Das Raunen in der Isolation

von Georg Kasch

Berlin, 23. Juni 2016. Am Ende singt sie doch. Lange, hohe Töne lässt Olivia Stahn gegen die Wand prallen, als wolle sie Glas zerspringen lassen. Wie das gellt und vibriert in den Ohren! Endlich hat man das Gefühl, ein Bild zu bekommen für den Schmerz und die Verzweiflung, die diese "Gefangene" umtreibt.

Inhaftiert in Köln-Ossendorf und im sibirischen Gulag

Gemeint ist Ulrike Meinhof, jene RAF-Terroristin, die während ihrer Isolationshaft in Köln-Ossendorf der weißen Folter ausgesetzt wurde: 24 Stunden gleißendes Neonlicht. In Briefen an ihre Anwälte beschrieb sie den Verfall ihrer Sinneswahrnehmungen: das Gefühl zu verstummen, Sprachstörungen, komplette Orientierungslosigkeit. Diese Texte hat Komponist Matthias Hermann zum Zentrum seines 1994 uraufgeführten Musiktheaters "Die Luft hier: scharfgeschliffen" gemacht, mit dem jetzt das Infektion!-Festival für neues Musiktheater an der Berliner Staatsoper eröffnet. Den Hafterfahrungen Meinhofs setzte Hermann Verse des russisch-jüdischen Dichters Ossip Mandelstam entgegen. Mandelstam versuchte, sich gegen die Gleichschaltung der russischen Literatur durch Stalin zu wehren – und starb im Arbeitslager in Sibirien.

Offenbar finden sich auch noch Sätze von Salman Rushdie und Fahimeh Farsaie im Text, während zum Personal noch "drei Frauen" gehören, die in mehreren Sprachen des ehemaligen Jugoslawien (das während der Komposition gerade zerfiel) Kinderlieder singen, denn: "Wo Zugehörigkeiten und Bezugssysteme zerbrechen, greift man auf ferne, identitätsstiftende Gewissheiten zurück", weiß das Programm-Faltblatt. Außerdem ein Dschinn, der Silben brabbelt und brummt und so etwas wie das utopische Moment der Veranstaltung sein soll.

lufthiergeschliffen1 560 David Baltzer uOlivia Stahn als Gefangene und mit strenger Anmutung:
"Die Luft hier: scharfgeschliffen" eröffnet das Infektion!-Festival © David Baltzer

Als Musiktheater ist "Die Luft hier: scharfgeschliffen" typisch für die deutsche Nachkriegsmusikszene: karg, unsinnlich, verkopft. Womit es zu Hans-Werner Kroesinger passt, diesem moralischen Gewissen des neuen Dokutheaters. Kroesinger hat für seine Kunst jüngst den Lorbeer des Berliner Theatertreffens eingeheimst, mit seiner Karlsruher Recherchearbeit zum Badischen Staatstheater in der NS-Zeit Stolpersteine Staatstheater. Musiktheater inszenierte er bereits am Beginn seiner Karriere in den 1990ern, bevor er sich auf akribische Aktenstudien für Sprechtheaterbühnen und die Freie Szene verlegte.

Kroesinger behandelt das Hermann-Werk als das, was es ist: eine Installation. In die Werkstatt des Schiller Theaters, in dem die Berliner Staatsoper während der Sanierung des Stammhauses Unter den Linden residiert, hat er sich von Stefan Britze einen hellgrauen Raum aus rohen Rigipsplatten zimmern lassen. Einige dieser Platten haben Löcher, als hätte sich jemand mit einem Vorschlaghammer Bahn gebrochen. Andere werden im Verlauf des Abends zugekritzelt.

Das Publikum mittenmang

Hier sitzt das Publikum zwischen den Musikern – Klarinette, Cello, Trompete, dazu drei Perkussionisten, die hoch konzentriert die Schläge und Stöße, die einsamen Flageolett-Töne, das Kratzen und Sirren produzieren, das sich nur selten mal zu einem raumfüllend-dissonanten Aufschrei vereint. Dazwischen verrichten die Sänger und ein Schauspieler ihre Choreografien: Gänge und Positionen, die sich ab und an zu einem Reigen oder einer Runde Schnick-Schnack-Schnuck fügen.

Über weite Strecken wirkt der Abend wie ein 1990er-Jahre-Sprechtheaterexperiment mit Live-Musik. Schauspieler Thomas Wittmann, noch am Berliner Ensemble, bald (wieder) in Düsseldorf, rezitiert mit bitterem Ernst und gehemmtem Pathos die Mandelstam-Verse, Olivia Stahn die Meinhof-Briefe mit einem trotzig-apathischen Gesicht. Manchmal summt sie auch oder übernimmt Töne der drei Frauen in weißen Papierkleidern, die sie als Wächterinnen immer im Auge behalten und Strichlisten über sie führen.

lufthiergeschliffen2 560 David Baltzer uOrientierungslos in der Isolation: Olivia Stahn als Ulrike Meinhof © David Baltzer

Wenn man sich nicht eingehend mit dem Programm und einer kleinen Ausstellung beschäftigt hat, die in der Bar eingerichtet ist, dürfte es ziemlich unmöglich sein, auch nur halbwegs durchzusehen, wer hier was warum singt oder spricht, gerade weil es Textflächen gibt statt Charaktere und Zustände statt Entwicklung. Theoretisch ist vollkommen nachvollziehbar, wann und warum Matthias Hermann mit Variablen komponierte und was das mit Meinhofs Isolation zu tun hat. In der Schiller-Werkstatt aber hört man hier ein Sirren, da ein Raunen – erfahrbar wird die Wucht der Gefangenschaft, der Licht-Folter, der Verbannung nicht. Kroesingers Inszenierung beugt sich dieser strengen Kunstausübung, da ist kein Raum für Ironie oder Selbstzweifel. Allenfalls für verzweifelte Blicke.

 

Die Luft hier: scharfgeschliffen
Musiktheater von Matthias Hermann
Textauswahl: Matthias Hermann und Ernst Poettgen
Inszenierung: Hans-Werner Kroesinger, Musikalische Leitung: Max Renne, Bühne: Stefan Britze, Kostüme: Julia Harttung, Live-Elektronik / Tontechnik: Sébastien Alazet, Licht: Sebastian Alphons, Dramaturgie: Regine Dura.
Mit: Olivia Stahn, Martin Gerke, Stelina Apostolopoulou, Jelena Banković, Ivi Karnezi, Thomas Wittmann, Matthias Glander, Sylvia Schmückle-Wagner, Alexander Kovalev, Peter Schubert, Matthias Marckardt, Martin Barth, Johannes Graner.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.staatsoper-berlin.de


Mehr zu den Arbeiten des Doku-Theatermachers Hans-Werner Kroesinger finden Sie im Lexikon.

Kritikenrundschau

Das sei "natürlich kein angenehmer Abend, vielmehr unglaublich anstrengend", sagt Andreas Göbel auf rbb Kulturradio (Zugriff 26.6.2016). "Vor allem deswegen, weil man selbst eine Ahnung davon bekommt, wie sich Wahrnehmung durch Manipulation und unter Extrembedingungen verändert." Die Qualität der Produktion bestehe darin, "dass sie, anders als oft im Dokumentartheater, nicht nur Dinge vorführt und erläutert, sondern das Publikum dieses Prinzip am eigenen Leibe miterleben lässt. Das ist nichts für schwache Nerven, aber in seiner Unmittelbarkeit beeindruckend." Und vor allem die Sopranistin Olivia Stahn sei großartig: Sie trage den Abend in einer "grandios gespielten Mischung aus Zerbrechlichkeit und Stärke".

Vieles stimme "am Konzept", und auch die Ausführenden überzeugten meist "mit stiller Intensität", meint Isabel Herzfeld im Tagesspiegel (25.6.2016). Und doch sei es letztlich ein "zähes Nichtgeschehen", dem man hier folge und mit dem Hans-Werner Kroesinger "die 'weiße Folter' der Isolationshaft allzu akribisch" nachstelle. Die "Verdopplungsstrategien" des Abends schüfen "kaum mehr als klaustrophobische Gefühle: 'Es ist langweilig, es ist traurig', beginnt ein Mandelstam-Gedicht."

Hans-Werner Kroesinger inszeniere sein Opern-Debüt "sparsam, aber intensiv", findet hingegen Peter Uehling in der Berliner Zeitung (25.6.2016). "Bei so konzentrierter, minimalistischer Szene findet das, wofür Kroesinger berühmt ist, imVorraum statt: die Dokumentation von Isolationshaft und 'sensorischer Deprivation', dem Reizentzug, der zu Halluzinationen führt. Ein Abend, der trotz eines problematischen Stücks eindrucksvoll ist."

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