Protagonisten der Angst

von Falk Richter

24. Juni 2016

 

1. WAS KANN THEATER?

Diese Frage wird immer wieder gestellt. Meine Antwort lautet: Theater soll sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinandersetzen, soll sich einmischen in gesellschaftliche Diskussionen, soll auch den politischen Diskurs in einer Gesellschaft vorantreiben, Ideen liefern, aktuellen Strömungen in der Gesellschaft nachspüren und ein Diskussionsforum ermöglichen. Das Theater ist der besondere Ort, wo Menschen zusammen kommen, gemeinsam eine Inszenierung zur selben Zeit erleben und sich anschließend darüber austauschen können.

Sie wohnen einer Aufführung bei, ohne dabei gestört oder unterbrochen zu werden. Sie setzen sich für einen Zeitraum einer Inszenierung aus ohne Ablenkung: Sie können nicht, wie im Fernsehen, umschalten. Sie erfahren andere Zeitverläufe – eventuell lassen sie sich für einen Zeitraum von zehn oder gar fünfzehn Minuten eines Monologs nur auf die Gedankengänge eines Menschen ein. Das ist im heutigen Fernsehen beinahe unmöglich geworden, wo Politiker sich in bestimmten Zeittaktungen äußern müssen und selten über eine Minute dreißig sprechen dürfen. Aber es gibt komplexere Gedankengänge und Sachverhalte, die etwas längere Zeit in Anspruch nehmen, wenn man sich mit ihnen auf komplexe Art auseinandersetzen will.

FalkRichterSaarbrucken 560 JohannesBirgfeld uFalk Richter am 25. Januar 2016 in der Saarbrücker Staatsgalerie, wo er die Vorlesung hielt, deren Auszug hier in einer aktualisierten Version dokumentiert ist. © Johannes Birgfeld

Das Theater kann das liefern. Es kann, betone ich hier. Es macht es nicht immer, den Zuschauer inspirieren, Dinge mal aus einer anderen Perspektive zu sehen, aus der Sicht und der Gefühlswelt von Menschen, die ihm im echten Leben fremd sind. Der Zuschauer kann sich im Theater für Momente einfühlen in Dinge, für die er bislang kein Verständnis hatte. Er kann aber auch eintreten in eine Parallelwelt oder in Themen, die ihm aus dem Alltag, auch aus dem täglichen Medienrauschen bekannt sind, diese nochmal anders betrachten, in einem anderen Kontext, mit einer historischen Distanz. Er kann auf unsere Zeit gucken, als sei sie ihm vertraut und fremd zugleich, er kann sie als das Fremde betrachten, denn am Fremden fallen uns meist die Sachen sehr viel einfacher auf, die uns an uns selbst stören, die wir aber an uns selbst nicht thematisieren wollen. (Gewalt an Frauen z.B. diskutiert der rechtsnationale deutsche Mann lieber, wenn sie von nichtdeutschen Männern ausgeübt wird.)

 

2. ÜBERGANGSGESELLSCHAFTEN

Das große Überthema meiner letzten Stücke war die "Übergangsgesellschaft". Mich interessiert: Wie wird in Deutschland seit einigen Jahren neu über Herkunft, Nation, Zugehörigkeit, Familie, Beziehung diskutiert? Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland geworden. Allmählich verschiebt sich die Wahrnehmung darüber, wie wir "Deutschsein" definieren. Fragen von Inklusion und Exklusion werden zunehmend wichtiger: Wer ist Teil der deutschen Gesellschaft? Wie definiert man "deutsche" Werte, "deutsche" Kultur? Sind Menschen mit Migrationshintergrund vollwertige Deutsche? Oder nicht? Und wie kann ihr Leben auf der Bühne verhandelt werden?

Daran schließt die Frage an, wie eine deutsche Familie heute aussehen kann, wie Männerbilder und Frauenbilder heute in unserer Gesellschaft definiert werden. Wie unterscheiden sich die Beziehungen, die Familien, die junge Leute heute gründen, von der Ehe, die ihre Eltern ihnen vorgelebt haben? Ich sehe mich immer auch als Chronist meiner Zeit und frage: Wie verschiebt sich gerade in unserer Gesellschaft die Art zu denken, zu fühlen, zu kommunizieren? Welchen Verunsicherungen, welchen neuen Aufgaben sind Menschen in komplexen westlichen Gesellschaften ausgesetzt? Welche Sehnsüchte treiben sie an, welche Ängste? Was ist ihre Vorstellung von Glück? Wie wollen sie Beziehung leben? Wie arbeiten sie? Wie leben sie?

THOMAS und DER CHOR DER NEUEN RECHTEN | "Small Town Boy" | Update Karlsruhe Mai 2016

Deutschland ist eine offene Gesellschaft, in der vor allem in den Großstädten gesellschaftliche Vielfalt gelebte Realität ist. Faktisch gilt die traditionelle Familie nicht mehr als einzige Möglichkeit des Zusammenlebens. Die Akzeptanz von alleinerziehenden Müttern, Paaren, die Kinder aus unterschiedlichen Ehen gemeinsam großziehen und von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ist in der Gesellschaft sehr groß. Aber einige Teile der Gesellschaft fühlen sich von dieser Vielfalt bedroht, haben Angst, dass sie innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr das Zentrum bilden könnten, nicht mehr über die Deutungs- und Zuschreibungshoheit verfügen.

small town boy2 560 Felix Gruenschloss uSomewhere over the rainbow? "Small Town Boy" am Staatstheater Karlsruhe  © Felix Grünschloss

WIR WOLLEN "DIE NORM" SEIN / WIR WOLLEN UNSER LEBEN ALS DIE EINZIG GÜLTIGE LEBENSFORM BESCHREIBEN / WIR SIND DAS VOLK / WIR SIND DAS CHRISTENTUM / GOTT IST MIT UNS / VATER MUTTER KINDER / VATER MUTTER KINDER /  ALLES ANDERE IST ABARTIG IST KRANK IST NICHT "WIR" / MUSS WEG / DARF NICHT SICHTBAR SEIN / DARÜBER DARF IN DER ÖFFENTLICHKEIT NICHT POSITIV GESPROCHEN WERDEN

Seit einiger Zeit ist "der Mann" politisch wieder hart umkämpft. Reaktionäre und radikale Christen haben sich in Deutschland nach dem französischen Vorbild der Manif pour tous in der Bewegung Demo für alle und in rechtspopulistischen Parteien wie der Alternative für Deutschland und Protestströmungen wie PEGIDA zusammengeschlossen und fordern den "starken, autoritären Mann, der durchgreift und sagt, wo es langgeht". Frauen sollen nicht mehr arbeiten, sondern Zuhause bleiben und sich um ihre Kinder kümmern.

KÜMMER DICH UM DEINE KINDER / STELL KEINE FRAGEN / STELL DEN MANN NICHT IN FRAGE / STELL DIE DIR VON UNS ALS GOTT GEGEBENE ORDNUNG NICHT IN FRAGE / FÜGE DICH IN DEIN SCHICKSAL / DU BIST FRAU UND DEM MANNE UNTERTAN / DIE FRAU SOLL IN DER GEMEINDE SCHWEIGEN

Da stehen die radikalen Christen den radikalen Muslimen in nichts nach, auch, wenn sie den Islam immer als Folie missbrauchen, um sich selbst als "das Gute und einzig Richtige" zu definieren. CHRISTLICHE PATRIOTEN GEGEN EINE ISLAMISIERUNG EUROPAS Eine deutsche Familie soll mindestens drei Kinder haben, DEUTSCHE KINDER / KEINE KINDER MIT MIGRATIONSHINTERGRUND / Damit soll das Überleben des angeblich vom Aussterben bedrohten deutschen Volkes gesichert werden. WAS HEISST HIER "ANGEBLICH"?/ DAS IST DIE WAHRHEIT / WIR STERBEN AUS / WIR DEUTSCHEN STERBEN AUS / WIR CHRISTEN WERDEN VERFOLGT / DIE HOMOLOBBY HAT MACHT AN SICH GERISSEN / WER ANDERES BEHAUPTET IST TEIL DER LINKSGRÜNVERSIFFTEN JÜDISCHEN GENDERGAGALOBBY

Diffuse Ängste im Neoliberalismus

"Wir sterben bald aus", "Deutschland schafft sich ab", "Die europäischen Völker sterben aus" – mit diesen Angstformeln lassen sich bestehende diffuse Untergangs- und Abstiegsängste in einer Konkurrenzgesellschaft verstärken. Alle diffusen Ängste, die eine komplexe kapitalistische Gesellschaft, in der jeder um sein eigenes Überleben kämpfen muss, auslöst, lassen sich bündeln zu der einen Angst vor "den Fremden", oder "den Andersartigen". Der Neoliberalismus hat den Menschen zum Einzelkämpfer gemacht, der an Erfolg und Missbrauch ganz allein die Schuld trägt, er hat alle Beziehungen zwischen Menschen in Zweckbeziehungen verwandelt, ein Klima der Entsolidarisierung geschaffen, bei dem jetzt viele der Verlierer des Systems sich am rechten Rand gegen "Die Fremden", "Die Lügenpresse", "Die Politiker-Volksverräter" solidarisieren, und zusammen wieder auf die Straße gehen und dort im Ausdruck ihrer gemeinsamen Wut wieder ein "Wir" entdecken und eine "Zugehörigkeit" empfinden, die ihnen neue Kraft verleihen. Nur über "das Fremde", das sie abwehren, finden sie ein "Wir". Nur über das Fremde, können sie ihre Wut, ihr Unbehagen formulieren.

Hass gegen Lethargie

Die "Fremden" sind natürlich nicht Schuld an ihrer persönlichen als negativ empfundenen Lebenslage, aber der Hass auf das Fremde ist der Motor, der den Neurechten hilft, sich aus ihrer Lethargie zu befreien, und sich wieder als Handelnde zu entdecken. Also all das, was die Gesellschaft ihnen bislang verwehrt hat: Sich lebendig, sich als aktiver Teil der Gesellschaft zu empfinden. Der Unmut über den Umgang mit der Finanzkrise im Jahre 2008 als in einer Art "Coup d'Etat" Milliarden an Steuergeldern transferiert wurden auf die Konten der neoliberalen Eliten, sitzt tief in der Bevölkerung, konnte sich aber bislang nicht ausdrücken, keine die Gesellschaft reformierende Schlagkraft erlangen. Das Finanzsystem ist unverändert geblieben. Anhänger der finanzsystemkritischen Bewegung Occupy wurden aus der Öffentlichkeit weggeprügelt und so lange  mit Pfefferspray bearbeitet, bis sie ihren Protest aufgaben. Nun formiert sich eine neue dumpfere Art des Protest gegen "die da oben" am rechten bis rechtsextremen Rand. Und dieser Protest kanalisiert sein Unbehagen auf das bestehendes System anders. Nicht "die neoliberale Finanzelite" wird angegriffen, sondern "die Fremden". Um der Bewegung Schlagkraft zu verleihen redet man sich gegenseitig ein, bald auszusterben, und um sein Überleben zu kämpfen.

"DIE KRIEGEN ALLES UND ICH HAB NISCHT"

ABER DAS IST DOCH DIE WAHRHEIT / WIR STERBEN AUS/ ABER DIE MAINSTREAMMEDIEN DÜRFEN DARÜBER NICHT BERICHTEN / MERKEL UND DIE MAINSTREAMMEDIEN WOLLEN UNS AUSTAUSCHEN / DAS DEUTSCHE VOLK WIRD AUSGETAUSCHT / DAS IST DER MASTERPLAN / BÜRGERKRIEG / EIN VOLK OHNE WIDERSTANDSKRAFT / MANN UND FRAU WERDEN ERSETZT DURCH EIN DRITTES GESCHLECHT Alle diffusen Ängste, die eine komplexe kapitalistische Gesellschaft, in der jeder um sein eigenes Überleben kämpft, auslöst, lassen sich bündeln zu der einen Angst vor "den Fremden", oder "den Andersartigen".  DIE KRIEGEN ALLES / UND ICH HAB NISCHT / ICH HAB NISCHT / UND DIE ASYLBETRÜGER KRIEGEN IHR FÜNFGÄNGEMENÜ V0N DER MERKEL AUF NEM SILBERTABLETT SERVIERT / UND IN FÜNF JAHREN MÜSSEN WIR ZU WEIHNACHTEN IN DIE MOSCHEE RENNEN / WENN WIR DANN ÜBERHAUPT NOCH WEIHNACHTEN FEIERN DÜRFEN UND NICHT ALLE IN DER BURKA RUMRENNEN MÜSSEN / UND IN ZWEI JAHREN MÜSSEN WIR UNS SCHON RECHTFERTIGEN WENN WIR NICHT WENIGSTENS EIN BISSCHEN BI SIND

Mit der Angstfantasie, auszusterben, arbeiten sowohl rechtsnationale als auch christlich fundamentalistische Gruppen. Bei den Rechtsnationalen wird die Bedrohung anhand einer angeblichen "Überfremdung" durch "Nichtdeutsche" oder Deutsche mit Migrationshintergrund, im Regelfall aber mit einer Angst vor zu vielen Muslimen erklärt. Bei den christlichen Fundamentalisten sind es  "die Homosexuellen" und ihr Wunsch, zu heiraten, die verantwortlich gemacht werden für einen behaupteten totalen Werteverfall und einen gefürchteten Untergang der deutschen Wohlstandsgesellschaft.

Die angebliche "Homsexualisierung"

Die wieder auferstandenen Forderungen nach reaktionären Familienmustern im Sinne der 1940er und 1950er Jahre gehen immer mit einer aggressiven homophoben Haltung einher. Homosexuelle werden plötzlich beschuldigt, für "den Zerfall des gesamten christlichen Wertesystems" verantwortlich zu sein. IHR SEID DER VIRUS DER ALLES ZERSETZT / IHR SEID DER BAZILLUS DER DEN DEUTSCHEN VOLKSKÖRPER SCHWÄCHT / HÄNDE WEG VON UNSEREN KINDERN / KEINE INDOKTRINATION UND FRÜHSEXUALSIERUNG UNSERER KINDER DURCH DIE HOMOLOBBY Homosexuellen wird grundsätzlich unterstellt, pädophil zu sein. Es wird von einer angeblichen "Homosexualisierung" der Gesellschaft gesprochen, die angeblich besonders für Kinder eine gefährliche Wirkung haben soll. Homosexualität und Pädophilie werden gleichgesetzt, obwohl dies zwei völlig unterschiedliche Dinge sind. UNSERE KINDER KRIEGT IHR NICHT schreien die radikal rechten Rednerinnen dann auch regelmäßig vom Podium der "Demo für alle" und bauen an der Legende des schwulen Kinderschänders und hetzen Eltern gegen Schulbehörde und Regierung auf, weil Lehrer im Unterricht mit Schülern darüber ins Gespräch kommen wollen, dass Homosexuelle keine Untermenschen sind und auch nicht mehr als solche behandelt werden sollten UND DASS "SCHWUL" KEIN SCHIMPFWORT IST / DASS "SCHWUL" NICHT SO EIN PERVERSES DING IST DAS MAN MOBBEN UND AUF DIE FRESSE HAUEN KANN SONDERN SICH HINTER DEN HASSSPRECHBEGRIFFEN SCHWULE SAU / SCHWANZLUTSCHER / ARSCHFICKER / KINDERSCHÄNDER / EIN MENSCH VERBIRGT DER ACHTUNG VERDIENT HAT

Was denken Menschen, die sich und ihre Kinder bewaffnet mit großen KEINE DILDOSPIELE IM KINDERGARTEN / HÄNDE WEG VON UNSEREN KINDERN / KEINE ANALSPIELE IM MATHEUNTERRICHT Schildern sonntags durch die Stuttgarter Innenstadt schieben und andächtig den GROSSEN VERSCHWÖRUNGS-THEORETIKERINNEN des radikal rechten Lagers lauschen?

Wir haben uns bei der Demo für alle in Stuttgart ein bisschen umgehört:

Originalinterviews mit Teilnehmern  der homophoben "Demo für alle" in Stuttgart. Sprecherin der Schwulenhasserdemo ist Freifrau Hedwig von Beverfoerde, unterstützt wird sie dabei unter anderem von Birgit Kelle, Gabriele Kuby und Beatrix von Storch.

Gekidnappt von "Familienschützern"

In Russland hat die Regierung Putins extrem menschenverachtende Gesetze eingeführt, die bestimmte nicht abwertende Äußerungen über Homosexualität unter Strafe stellt. Im Zuge dieser Gesetzgebung kam es zu einem enormen Anstieg an Gewalttaten gegen Homosexuelle. Schwule Männer werden in Russland von Neonazis oder selbst ernannten "Familienschützern" gekidnappt und gefoltert. Auch unter Mitgliedern der Alternative für Deutschland und auf der Demo für alle sind immer wieder homophobe Töne zu vernehmen, die sich in letzter Zeit zunehmend radikalisierter ausnehmen. Homosexualität solle "nicht öffentlich ausgelebt werden", sie sollte "tabuisiert" werden, Homosexuelle sollten "Therapieangebote" erhalten, um sich "von ihrer Krankheit heilen zu lassen".  Auf der Demo für alle wurde ein Mann namens "Marcel" bejubelt, der in seiner Rede stolz verkündete, seine Homosexualität nicht auszuleben, und dies wurde dann allen nicht-heterosexuellen Menschen nahegelgt: Wer nicht heterosexuell sei, solle seine Sexualität unterdrücken.

small town boy3 560 thomas aurin u"Small Town Boy" am Berliner Maxim Gorki Theater © Thomas Aurin

In Orlando, so können wir nach dem Wissensstand von heute ausgehen, haben wir es bei dem Täter mit einem Mann zu tun, der versucht hat seine Homosexualität zu unterdrücken, der aus einer radikal religiösen Familie stammte, dessen Vater ihn seit seiner Kindheit gegen Homosexuelle indoktriniert hat, und der sich auf der Demo für alle ideologisch wunderbar zuhause gefühlt hätte. Die Demo für alle wird zum größten Teil vom radikal rechtsnationalen Teil der CDU mitgetragen, jenem Teil der CDU, dem seine eigene Partie zu "sehr nach links" gerückt ist, und der sich von der AfD besser vertreten fühlt und eine Annäherung beider Parteien betreibt. Die Demo für alle ist ein Sammelbecken für sich radikalisierende Neurechte und religiöse Fundamentalisten, die ihren Hass auf Homosexuelle und "Fremde" mit der Bibel zu begründen versuchen.

In diesen Kreisen wird auch immer wieder die angeblich erfolgreiche Familienpolitik Putins gelobt. Putin selbst hat wiederum die orthodoxe Kirche in Russland auf seiner Seite, die schon vor Jahren erklärte, dass die universellen Menschenrechte im Gegensatz zu christlicher Moral stehen. Wie sehr Hasssprech gegen Homosexuelle und die ständige Herabwürdigung von LGBT-Menschen im öffentlichen Diskurs eine Stimmung erzeugt, die jederzeit in reale brutale und tödliche Gewalt umschlagen kann, haben wir im Fall Orlando gesehen. Homophobe Attacken gibt es auch in Deutschland zuhauf. Ebenso wie es unzählige Angriffe gegen Unterkünfte für Geflüchtete gegeben hat und weiterhin gibt. Der ständige Hasssprech führt zu realer Gewalt. Am bedrohlichsten wird der Hass dann, wenn er mit Bibelzitaten, einem falschen Verständnis von Christentum oder einem falsch interpretierten Konservatismus rationalisiert wird. 

Hass als Karrierestrategie

Der Bildungsplan in Baden-Württemberg sieht vor, Schülern begreiflich zu machen, dass Hass auf Homosexuelle, Angriffe gegen Homosexuelle mit nichts zu rechtfertigen sind. Gegen diesen Bildungsplan laufen Hedwig von Beverfoerde und ihre Demo für alle Sturm. Der Nährboden, auf dem eine Tat wie die in Orlando möglich ist, wird also auch in Deutschland fleißig beackert. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und Verluste sind in diesem Fall ganz real täglich gemobbte junge Homosexuelle, oder eine hohe Selbstmordrate bei jungen Homosexuellen, die ausgegrenzt, beleidigt und angegriffen werden. Dem entgegenzutreten, bräuchte es Aufklärung in der Schule. Genau das wollen die Neurechten verhindern. Es handelt sich hierbei offenbar um tief sitzenden Hass und auch um eine politische Strategie. Denn Homophobie ist bei den Neurechten genau wie Rassismus und die Herabwürdigung kinderloser Frauen auch eine Karrierestrategie. Damit lassen sich Wählerstimmen fangen. Damit lassen sich öffentlichkeitswirksam Diskurse platzieren. Product Placement: Hass als Karrierestrategie, Hass, um die eigene Marke in den Fokus zu rücken und gut zu platzieren. kaum jemand hatte jemals von Freifrau von Beverfoerde gehört, bevor sie mit ihrer homophoben Demo für alle Karriere machte und sich nun als "Widerstandskämpferin gegen die Homosexualisierung unserer Gesellschaft" in Szene setzt.

small town boy1 560 Felix Gruenschloss u"Small Town Boy" am Staatstheater Karlsruhe © Felix Grünschloss

Die Wutrede als künstlerische Strategie

Ich frage in meinem Stück Small Town Boy: Wie kommt es zu diesem Hass, zu diesem Verlangen, die Menschenrechte für Teile der Gesellschaft außer Kraft zu setzen? Wieso wird der Wunsch einiger homosexueller Paare, zu heiraten und Kinder zu adoptieren, von diesen Reaktionären als die größte Bedrohung für die Menschheit angesehen, die es je gegeben haben soll? Und das in Zeiten, in denen die Menschheit durch die Klimakatastrophe – die übrigens von Rechtspopulisten meisten geleugnet wird (Stichwort "Klimalüge") – Trinkwasserknappheit und weltweite Flüchtlingsströme echten Problemen gegenübersteht, die sie dringend in den Griff bekommen muss, um das Überleben der menschlichen Spezies überhaupt zu garantieren.

Eine künstlerische Strategie in Small Town Boy war es, den homophoben Hasssprech nicht weiter hinzunehmen und die durch den ständigen homophoben Hassprech angestaute Wut von der Figur eines offen schwul lebenden Künstlers gegen die Hassenden zu wenden. Aufzuzeigen, wer da welche homophoben Strategien nutzt, und dann mit Furor zurückschlagen und zum Teil dieselben populistischen Mechanismen zu nutzen, die ansonsten im öffentlichen  Diskurs problemlos von den neu und altrechten Homohassern ins Feld geführt werden, die aber erst dann einem konservativen Publikum auffallen, wenn plötzlich die Vorzeichen verschoben werden.

Einige Rezensenten, die bis zur UA von Small Town Boy keinerlei Probleme mit Putins aggressiven Anti-LGBT Gesetzen hatten und sich nie beklagt hatten, wenn homosexuelles Leben ritualhaft in deutschen Talkshows abgewertet und als krank oder defizitär gelabelt wird, zeigten sich extrem verstört und entsetzt von der Rhetorik der "Wutrede" (Hier zum Text der von Thomas Wodianka in der Rolle des "Glen" gesprochenen "Wutrede" in Small Town Boy). Wie ich eingangs sagte, wirkt das Gewohnte plötzlich fremd auf dem Theater und verstört und löst dadurch Antipathien aus, denn am Fremden fallen uns meist die Sachen sehr viel einfacher auf, die uns an uns selbst stören, die wir aber an uns selbst nicht thematisieren wollen. So wurde in einigen Rezensionen oft der "Hass" der "Wutrede" beklagt, nicht aber der ständige Hasssprech, den LGBT Menschen täglich über sich ergehen lassen müssen, und der in Russland Gesetz geworden war.

 

3. "KANN THEATER DIE WELT VERÄNDERN?"

Dem Theater wird immer wieder vorgeworfen, dass es im Grunde wenig Kraft habe, dass es ja nur eine kleine Anzahl von Menschen erreichen und nicht die Welt verändern könne. Aber was heißt das schon ... "die Welt verändern" ... wann genau verändert sich die Welt ... welche Ereignisse verändern "die Welt"? Kein Theaterstück kann die Welt von heute auf morgen so einschneidend verändern wie ein Kriegsausbruch, ein Terrorangriff oder ein Börsencrash. Und doch kommt es immer wieder dazu, dass politische Kräfte versuchen, Theaterautoren zum Schweigen zu bringen aus Angst vor der Kraft, die das Theater dann doch haben kann. Die Mächtigen in Diktaturen wollen nicht, dass irgendjemand sich kritisch mit ihnen auseinandersetzt. Sie wollen, dass ihre Politik, das Unrecht und die Gewalt, die sie Menschen verbal oder physisch antun, nicht kritisch thematisiert, sondern als "normal" und als einzige legitime Möglichkeit angesehen werden, auch wenn sie hetzerisch oder verbrecherisch sind. Rassistische oder homophobe Gewalt soll im Theater gerade nicht als "das Fremde", sondern als "das Normale" gezeigt werden, besser aber noch: sie soll überhaupt nicht thematisiert werden.

Es ist auch Teil der deutschen Geschichte, dass kritische Autoren immer wieder von bestimmten politischen Gruppierungen verleumdet, verfolgt, eingesperrt, verklagt oder gar ermordet wurden. Wichtiger aber noch, als die Schriftsteller und Theaterautoren selbst zu ermorden, war es für die Mächtigen, die Werke der Autoren zu verbieten, sie zu verbrennen, sie nicht mehr aufführen zu lassen oder sie zu zensieren. Die deutsche Geschichte ist geprägt ist von einer Art Hassliebe zu ihren Autoren und Künstlern. Diese sollen sich nicht zu viel trauen, nicht zu viel kritisieren, auf keinen Fall den Adel oder die herrschenden Klassen angreifen, sich unter keinen Umständen mit diktatorischen Regimen kritisch auseinandersetzen.

 

4. GERICHTSVERFAHREN GEGEN "FEAR"

Sie haben es sicher mitbekommen in den letzten Wochen und Monaten: Auch meine Arbeit sollte zensiert und verboten werden. Auch in meinem Fall waren es zwei adlige Damen, die versucht haben, gerichtlich gegen meine Inszenierung Fear vorzugehen. Sie wollten Teile der Inszenierung verbieten lassen und Einfluss auf das Bühnenbild, die Videoeinspielungen, den Text und die Choreografie nehmen. Vorab muss ich sagen: Die Damen sind mit ihrem Anliegen gescheitert. Das Landgericht hat all ihre Vorwürfe in zweiter Instanz für unbegründet erklärt und zurückgewiesen. Vielleicht, so möchte ich denken, ist diese Bundesrepublik der beste und demokratischste Staat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat. Und mir ist im Laufe dieser Angriffe von rechtspopulistischer und auch von rechtsextremer Seite klar geworden, wie sehr es gilt, sich auf die komplexe Haltung einzulassen, als Künstler diesen Staat und seine politischen und wirtschaftlichen Akteure zu kritisieren, aber dennoch die Grundrechte dieses Staates, die Freiheit, die er garantiert, die Demokratie gegen eine neu aufkeimende völkisch-nationalistische, antidemokratische Bewegung, wie sie sich zur Zeit in Form von PEGIDA und der AfD manifestiert, zu verteidigen.

Die beiden adligen Klägerinnen waren Beatrix Amelie Ehrengard Eilika von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, Vizevorsitzende der rechtspopulistischen und teilweise offen rassistisch agierenden Partei AfD und Abgeordnete für die AfD im Europäischen Parlament, sowie Hedwig Freifrau von Beverfoerde, eine christlich fundamentalistische Anti-Feministin. Freifrau von Beverfoerde ist eng befreundet mit Beatrix von Storch, beide arbeiteten in der Vergangenheit eng zusammen und organisierten die so genannte "Demo für alle" über von Storchs Verein "Zivile Koalition". Inzwischen ist von Storch bzw. ihr Verein zwar nicht mehr an der Organisation beteiligt, jedoch verteidigt Beverfoerde – obwohl CDU-Mitglied – auf ihrer Facebook-Seite weiterhin die AfD. Immer wieder ist sie dort auch mit begeisterten Äußerungen über von Storch wie "Beatrix von Storch voll in Fahrt" oder "Go, Beatrix, GO!!" aufgefallen. Auf der Demo für alle wird gegen Aufklärungsunterricht in der Schule mobil gemacht und das Verbot der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gefordert.

Bei Podiumsveranstaltungen bemüht Beverfoerde sich immer wieder, Ängste zu schüren gegen alle Menschen, die nicht eindeutig heterosexuell empfinden. Auf ihren Demonstrationen werden Homosexuelle auf menschenverachtende und hetzerische Weise diffamiert. Immer wieder fällt in diesem Umfeld das Wort "Umerziehung". So behauptete Beverfoerde gegenüber der "Welt": "Die findet statt, wenn in Unterrichtsmaterialien die Ehe zwischen Mann und Frau als kaum mehr existent dargestellt und die Sexualität von Minderheiten bis hinein in die Mathe-Aufgaben propagiert wird." Eine Menschenrechtsaktivistengruppe kührte Beverfoerde zur "Miss Homophobia 2015" Beverfoerde gehört überdies dem Redaktionsbeirat des rechtspopulistischem Blogs "freiewelt.net" an, eine Art Hofberichterstattungsorgan der AfD, als dessen Herausgeber der Ehemann von Beatrix von Storch fungiert.

Fear1 560 Arno Declair uDie Nazi-Zombies sind wieder da: "Fear" an der Berliner Schaubühne © Arno Declair

Auch heute ist es in Diktaturen gang und gäbe, dass kritische Autoren und Künstler unterdrückt, zensiert werden. In der demokratischen Bundesrepublik Deutschland werden hingegen höchst selten Versuche unternommen, per Gericht Theateraufführungen verbieten zu lassen. Der Vorstoß der adligen AfD-Vorsitzenden Beatrix von Storch und der adligen "Demo für Alle"-Initiatorin sind eine Seltenheit. Dieser Fall ist deshalb ein Präzedenzfall.
Die Vorwürfe gegen mein Stück waren teilweise völlig abstrus, hanebüchen, konstruiert und abwegig. Wichtig ist, dass diesen meiner Meinung nach vollkommen haltlosen Klagen, die dann ja auch in allen Punkten gerichtlich zurückgewiesen wurden, eine größere Kampagne vorausging, die mich und mein Stück diskreditieren sollten – vor allem aber so schnell wie möglich vom Thema meines Stückes FEAR ablenken sollten.

Hass schüren zwecks Machtgewinn

In FEAR richte ich den Scheinwerfer auf die bis zum Zeitpunkt der Premiere weitgehend im Dunkeln agierenden Protagonisten der Angst. Rechtspopulisten, die die teilweise berechtigten Ängste einer Bevölkerung angesichts großer gesellschaftlicher und geopolitischer Veränderungen offenbar schüren, sie z.T. bis in paranoide Wahnvorstellungen hinein vergrößern, sie mit falschen Tatsachenbehauptungen anreichern und so ihre eigene politische Karriere, ihre Macht vergrößern. Rechtspopulismus funktioniert als politische Karrierestrategie fast immer in Krisenzeiten. Hass auf Ausländer, Hass auf Schwule, Hass auf kritische Künstler und Hass auf Arbeitslose lassen sich problemlos schüren in einer Gesellschaft, die sich im Ausnahmezustand befindet, die verunsichert ist, in der wirtschaftliche Abstiegsängste in fast allen Teilen der Bevölkerung für schlaflose Nächte sorgen.

Unser System und die Art wie unsere Wirtschaft funktioniert sorgen für Verunsicherung, setzen Ängste frei. Und die Art, wie wir regiert werden, ist für viele Menschen völlig undurchsichtig. Wie werden in einer ausdifferenzierten, globalisierten und offenen Gesellschaft politische Kompromisse ausgehandelt? Wie kommen in der komplexen Demokratie, die der Politologe Colin Crouch als "Post-Demokratie" beschreibt, Entscheidungen zustande? Wer steigt da durch? Wer könnte genau darlegen, von wem die Bürger einer europäischen Demokratie genau regiert werden? Von Berlin? Brüssel? Lobbyistengruppen? Sachzwängen? Den Gesetzen der Marktwirtschaft? Der Börse? Wie werden komplexe Entscheidungen in einer globalen Marktwirtschaftsdemokratie gefällt? Wer weiß das schon noch so genau? Deshalb sind viele verunsicherte Menschen dankbar, wenn ihnen eine "Alternative für ein zu komplexes Deutschland" angeboten wird, ein einfaches, überschaubares Deutschland, in dem alles irgendwie einfach und gut ist und alles Bedrohliche entfernt wird, so dass wieder Ruhe einkehrt. Das sind Wunschbilder. Getrieben von einer verständlichen Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion.

Fear2 560 Arno Declair uHipster in der Defensive: "Fear" an der Berliner Schaubühne © Arno Declair

Das Unbehagen an der Komplexität der Welt, das Unbehagen an der eigenen Machtlosigkeit gegenüber Prozessen, die niemand mehr genau durchblicken kann, zieht eine diffuse Wut nach sich, die sich von geschickter Seite kanalisieren und für die eigenen Karrierestrategien missbrauchen lassen kann. Dazu gehört es, Menschen dazu zu bringen, ohne Gewissensbisse, alles Negative, alles Gefährliche alles Bedrohliche auf ein äußeres Fremdes zu projizieren: "die Flüchtlinge", "die Schwulen", "die emanzipierten linken Frauen", die, wie es im Umfeld der AfD so schön heißt, die "linksgrünversiffte Gesinnungsdiktatur". Diese hässliche Drecksarbeit übernehmen Leute wie Beatrix von Storch und Hedwig von Beverfoerde und treiben damit ihre eigenen politischen Karrieren, die bis vor einiger Zeit recht erfolglos vor sich hindämmerten, mit Vollgas voran und die deutsche Gesellschaft mit aller Kraft in ein Klima der Angst und Hetze, in dem seit Ankunft der ersten Syrienflüchtlinge 2015 über 1000 Asylbewerber- und Flüchtlingsheime angegriffen wurden, Journalisten attackiert wurden und eine Bürgermeisterkandidatin in Köln beinahe ermordet wurde.

Die Renaissance nazistischer Scheinargumente

Es geht also um Macht innerhalb heutiger Demokratien. So wie auch die HBO Serie HOUSE OF CARDS sich mit den Machenschaften der um Macht und Einfluss ringenden Politprofis auseinandersetzt. So wie auch Shakespeare die oftmals dunklen Machenschaften seiner um Macht und Einfluss kämpfenden Höflinge beschreibt. Ebenso zeige ich in FEAR junge Menschen, die versuchen zu verstehen, wer die neuen Protagonisten des Dunkeldeutschlands sind, eines Deutschlands, das von Angst, Hass, Diffamierung und Hetze gekennzeichnet ist, und von einem Denken, das sich bisweilen sogar der totgeglaubten Scheinargumente des Nationalsozialismus bedient.

Inspiration für mein Stück war unter anderem Shakespeares RICHARD DER DRITTE – der hässliche, nach Macht strebende, seelisch und körperlich verkrüppelte Mann, der sich der übelsten dunkelsten Strategien bedient und über Leichen geht, um ans Ziel zu kommen: Macht und Einfluss bei Hofe. Diese Figur des hässlichen, bösartigen Richard habe ich übertragen auf die mit sehr hässlichen politischen Hassstrategien wie Rassismus und Homophobie operierenden Führungsfiguren der neuen rechtsnationalen Gruppierungen, also den mit hässlichen und dunklen unlauteren politischen Strategien operierenden und nach Macht strebenden Rechtspopulisten Beatrix von Storch, Björn Höcke, Frauke Petry, Hedwig von Beverfoerde und Birgit Kelle.

Probentrailer "Fear" © Silke Briel

Es geht in meinem Stück FEAR um die Angst angesichts der großen gesellschaftlichen Veränderungen. Fast jeden in unserer Gesellschaft beschäftigen diese Themen: Ist Europa noch ein sicherer Kontinent? Wird die Integration der Flüchtlinge gelingen? Wird sich das politische Klima in Deutschland verschärfen? Wird es zu Unruhen kommen? Wie wird es mit der Europäischen Union weitergehen? Werden die Regierungen der europäischen Staaten weiter auseinanderdriften? Wird es zu einer Spaltung der Union kommen? Gibt es konstruktive Konzepte für eine reformierte oder gar gänzlich neue Europäische Union?

Der drohende Systemabsturz

Es geht aber auch um die Frage, ob die Wiedervereinigung tatsächlich so reibungslos verlaufen ist, wie es sich die CDU West 1989 erträumt hat, oder ob wir nicht jetzt sehen, dass weite Teile der Bevölkerung sich in keiner Weise in eine offene komplexe demokratische Gesellschaft integriert fühlen, sondern eine Parallelgesellschaft aufgebaut haben, die vor allem im Netz agiert – mit eigenen Presseorganen ("Junge Freiheit", "Compact", "sezession.de", "Kopp Online" und anderen rechtspopulistischen bzw. radikal rechten Blogs und Foren), ihren eigenen Protestveranstaltungen (PEGIDA, HOGESA, DEMO FÜR ALLE) und einer eigenen politischen Anschauung und Weltsicht, die nicht mehr mit der großen Mehrheit der demokratischen Gesellschaft kommunizieren kann, da sich Sprache und Denken so weit unterscheiden, als handle es sich hier um nicht mehr kompatible Computersysteme, die keine Informationen mehr untereinander austauschen können, ohne dass es zum Kurzschluss oder Systemabsturz kommt.

Trailer – Landschaften aus "Fear" © Carsten Woike

5. THEATER ALS ORT DER SPRACHE

Das Theater ist der Ort der Sprache. Hier wird Sprache untersucht und analysiert. Eine Sprache wird abgesucht auf das Denken, das durch sie zum Ausdruck kommt und auf die Ideologie, die durch sie  transportiert wird.
Wer benutzt welche Worte, um welche Ziele zu erreichen?
Was sagt die Sprache und die Wortwahl eines Menschen, einer fiktiven Figur über diese Figur aus? Über ihr Denken, ihren Hintergrund, ihr Weltbild, ihr Menschenbild , ihre wahren Absichten?

In meinem Stückezyklus DAS SYSTEM, realisiert 2004 an der Berliner Schaubühne, habe ich die Sprache der Unternehmensberater analysiert und auf die Bühne gebracht. (Hier zum Text.)

Diese Beratergespräche sind Dokumentartexte, keine fiktiven Texte. Auch wenn oft davon ausgegangen wurde, dass dies eine Überhöhung, eine Zuspitzung sei. Diese Gespräche sind Abschriften des Dokumentarfilms "Grow or Go" von Marc Bauder, der mir für meine Arbeit an UNTER EIS sein Material zur Verfügung gestellt hatte. Die Sprache verweist auf ein Denken, auf ein dahinter sichtbar werdenden Menschenbild.

In FEAR habe ich mich mit der Sprache und dem Denken der neuen rechtsnationalen Parteien auseinandergesetzt. Warum? Als ich 2002 und 2003 an Unter Eis arbeitete, hatte ich den Eindruck, dass sich mit den Beratern und ihrer Effizienzideologie eine neue Machtelite mit einem neuen Herrschaftsdenken formiert, das unsere Gesellschaft auf lange Zeit grundlegend verändern will. Mein Stück Unter Eis zeigt, wie mit Hilfe einer konstruierten, an eine Art neumodisches Latein erinnernden Sprache Herrschaft ausgeübt werden kann. Genau wie das Latein in der katholischen Kirche dazu diente, nicht von jedem verstanden zu werden, dient das technokratische, eindrucksvoll mit überflüssigen Anglizismen aufgeblasene Effizienzneusprech dazu, ein Herrschaftswissen zu simulieren und zu transportieren: Nur derjenige, der diese Sprache beherrscht, so erscheint es zunächst, weiß, wie man auf dem Weltmarkt Oberwasser behält, kann Firmen und Parteien umstrukturieren, ganze Staaten verschlanken.

Sprachanalyse und Sprachkritik

Bis zum Finanzcrash 2008 wurde die Effizienzideologie und die Vorstellung, dass Spekulation, Hedge Fonds und die Gier, unendlichen Gewinn aus allem und jedem rauszuschlagen, völlig ungefährlich und legitim seien – weitgehend unkritisch als gesellschaftlicher Konsens anerkannt. Durch die Sprachanalyse und Sprachkritik, die das Theater gegenüber neuen Herrschaftssprachen, Diskursen und Jargons leisten kann, kann es die durch die Sprache selbst maskierte Absicht des Sprechenden ans Licht holen, erkennbar machen, welches Denken, welches Menschenbild, welche Politik, welche Herrschaftsansprüche und welche Gewalt hinter den Masken der Sprache liegen und durch sie zum Ausdruck kommen. Und herausarbeiten, was diese Sprache beim Rezipienten auslösen soll.

Meine Frage ist heute: Welche Sprache sprechen diese neuen rechten völkischen Bewegungen? Diese Sprache untersuche ich in FEAR. Wie sprechen die Mitläufer dieser neuen antidemokratischen Bewegung und wie sprechen ihre Vordenker?

Sie sagen:
"Lügenpresse" statt Medien,
"linksgrün versiffte Gesinnungsdiktatur" statt Demokratie,
"Gutmensch" statt hilfsbereiter Mensch,
"Gutmenschentum" statt der Einstellung, offen hilfsbereit und vorurteilsfrei auf andere Menschen egal welcher Hautfarbe Religion oder sexuellen Disposition zuzugehen,
"Invasoren" statt Flüchtende,
"arabische" und "südafrikanische Sextouristen" statt Flüchtende,
sogar "Wanderer" statt "Geflüchtete" habe ich schon gehört
"Asylbetrüger" statt Flüchtende oder Asylsuchende,
"Altparteien", "Altparteienkartell" statt etablierte Parteien
"Bundesdikatorin" statt Bundeskanzlerin Merkel

Immer geht es hier um eine Abwertung des anderen. Er soll sprachlich abgewertet werden, damit er später auch real abgewertet werden kann.

Der Flüchtende soll mit dem PEGIDA-Sprech als "Invasor", also als kriegerischer Eroberer und aggressiver Eindringling beschrieben werden, gegen den ein guter rechtsnationaler Deutscher sich zur Wehr setzen muss, den er bekämpfen muss. Damit wird einfach die Tatsache in ihr Gegenteil verkehrt, dass es zunächst einmal Flüchtende aus Kriegsgebieten sind, die sich in ein sicheres Landhineinretten, um ihr Überleben zu sichern. Diejenigen, die den Rednern von PEGIDA und der Neuen Rechten und der AfD  zuhören, lernen: Wir müssen uns wehren, müssen "Widerstand" leisten. Vordenker der Neuen Rechten rufen beispielsweise explizit zu Busblockaden vor Flüchtlingsheimen auf und propagieren, Strom- und Heizungsleitungen zu diesem zu kappen.

Distanzieren und aufhetzen

Von Gewaltakten, die über solche Sabotageaktionen hinausgehen, distanziert man sich seitens der Neuen Rechten, Pegida und der AfD zwar, namentlich von Angriffen auf Flüchtlingsheimen. Jedoch schafft die radikale Rhetorik ein gesellschaftliches Klima, in dem einzelne Menschen aufgehetzt werden, dass sie zur Tat schreiten und dann das Anzünden eines  Flüchtlingsheims für eine legitimen Art halten, sich gegen die "Angreifer" zur Wehr zu setzen. Fremde auf der Straße zusammenzuschlagen, kann dann von Leuten, die sich radikalisiert haben, mit dem gleichen Argument gerechtfertigt werden: "Wir Deutschen" befinden uns im Krieg, wir wurden angegriffen – das legt der Ausdruck "Invasoren" nahe – und daher nehmen wir uns alles Recht der Welt, uns zu wehren, egal mit welchen Mitteln. Das wäre dann eine mögliche Art, diese Begriffe auszulegen.

Der Begriff "Lügenpresse", der bereits von den Nationalsozialisten benutzt wurde, erfüllt einen ähnlichen Zweck. Jedwede Kritik kann mit seiner Hilfe zurückgewiesen werden. Etwas weicher klingende Ausdrücke, die aber dasselbe Feindbild pflegen sind "Pinocchio-Presse" (Frauke Petry“) und "Lückenpresse" (Björn Höcke). Die rechtspopulistische Szene –  PEGIDA, AfD, Demo für alle – hat ihre eigene Parallelpresse – es gibt Unmengen an rechtsnationalen Blogs, auf denen ausschließlich dieses PEGIDA/AfD-Sprech genutzt wird, meist, um ein wahnhaftes von Verschwörungstheorien aufgeladenes Weltbild zu propagieren, das gegen rationale Argumente resistent ist. Die Logik ist dabei einfach: "Lügenpresse" ist all das, was nicht meine Meinung vertritt. Alle, die nicht meiner Meinung sind, sind Lügner. Wenn man sich Artikel in manchen rechtsnationalen Blogs und Druckerzeugnissen aber einmal genauer durchliest, ist das Interessante, dass hier vollkommen unsachlich diskutiert, in hetzerischer, entwürdigender, menschenverachtender und verleumderischer Weise gegen den politischen Gegner vorgegangen und fast immer mit falschen Tatsachenbehauptungen operiert wird.

Menschen, die selbst systematisch Lügen verbreiten, werfen anderen vor, zu lügen. Aus der Distanz betrachtet heißt das, die Gesellschaft spaltet sich tatsächlich in Lager, die nicht mehr miteinander kommunizieren können. Sie sprechen nicht die gleiche Sprache und sie haben keine Möglichkeiten mehr, sich konstruktiv miteinander ins Gespräch zu begeben, um Lösungen zu finden.

 

6. DENKVERWEIGERUNG oder SYSTEMSTURZ

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy beschreibt das Gerede und Geschreibe von rechtsnationalen Bewegungen als "Denkverweigerung", da hier nichts mehr auf rationalen Argumenten begründet sei. Man weigert sich zu denken, man reagiert nur noch hysterisch, und irrational. Die einfache Gedankenleistung, dass Menschen immer als singulär also als Einzelfälle, als Individuen anzusehen sind, dass Menschen, die einer Nation angehören, nicht alle gleich sind, alle gleich handeln, alle gleich denken, wird verweigert. Heutige komplexe offene europäische Gesellschaften lassen sich nicht mehr als ein "Blutsvolk" denken, das wie ein Volkskörper in die gleiche Richtung marschiert und dasselbe fordert und will. Das sind Sehnsuchtsbilder der neuen Rechten, die nur mit einem hohen Aufwand an Unrecht, Gewalt und Zwang in die Realität umsetzbar wären. Die Wirklichkeit ist komplexer. Die Verweigerung, anzuerkennen, dass aus einem Bevölkerungsanteil von 0,2 Prozent Muslimen in Sachsen keine realexistierende Islamisierung abzuleiten ist, ist nach Jean-Luc Nancy eine Denkverweigerung. Die Weigerung, anzuerkennen, dass Homosexualität keine ansteckende Krankheit ist, die sich ein Jugendlicher in der Schule zuziehen kann wie eine Grippe, wenn er erfährt, dass es neben der klassischen heterosexuellen Ehe auch Partnerschaften zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen gibt, ist nach Jean-Luc Nancy eine Denkverweigerung.

Zum Wort GESINNUNGSDIKATUR
meist kombiniert mit LINKS GRÜN VERSIFFTE

Wir leben also nach Vorstellung der Scharfmacher und ihrer Adepten in einer Gesinnungsdikatur. In ihr muss man, folgt man der Argumentation der neuen Rechten, Widerstand leisten und darf Gesetze brechen, um an sein Recht zu kommen. Man wird zum Widerstandkämpfer, wenn man sich rassistisch äußert, man sieht sich als Märtyrer, wenn man gegen die schwule Ehe wettert. Man inszeniert sich als Opfer und Verfolgten – verfolgt durch die Medien, die Mehrheit, die einen kritisiert, wenn man andere Menschen herabwürdigt und zu Gewalt aufruft. Die neuen Rechten sehen sich selbst als Unterdrückte, als Opfer einer Diktatur. Auf diese Weise entsteht eine neue Sprache, die vor allem eines bewirkt: Sich selbst als Opfer zu stilisieren: "Wir sind Angegriffene von den Invasoren! Wenn wir Straftaten begehen, so ist das Notwehr! Wir wurden zuerst angegriffen!" Und auch diejenigen, die dann sogar Heime anzünden, sehen sich einer Notwehrlage ausgesetzt.

Die ständige Nutzung des Begriffs "Lügenpresse" durch PEGIDA bzw. "Lückenpresse" durch die AfD hat nun auch dazu geführt, dass PEGIDA-Teilnehmer immer aggressiver gegen Journalisten vorgehen, sie attackieren, ihnen die Kamera ins Gesicht schlagen. Auch bei einer AfD-Demo in Magdeburg wurden Journalisten angegriffen. Die Täter können sich im Recht fühlen, denn die Sprache, die ihnen beigebracht wurde von Lutz Bachmann und Frauke Petry kann ihnen das Selbstverständnis geben, dass sie immer Opfer der Lügenpresse sind, dass immer falsch über sie berichtet wurde, dass die anderen Lügner sind. Und auf Lügner darf man, so können sie es sich dann weiter zurechtlegen, einschlagen. All ihr Handeln können sie als Notwehr, als Widerstand auslegen.

 

7. KEINE KUNSTFREIHEIT

Kunstfreiheit ist das erste, was dran glauben muss, wenn sich ein Staat in rechtsnationaler Richtung bewegt. Wir sehen das in Polen und Ungarn. In Ungarn wurden die jüdischen und die homosexuellen Theaterintendanten sofort entlassen, da sie angeblich keine Theaterkunst im Sinne einer Erhaltung der nationalen Identität betreiben. Schauen wir uns einmal an, was die Vordenker der neuen Rechten zum Thema Theater und Kultur zu sagen haben:

Bei den Gerichtsverfahren von Beatrix von Storch und Hedwig von Beverfoerde gegen die Schaubühne ging es meinen Beobachtungen zufolge vor allem darum, sich selbst als Opfer zu inszenieren, um eine Diskussion über die eigene Verantwortlichkeit zu überlagern.

Mittlerweile sind es mehr als 1200 Flüchtlingsheime, die angegriffen wurden – eine Bürgermeisterkandidatin wurde fast ermordet – Journalisten werden tätlich angegriffen – es herrscht ein Klima der Angst in Städten wie Leipzig und Dresden, wo immer wieder randalierende Rechtsnationale durch die Straßen ziehen und Menschen attackieren.

Die rassistisch aufgeladenen menschenverachtenden Reden der Rechtsnationalen und ihre neue Sprache mit zum Zwecke der Diffamierung konstruierten Begriffe wie "Invasoren" / "Genderwahn" / "Asylbetrüger" / "Lügenpresse" hinterlassen Spuren im Denken und Handeln der Menschen. Eine Vergiftung des politischen Klimas hat stattgefunden. Sachliche Diskussionen gibt es in Internetforen praktisch nicht mehr. Das führt zu Ratlosigkeit: Wie soll man diskutieren? Ist das überhaupt noch möglich?

Die gesamte Ideologie und die gesamte politische Strategie der neuen Rechten basiert darauf, sich als Opfer darzustellen und wüste Thesen mit zum Teil falschen Tatsachenbehauptungen zu unterfüttern und beides einfach immer und immer wieder zu wiederholen.
In diesem Sinne wurde dann auch eine Serie juristisch völlig haltloser Behauptung von den beiden adligen Rechtspopulistinnen im Internet über die ihnen zugeneigten rechtspopulistischen Blogs verbreitet.

Maximale Wirkung im eigenen Interesse

Mein Stück wurde falsch zitiert. Zitate wurden völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Textstellen wurden frei erfunden, als Zitate ausgegeben und dann von den beiden Damen und ihren Netzwerkaktivisten in ihren rechtsnationalen Blogs verbreitet. Die Blogs, auf denen die beiden Damen ihre Thesen wiedergeben und sich interviewen lassen, halten es mitunter mit der journalistischen Sorgfaltspflicht nicht so genau: Da wird munter draufloskonstruiert, da werden wilde Behauptungen aufgestellt, wie es eben gerade passt, um maximale Wirkung im eigenen Interesse zu erzeugen.

Frau von Storch behauptete immer wieder, es gäbe eine Szene, in der direkt zum Mord an ihr aufgerufen und mehrfach ihre Wohnadresse genannt werde. Beides ist unwahr, diese Szene existiert nicht. Niemand ruft in dem Stück zum Mord auf, und es wird nirgendwo eine Wohnadresse genannt. Das Gericht hat das in seiner Urteilsbegründung entsprechend festgestellt. Dennoch besteht der Trick der gebürtigen Herzogin darin, eine falsche Behauptung so hartnäckig zu wiederholen, bis sie sich irgendwann einfach festgefressen hat in den Hirnen derjenigen, die ohnehin nur kurze Posts und Überschriften im Internet lesen.

Aggressive Opfer

Des weiteren greift nach dem Gerichtsverfahren, in dem alle Vorwürfe der Klägerinnen als unbegründet zurückgewiesen wurden, nun eine Art Abwandlung des kulturkämpferischen Schmähbegriffs der "Lügenpresse". In rechtsnationalen Blogs war schnell klar, hier habe das "Lügengericht" der "Gesinnungsdikatur" zugeschlagen. In den Kommentarspalten fühlte man ohnehin seine Weltsicht bestätigt, dass man als rechtskonservativer Nationenschützer in der linksgrün versifften Gesinnungsdiktatur niemals Recht bekomme und immer Opfer einer ungerechten Gerichtsbarkeit sein werde. OPFER – WICHTIG AUCH HIER – MAN HAT NICHT EINEN PROZESS VELOREN, SONDERN MAN IST OPFER DER LÜGENJUSTIZ

Dies wird dann in einigen Kommentaren weiter dahingehend ausgeführt, dass nur ein Bürgerkrieg und ein Staatsstreich endlich zu mehr Gerechtigkeit führen können. Und das ist tatsächlich etwas, das auch  neurechte Bewegungen insinuieren: Es geht um einen Systemwechsel, der herbeigeführt werden soll. In zehn Jahren will man an der Macht sein, ist etwa zu lesen. Björn Höcke bezeichnet die AfD als "letzte evolutionäre" bzw. "letzte friedliche" Chance für unser Land. Will heißen: Andernfalls folgen Revolution bzw. Bürgerkrieg.

"Welcome Wahn"

Sind wir am Vorabend einer völkischen Revolution? Marine Le Pen spricht vom "Frühling der Völker". Sie identifiziert sich mit Jeanne d'Arc und will die Franzosen aus der EU-Diktatur und dem Multikultileben befreien. Die Identitären bezeichnen sich als "Regime Change Agents", sie stürmen Aufführungen von Elfriede Jelinek "Die Schutzbefohlenen" und rufen bei ihren Störaktionen "Während Europa durch Euren Refugee Welcome Wahn ins Chaos gestürzt wurde und nun von Vergewaltigungen überzogen und Terroranschlägen erschüttert wird, macht Ihr es Euch mit Euren Neurosen und Komplexen in Eurer Parallelwelt bequem, Ihr seid Schwächlinge und Eure Zeit ist abgelaufen. Unsere Zeit ist angebrochen!"

In vielen rechten Blogs wird vom "Systemsturz" gesprochen. Die "Gesinnungsdiktatur aus den links, grün, schwarzen Altparteien" soll durch eine "echte Volksherrschaft" ersetzt werden. Sind meine Hipster aus FEAR mit ihren selbstangebauten Tomatenstauden in den Prinzessinnengärten eventuell die spätgeborenen Verwandten von Tschechows Kirschgartenbewohnern? Stehen sie kurz vor einem Regimesturz ohne es zu merken, oder ist die gesellschaftliche Stimmung gerade einfach enorm erhitzt, irrational, und radikalisiert ... und wir alle müssen hoffen, dass die Gemüter etwas runterkühlen, sich die Stimmungslage wieder etwas beruhigt und Raum schafft für rationale konstruktive Diskussionen und Versuche, ernsthaft Lösungsansätze für die wirklich drängenden Fragen unserer Zeit zu finden.  

 8. DIE GRENZEN VON FIKTION UND REALITÄT VERSCHWIMMEN

Theater kann in die Realität wirken.

Die in FEAR vorkommenden Figuren agieren weiter in der Realität. Das Stück reißt ihnen die Opfermaske vom Kopf und zeigt sie als das, was sie sind und wie sie agieren: Sie schüchtern ein, wollen verbieten. Sie wollen für die Kunst, die sie kritisiert, die Steuerzuschüsse kürzen. Weil Kirchenvertreter vor der AfD warnen, sollen sie nach dem Willen von Beatrix von Storch nicht mehr aus Steuermitteln bezahlt werden. Protagonisten aus dem Stück ziehen vor Gericht, organisieren Hetzkampagnen im Internet. Sie organisieren Online-Petitionen, zitieren bewusst oder unbewusst falsch, haben Freunde bei bestimmten Blogs und Zeitungen die bisweilen bar jeder journalistischen Sorgfaltspflicht Texte als Freundschaftsdienst schreiben.

Es wird ungemütlich im Abendland

Des Weiteren arbeiten die neuen Rechten mit einer codierten Sprache, die von ihren Anhängern sehr deutlich verstanden wird. Merkel und Gabriel sollen nach der Vorstellung mancher Pegida-Anhänger sogar am Galgen gehängt werden – es wird also Lynchjustiz als Mittel der politischen Auseinandersetzung propagiert. Der Widerspruch ist hier, dass dies von PEGIDA Anhängern kommt, die sich eigentlich gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes einsetzen wollen – was aber verstehen diese Leute bloß unter dem Abendland? Politische Gegner am Galgen aufzuhängen, ist also Teil der abendländischen Kultur im Verständnis von PEGIDA? Und diese Lynchjustizkultur wollen sie nun ausgerechnet gegen eine angebliche Islamisierung verteidigen.

Vielmehr scheint es so, dass sich PEGIDA-Anhänger in ihrem Wahn, Opfer einer imaginierten Islamisierung zu sein, immer mehr dem mutmaßlichen Feind, annähern: Sie wirken wie die deutsche Antwort auf fundamentalistische Muslime und wollen diejenigen, die nicht an ihre Weltverschwörungstheorien glauben, am Galgen erhängen. Terror und Konflikte drohen in den nächsten Jahren von mehreren Seiten – den Rechtsnationalen, den christlichen Fundamentalisten, den islamistischen Fundamentalisten, den Salafisten, organisierten Banden, die Frauen sexuell belästigen und ausrauben. Es wird also ungemütlicher für die Zivilgesellschaft.

 

Falk Richter, 1969 in Hamburg geboren, ist Regisseur und Autor. Seine Stücke, darunter "Gott ist ein DJ", "Electronic City", "Unter Eis" und "TRUST", liegen in mehr als 35 Sprachen vor. Ein Band mit neueren Theatertexten (u.a. "SMALL TOWN BOY"), ist gerade im Verlag Theater der Zeit erschienen.
Der obige Text ist ein für nachtkritik.de überarbeiteter Auszug einer Vorlesung, die Falk Richter im Januar im Rahmen der 5. Saarbrücker Poetikdozentur in Saarbrücken gehalten hat. Unter dem Titel "Disconnected. Theater Tanz Politik" werden Richters gesammelte Saarbrücker Vorlesungen im Januar 2017 im Alexander Verlag erscheinen – von Johannes Birgfeld herausgegeben und ergänzt u.a. durch einen Abdruck des Stückes "FEAR" sowie Materialien zu den juristischen Auseinandersetzungen mit rechtspopulistischen Politiker*innen, die im Frühjahr 2016 vergeblich versuchten, gerichtlich eine Absetzung bzw. Zensur von Falk Richters Inszenierung seines Stückes an der Berliner Schaubühne durchzusetzen.

www.falkrichter.com

 

Alles zu Falk Richter auf nachtkritik.de im Lexikon.

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Kommentare  
Falk Richters Vorlesung: warum Neoliberalismus?
Das, was Falk Richter hier äußert, kann man im Wesentlichen alles unterschreiben.
Ich frage mich trotzdem: WAS bitte hat das alles explizit mit Poesie zu tun?
Über Poetik spricht man doch im Zusammenhang mit Poesie. Es heißt Poetik und nicht Po-ethik. Ich weiß also nicht, was die homo-sexuelle Angstverbreitung vor dem rechten Denken als dem Fremdem literatur- und theaterwissenschaftlich soll.
Falk Richter spricht mehrfach vom Neoliberalen, das den rechten Rändern Angst mache und ihnen zu einem angenehm handelnden Wir-Gefühl verhelfen würde.
Das wirft ja Fragen auf: Was bitte ist gegen ein "Wir"-Gefühl prinzipiell einzuwenden?
Warum sagt er statt Neoliberalimus nicht, "das sich zunehmend militarisierende Kapital"? Denn was er beschreibt ist ja kein Neoliberalismus. Sondern der Kapitalismus in seiner aggresivsten imperialistischen Ausformung, die nicht einmal mehr eines großen Welt-Krieges bedarf, um das Humanum weiträumig zu zerstören.
Warum muss das beschönigt werden von ihm mit einem Begriff, der zusammengesetzt ist aus den emotional positiv ansprechenden Wörtern "neu" und "frei"?
Es gibt ja Argumente gegen diese von den Homophoben hervorgebrachten Argumenten. Es gibt aber auch Teile ihrer hysterischen Argumentationen, die man durchaus einmal ernstnehmen darf. Zum Beispiel diejenigen Argumente, die eine sexuelle Aufklärung in Schule und Kindergarten betreffen. Mit der man - ich weiß als Eltern wovon ich rede - nicht einverstanden sein kann aus sehr guten Gründen. Die ich sehr wohl klar hervorbringen kann. Die aber nicht alle Eltern, die ein Gefühl dafür haben, dass die Aufklärung, so wie sie angedacht und gemacht werden soll "nicht stimmt", nicht gut wäre für die Kinder, vernünftig kommunizieren können. Gerade ein Theatermacher sollte dabei etwas Gelassenheit aufbringen können. Wie oft passiert es, dass ein Darsteller etwas nicht zeigen kann, was der Regisseur in einem Text sieht und aus ihm zeigen will, weil "es" für ihn "nicht stimmt"! Und wie selten, kann er genau sagen, sofort, noch in der Probe, WARUM das für ihn nicht stimmt!... Der nächste Einwand gegen Ungenauigkeit bei der Gesellschaftsbetrachtung: Das Familienmodell in den 40er Jahren war durchaus kein so konservatives, wie Falk Richter es mit dem Familienmodell der "Wirtschaftswunder-Zeit" gleichsetzen will. Der Prozentsatz der alleinerziehenden Mütter war enorm hoch, viele Kinder wuchsen mit Stiefvätern auf, viele mit Versehrten, viele Kinder in Mehrgenerationen-Frauenfamilien, viele hatten Kontakt zu Flüchtlingsfamilien... Es gab ab 45 sehrsehr viele Flüchtlinge aus den polnischen und tschechoslowakischen Gebieten, die lange vor Hitler schon als deutsche Zuwanderer dort lebten und in dritter Generation nicht mehr die deutsche Sprache beherrschten. Es gab viele neue gemischte Familien...
Allein deshalb wird in Deutschland auch diese neue Zuwanderungswelle, an der eben auch Deutschland nicht unschuldig ist, bewältigt werden. Weil die Deutschen damit nämlich historische Erfahrung haben.
Weiter: Der Unterschied zu dem "Wir sind ein Volk" der ehemals Ostdeutschen zu dem "Wir sind ein Volk" der Rechten und Fremdenhasser ist eklatant. Aber ich sehe da keine Differenzierung, die vorgenommen wird durch Falk Richter. Und das grenzt die ehemals "wir"-fähigen Ostdeutschen aus seinen Zukunftsvorstellungen, derart undifferenziert sie gleich-sam als Rechte diffarmierend, aus.
Dies alles aber sollte Poesie nicht tun.
Poesie schafft ein Wir-Gefühl.
Ein sehr konkretes Gefühl von "Wir (alle!) Einzelne".
Das ist der Sinn, den Poesie stiftet oder es ist keine.
Und Poetik beschreibt möglichst exakt die Wege, auf denen die Poesie dies kanndarfsoll.
Selbstverständlich ist es skandalös, in einem Industrieland wie Deutschland eine Menschenrechtsverletzung m.E., dass es heute hier noch immer jüngere und ältere Menschen gibt, die Homosexualität für eine Krankheit halten, für eine Abnormität, die durch Askese unausgelebt bleiben oder durch mentale "Umpolung" geheilt werden soll. Das entspringt einer ungeheuren allgemein medizinischen Ungebildetheit der Bevölkerung. Der durch Sexualaufklärung gar nicht beizukommen ist, sondern vor allem durch eine anständige, religionsunabhängige und länderübergreifend evaluierbare Schulbildung.
Allerdings muss sich auch nicht jeder Homosexuelle gleich angegriffen fühlen, wenn ein Heterosexueller sagt, Homosexualität sei "unnormal". Ungebildetere Menschen verwenden den Normalitätsbegriff in der Regel für die statistische Mehrheit. Und zwar weil sie keinen anderen haben. Sie werden ja selbst ständig mit dem "Norm"-Begriff und an Statistik orientiertem Denken und Handeln konfrontiert. Nicht mit Erklärungen, woher Begriffe kommen, wofür sie wann und wo verwendet wurden und werden und wie sich das ständig wandelt... Statistisch gesehen ist Homosexualität die Sexualität der Minderzahl. Und nicht der Mehrzahl. Da führt nun einmal kein Weg vorbei an dieser Wahrheit, nicht mal der, dass es eine Philosophie gibt, die behauptet, es gebe gar kein Geschlecht oder halt gar keine Wahrheit in Wahrheit... Nur dass es Sexualität überhaupt gibt, für alle und jeden - das ist allerdings normal. So normal, dass es exemplarisch menschlich ist.
Und weiter: Mein Familienbegriff als Hetero ist genau deshalb auch nicht irgendwie konservativ, wenn er sich an der VaterMUtterKind-Familie orientiert. Er ist genauso normal, wie der Familienbegriff eines Homosexuellen, der sich eben auch - wie es dem Fortpflanzungstrieb entspricht - eine Beziehung einschließlich Kinderaufzucht wünscht. Das ist nur eine moderne, durchaus eher typisch homosexuelle, Ausrede, dass da zwangsläufig aktuell oder in Zukunft unser aller Familienbilder aufweichen müssen. Eine publizierte Ansage von Leuten, für die eine VaterMutterKind-Familie eben etwas schwieriger zu bewerkstelligen ist, vor allem anatomisch, als für Hetreosexuelle.
Und da ist über die emotionalen Bedingtheiten für Beziehungen allgemein unter den Bedingungen des Kapitals noch gar nicht erst gesprochen.
Das ist durchaus nicht per se zu vermengen, sondern kommt erschwerend zu den biologischen Voraussetzungen noch hinzu. Es ist schädlich, wenn die biologisch relevanten Familienproblemamtiken mit den ökonomischen vermengt werden. Das ist einer gesellschaftsrelevanten Verständigung zwischen Homosexuellen und einer sich radikalisierenden heterosexuellen Mehrheit nicht dienlich.
Weiter: Die Welt, wenn man schon unsere Erde als Welt bezeichnen möchte, war schon immer global. Und zwar von jedem Punkt aus, der sich auf diesem Planeten befindet. Durch die neuen Kommunikationsmittel fällt es uns nur wesentlich leichter auf als früheren Generationen. Und daraus etwas zu machen, obliegt in der Tat unserer Verantwortung. Auch in der Poesie.
Falk Richters Vorlesung: ein Musketier der Worte und Bilder
Danke, nachtkritik! Danke, Falk Richter, der in diesen Zeiten das fragile wie machtvolle Instrument Theater noch wie ein Florett zu führen vermag. Ein Musketier der Worte und Bilder, der Eleganz mit Handfestigkeit verbindet und auch keine Angst vor der eigenen Ohnmacht hat. Sehr stark.
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