprise inklusive Bully Herbigs Parodie darauf, Casting-Shows, Fernsehdiskussionen und so weiter." Vor allem gehe es "um das Theater und seine Protagonisten selbst". Das Ensemble schreie und tobe, tolle herum und steige auf Tische, singe, tanze, erzähle Witze, zögen sich aus "und und und …". Dabei schienen die Schauspieler "den Abend zu mögen, sie treten gewaltig aufs Gaspedal", zeigten Talente, die im "normalen" Spielbetrieb sonst nicht zum Vorschein kämen. Die Versprechen von Fritsch und Zwach, der Nach-Hause-Weg der Zuschauer würde sich auf Grund der gemachten Erfahrungen labyrinthisch gestalten und die Schauspieler würden ihnen noch im Traum erscheinen, habe sich zum Glück nicht bewahrheitet.

In der Rhein-Main Ausgabe der FAZ (21.4.) schreibt Eva-Maria Magel und sie findet, kurz gesagt, den Abend dufte: "Herbert Fritsch … ist als Schauspieler und Filmemacher ein Fachmann für das abgedreht Komische, verbindet das Intellektuelle, Assoziationsreiche mit dem Bodenständigen, das Wortwitzige mit dem Körper-Kalauer." Der Abend zeige, je länger, je deutlicher, wie "sehr das Schauspielen und das Spielen einander gleichen". Das könne "lustige Aha-Erlebnisse erzeugen oder geradewegs ins Nichts führen" - doch schlügen die fünf Schauspieler "solche Funken, dass das zu Lachtränen gerührte Publikum den Bauchmuskelkater spürt: eine richtig gute Show." Die würde zwar zuweilen "lang, gar zäh" und erinnere an die Volksbühne. "Die erfrischende Radikalität aber, mit der sich die Darsteller in diese Aufgabe werfen, reißt mit. ... Von dem schillernd-komischen Abend mag nichts mehr, aber auch nichts weniger hängenbleiben als das: Wie gut, dass Schauspieler so spielen können."

Die Stimmung, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (22.4.) sei trotz Krawattenpflicht gelöst an diesem "besonders witzigen" Abend, "der nichts weiter bedeuten will", aber mit seinen Anleihen bei "Gesellschafts- und Computerspielen,  Rate-, Talk-, Casting-Shows" durchaus "an Teile des modernen Lebens" erinnerte. "Nur dass hier Aufgabe und Lösung grundsätzlich in keinem Zusammenhang stehen. Und Unkonzentration ist Pflicht. Ist das", fragt Frau von Sternburg, "nicht eigentlich sehr realistisch?" Das Ensemble zeige sich in großer Form. "Im tiefsten Quatsch bekommen wir überzeugend vorgeführt, was für einen Heidenspaß es macht, Theater zu spielen." Fritsch gelinge es, Vertrautes zu verhohnepiepeln und dabei … eine leichte Hand zu behalten. "Es bleibt dabei offen, ob Herbert Fritsch sich am Ende noch über das Stadttheater lustig macht oder nicht schon längst über die Überangestrengtheit der Avantgarde, die immer wieder eine neue Idee haben muss."

 

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