Im Sparmodus

von Christian Rakow

Berlin, 17. Juni 2016. "Das Theater spiegelt offensichtlich die Beunruhigung unserer Zeit." So sagt es Eugène Ionesco. Steht im Programmheft. Es ist so etwas wie der Obersatz seines Theaters, des Absurden Theaters. Bei aller verspielten Groteske und Paradoxie erzählte diese Kunst immer auch von den Traumata ihrer Entstehungszeit der Jahre Post-1945. Egal ob bei Ionesco oder Beckett, beim sinnfreien Stühle-Rücken oder beim Warten auf Godot und andere ausbleibende Heilsversprechen – das Absurde Theater bot der Nachkriegszeit das trostlose Plappern, das noch möglich war nach Auschwitz und Hiroshima.

Ionescos Paris-Dialog

Ein Spiegel für die "Beunruhigung der Zeit" kann dieses Theater mit seinen längst klassisch gewordenen Stücken sicher immer noch sein. Nur nicht "offensichtlich". Ein Dialog wie dieser mag in unseren von Terrorismus überschatteten Tagen sehr beklemmend klingen, wenn man ihn denn birgt: "Paris hat es nie gegeben, Schätzchen." – "Aber diese Stadt gab es doch. Sie ist zusammengestürzt, es war die Stadt der Lichter (...)". Er kann aber auch ein bloß lapidarer Wortwechsel sein. Ohne Resonanz, ohne Beunruhigung.

DieStuehle1 560 Martin Walz uFrontal aufgereiht, mit vielen Stühlen für eine unsichtbare Gesellschaft: Martin Seifert, Traute
Hoess in "Die Stühle" © Martin Walz

So ist es auf der Probebühne des Berliner Ensembles. Regisseur Sebastian Sommer, der dem Vernehmen nach im Probenhaus des BE schon für einige Fantasieschübe sorgte (siehe Hans im Glück 2014), geht Ionesco in ausgesuchter Kargheit an. Unter zig Glühbirnen, die im Stromsparmodus von der Decke hängen und Stühlen, die beizeiten herabgelassen werden, bittet er seine Protagonisten Traute Hoess und Martin Seifert zur Ionesco-Animation. Beide sind verdiente Schauspieler des BE: Hoess, prunkend mit wundervoll kantigem Humor und ebenso versiert im ironisch eingefärbten Divenfach wie im derben Hinterhof-Grollen. Seifert, ein melancholischer Ausharrer, ein Kleiner Mann par excellence, an dem das Leben vorbeirauscht wie die Laubblätter im Herbst. Das Bühnenbild hat ihnen Schauspielertheater-Ermöglicher Johannes Schütz bereitet.

Vorm Kaiser gebuckelt

Das große Lebensfinal-Resümee wollen "Der Alte" und "Die Alte" in "Die Stühle" von Ionesco (uraufgeführt 1952) ziehen. Eine Versammlung haben sie anberaumt; ein Redner soll "die Botschaft" bzw. "Philosophie" des Alten verkünden und seinen Kleinbürgertraum verwirklichen, "der Nachwelt das Licht meines Geistes zu überbringen". Größen der Gesellschaft sind geladen. Selbst der Kaiser erscheint. Selbstredend nur im Kopftheater des Paares. Die Stühle, die munter platziert werden, bleiben leer. Der Redner, der letztlich eintrifft, ist ein Stammler.

Wer den Witz aus dieser Konstruktion herauskitzeln möchte, der muss die unsichtbare Gesellschaft, die sich das Paar da zurechtimaginiert, ganz konkret anspielen: die reizende Dame, den Oberst, die Überlebensgroßen, den Kaiser, vor dem man buckelt, und all die anderen. Am BE huschen sie dagegen munter drauflos; wird schon niemand genau hinschauen. Ein Handschütteln irgendwo dorthin, ein Blick schräg hierhin, gern auch geradeaus zum Publikum. Zwinker, Zwinker. Freunde sind gekommen.

Geister, die man ruft

Die Stühle werden lieblos frontal aufgereiht, man hockt nebeneinander und exekutiert Text. Nirgends ein Schatten von Anwesenheit, nirgends ein packender Moment des Geisterhaften. Schon nach zwanzig Minuten (in denen der Kritiker in der letzten Reihe vor allem damit beschäftigt ist, in der Erinnerung die Schauspieler für frühere Leistungen zu würdigen) wächst die Sehnsucht: Es ist die Sehnsucht nach den Erben Ionescos wie Forced Entertainment, die mit Abenden wie Spectacular oder Real Magic die Feier des scheinbar Sinnfreien und des abwesenden Ereignisses in Brillanz und packender Plastizität vorführen.

Längliche fünfundsiebzig Minuten nach dem Start macht Jörg Thieme als "Redner" den Deckel drauf. Er hätte vom Blatt her eine Herbert Fritsch-Figur sein können. Mit mächtigem Gemurmel. Mit Silben-Rap. Aber Thieme wedelt nur stumm mit den Armen. Und zuckt mit den Schultern.

Die Stühle
von Eugène Ionesco
Aus dem Französischen von Jacqueline und Ulrich Seelmann-Eggebert
Regie: Sebastian Sommer, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Jan Brauer, Dramaturgie: Anika Bárdos, Licht: Ulrich Eh.
Mit: Traute Hoess, Martin Seifert, Jörg Thieme.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Auch wenn nach der Postapokalypse nichts kommt, hat sie offenbar eine große Zukunft", schreibt Jan Küveler in der Welt (20.6.2016). Ionesco erfand mit seinen Stücken immerhin ein neues Theater, das absurde. Mit "Verstärkung der Wirkungen", Groteske und Karikatur "ohne Zartheit", "Rückkehr zum Unerträgliche". Im Gegensatz dazu schleppe sich die Berliner Inszenierung ein wenig, womöglich weil Sommer und seine Schauspieler Traute Hoess und Martin Seifert anstatt solchem posthumanen Rock'n'Roll "der menschelnden Melancholie den Vorzug geben". Wo Ionesco wollte, dass am Ende Türen fliegen, das Stück sich in einem Geschwindigkeitsstrudel selbst verschlinge, "geht es hier gesittet zu Ende". Fazit: "In einer Zeit wie unserer, die sich für viele präapokalyptisch anfühlt, sollte mehr drin sein."

Bei diesem in ihren Augen etwas angegrauten Ionesco-Stück "bräuchte es eine Inszenierung, die sich nicht alle Freiheiten zu einer zeitnahen Aneignung versagt", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (20.6.2016). Aber Regisseur Sebastian Sommer bleibt "ganz BE-treu und klebt eher an den Buchstaben als an dem subversiven Kern" dieser tragischen Farce. Auch "zwei so erfahrene, skurrile Schauspieler wie Traute Hoess und Martin Seifert" böten keine "glaubwürdige Vision davon, wofür die beiden Alten" bei Ionesco "heute noch bitterböse Spiegel- und Gegenbilder wären".

 

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