Offener Brief: Internationale Kulturarbeiter*innen unterstützen Chris Dercon
"Eine mutige und inspirierte Wahl"
1. Juli 2016. Chris Dercon, designierter Intendant der Berliner Volksbühne von 2017 an, erhält im Streit um seine Berufung Unterstützung aus der internationalen Kunst- und Museumsszene. Nachdem Volksbühnen-Mitarbeiter mit einem Offenen Brief gegen Dercon Stellung bezogen und für Furore gesorgt hatten, melden sich nun Okwui Enwezor, Nachfolger Dercons als Leiter des Münchner Hauses der Kunst, und sein Chefkurator Ulrich Wilmes ebenfalls mit einem Offenen Brief an Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller zu Wort. Das in englischer Sprache verfasste Schreiben (hier Frank-Patrick Steckels Übersetzung ins Deutsche) ist von weiteren bedeutenden Persönlichkeiten der Kunstszene unterzeichnet, darunter die Architekten David Chipperfield, Rem Koolhaas und Jacques Herzog, die Museumsdirektoren Bernd Scherer und Hans Ulrich Obrist, die künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bunde Hortensia Völckers sowie mit Anne Teresa de Keersmaeker und Alexander Kluge zwei der Künstler, die mit dem künftigen Volksbühnen-Team von Dercon in Verbindung gebracht werden.
Okwui Enwezor
© Andreas Gebert/Haus der Kunst MünchenDie Unterzeichner wenden sich insbesondere gegen die Formulierung aus dem Mitarbeiter-Brief, Dercon werde eine "global verbreitete Konsenskultur mit einheitlichen Darstellungs- und Verkaufsmustern" an die Volksbühne bringen. Diese Behauptung sei lächerlich, der "verächtliche Tonfall und die Vorverurteilung eines kulturellen Programms, das noch gar nicht realisiert" sei, zeige, dass "eine andere Agenda am Werk" sei. Der Mitarbeiter-Brief gehe nicht "um Jobs und um Verteidigung und Erhalt des Volksbühnen-Erbes; er geht auch nicht um Kunst und die unerschrockene Beschäftigung mit Ideen". Der Volksbühnen-Brief gehe einzig "um Macht" und stelle den "Missbrauch des Privilegs des öffentlichen Dienstverhältnisses" dar, "um die Vision eines Einzelnen zu zerschlagen". Die Unterzeichner hätten "alle objektiven Standards einer ernsthaften Debatte vernachlässigt".
Okwui Enwezor und seine Mit-Unterzeichner halten dagegen, dass Dercon, "aufgrund seiner Leistungen in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht nur auf hervorragende Weise geeignet ist, die Volksbühne zu leiten; er ist zudem eine mutige und inspirierte Wahl".
(wb)
Der Offene Brief von Okwui Enwezor und seinen Mit-Unterzeichnern im Original-Wortlaut
Der Brief in einer deutschen Übersetzung von Frank-Patrick Steckel
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Der Offene Brief der versammelten Kunstmarktgrößen läuft ins Leere. Denn. Es geht nicht darum, was Herr Dercon zu leisten imstande wäre - das an sich wird nicht bestritten - sondern dass die Volksbühne nicht das geeignete Haus dafür ist!! Das ist doch die Causa. Wäre er an die schaubuehne, das Gorki, das HAU, das Humboldt-Forum gekommen, wäre das doch alles nicht so brisant.
Wie bitteschön erklären sich die Unterzeichner, dass es solche Vorgänge bei kaum einer anderen Neubesetzung ergeben haben?? Weil dieses Haus eben etwas Besonderes ist und Vorsicht geboten wäre, nach Gutdünken neu zu besetzen. DIESES Verkennen ist das eklatante Versagen von Renner, Müller und eben auch Dercon. Sie sollten die Stadt und ihre Theaterlandschaft, die Kunst und auch das Publikum diesbezüglich besser kennen. Selbst wenn man einen "radikalen Neuanfang" (O-Ton Renner) für die Stadt möchte: Es gäbe genug andere Optionen. Das weiß jederman in der Branche. Leider ist dies Tim Renner offenkundig nicht gegeben.
Die Unterzeichner täten gut daran, die Widerstände nicht mit Verweis auf den internationalen Kunstmarkt wegzubügeln, sondern Dercon dorthin zu empfehlen, wo er passt (meinethalben auch in einem verqueren Sinne). Er hat ja genug Optionen (www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10775:presseschau-vom-4-april-2015-chris-dercon-nimmt-in-der-frankfurter-allgemeinen-zu-den-geruechten-um-seine-castorf-nachfolge-stellung&catid=242&Itemid=62); nach diesem Offenen Brief - spätestens.
Hummelhummel macht interessante Vorschläge: nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12744:presseschau-vom-22-juni-2016&catid=242:presseschau&Itemid=62#comment-59904
Ich hatte vor einem Jahr Ähnliches öffentlich vorgeschlagen (damals: Dercon an die Schaubühne plus Tempelhof, Ostermeier ans DT, …; leider in der nk-Suche nicht auffindbar).
Lassen wir den Kulturstaatssekretär noch einmal sprechen (es ging um die Philharmoniker zwar, aber der Tenor passt gleichwohl; die haben ja auch in der zweiten Wahl eine fantastische Entscheidung gefällt): "Es ist zuweilen besser, eine Entscheidung zu vertagen, als eine zu treffen, die auf keine ausreichende Zustimmung stößt." (SZ v. 13.5.15)
www.change.org/p/der-regierende-b%C3%BCrgermeister-von-berlin-michael-m%C3%BCller-gegen-die-abwicklung-der-strukturen-und-kapazit%C3%A4ten-der-volksb%C3%BChne-am-rosa-luxemburg-platz-63f4b45a-dae2-466b-89a2-dcdd108b399d
@ Herwig Lewy: Das müssen Sie dem Kuratorenring nachsehen - die Kunstszene wie sie im Moment beschaffen ist, einschließlich des Museums-Managements, das inzwischen eher Besucher-Pädagogik ist als bereit zur Anschauung und freien Interpretation, kann sich da leicht mit Theater verwechseln. Es wäre am Theater, ihm den Unterschied zu zeigen. Und zwar nicht über den öffentlichen Austausch semi-offener Briefe.
Vielleicht wäre es höflich, wenn Tim Renner (und sein Boss) anerkannten, dass Sie schlichtweg jede Menge anderer Möglichkeiten (Dercon nach Berlin meinethalben, Ivan-Nagel-alikes Gutachten, fundierte Neubesetzung der VB zur gegebenen Zeit) per Dekret außer acht lassen.
Vielleicht wäre es höflich von Enwezor et al. anzuerkennen, dass nicht Dercons Qualitäten an der Tate oder auf dem international(iesiert)en Kunstmarkt zur Debatte stehen, sondern die Tatsache ihn autokratisch an die VB zu berufen.
Worstward ho!
wenn ich sowas schon lese.....
"Missbrauch des Privilegs des öffentlichen Dienstverhältnisses" ??
Andererseits....können Dercon und Piekenbrock natürlich für ihre Unterstützer nichts. Aber aus so einem Brief wird für mich noch ersichtlicher, was für Welten da aufeinanderprallen werden am Rosa Luxemburg Platz, bzw es bereits tun...
Der Brief richtet sich im Grunde nur an bzw. gegen die Mitarbeiter der Volksbühne, die in ihrem Brief ihrer Sorge Ausdruck verliehen, als Mitarbeiter mit spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen zukünftig nicht mehr gebraucht zu werden. Dies nun mit Verweis auf das Privileg öffentlicher Dienstverhältnisse zu banalisieren und wegzuwischen empfinde ich als einen Skandal, der zeigt, welche Haltung die Unterzeichner zu denjenigen haben, die Theaterkunst, den Betrieb des Theaters, das Zustandekommen von Aufführungen und Theaterprojekten ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist die Selbstermächtigung der Mitarbeiter der VolksbühnE über sich selbst souverän zu sprechen nicht hoch genug einzuschätzen. Dazu muss man nicht teilen, was zur Eignung von Herrn Dercon als Intendant der Volksbühne im Brief der Mitarbeiter zu lesen qar.
Als hätte es noch eines Beweises gebraucht, um in der Berufung von Chris Dercon den Einzug einer ganz bestimmten, internationalen "Kultur" der Kunstpräsentation zu sehen, hier liegt er vor. Das soziale Gefälle zwischen den Unterzeichnern dieses Briefs und denen des Mitarbeiterbriefs sollte einer sozialdemokratischen Stadtregierung zu denken geben.
Die Frage, die sich stellt: Möchte man aus der Volksbühne ein Theater machen, das so funktioniert wie das Haus der Kunst, die Tate oder andere Institutionen, für die die Unterzeichner stehen? Wenn ja, ist Dercon eine gute Wahl.
Ohne die Nachfolgeregelung jetzt (schon) bewerten zu wollen, glaube ich nunmehr aber tatsächlich, dass die Abberufung Castorfs (und Nichtberufung seines Umfeldes zur Nachfolge) richtig und wichtig waren, bevor aus der Volksbühne endgültig eine Hochburg eines neuen Konservativismus wird, der an der Glorifizierung der eigenen Ruhmestaten von vor 20 Jahren und mehr erstickt.
Gruß zurück nach Freiburg!
Das ist eben das Missverständnis: Von hinterm Schwarzwald aus lässt sich so einiges schwer erkennen, was auch von Tokio, Mailand, Johannesburg, Antwerpen oder St. Petersburg nicht leicht ersichtlich ist.
Lassen wir usn Thomas Oberender in der Berliner Zeitung vom 22.6.16 auf der Zunge zergehen. Sicherlich niemand, der in Verdacht steht, dem Konservativismus anheimzufallen oder German Angst zu haben: "Ich denke, man muss behutsam mit diesem Theater umgehen, es ist ein lebender Organismus und das bedeutendste Sprechtheater der Welt. [...] Das Haus ist auch nicht runtergewirtschaftet und am Ende, es steht in voller Blüte und verändert sich permanent. Wir sprechen nicht von einem abgewrackten Modell, sondern von einer sehr modernen Konzeption. Die Volksbühne ist bereits längst „polyglott“, international und interdisziplinär [...]"
Lebendig! Behutsam! Blüte! Polyglott!
Und über Hochburgen des Konservativismus reden wir besser ein andermal, das bleibt ein weites Feld.
Man muss auch bemerken, dass Interdisziplinarität und modern art im Theaterbetrieb wirklich keine Neuigkeit bringen; das findet man ja schon überall, auch in Berlin! Und Stichwort Generationenwechsel: Castorf ist Jahrgang 1951, Dercon 1958. Der eine ist Establishment pur, der andere auch!
ist das schönste, was ich bis jetzt zum kulturkampf VB vs Dercon gelesen habe.
es ist wie beim kochen,die frischen gewürze kommen zum schluß dazu,
und diese geruchs/geschmacksnote macht auf einmal eine currywurst zum sternerestaurantklassiker.
was haben wir uns umsonst die köpfchen zerbrochen.
der markt reguliert das schon.
ps.
island wird europameister,
und nicht nur im fußball.
die sprechen auch gerne englisch,können aber auch ganz gut deutsch,wenn sie in berlin kunst machen.
ätsch
Der andere Brief der kollegialen Unterstützer Chris Dercons zeigt nur, dass dies jedoch der konkret gute Ton von Designern, Architekten und Museumsdirektoren ist. Der als Vision umgesetzt werden soll. Auch am Theater. Und der inspirierend wirken soll auf Berlin als Stadt.
Wird er nicht.
Inspirierend wirken.
Jedenfalls nicht auf die Leute, die stolz darauf sind, dass es hier diese utopische Enklave der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Handwerkern, Kunsttheoretikern und Theaterkünstlern gibt. In einer ehemals in Ost und West geteilten Stadt, die sich ihre Wunde sozial durch eine konkrete Arbeitsweise erhalten hat. Und das ist gut so. Und wichtig für diese Stadt. Inspirierend für alle jene, die Wunden nicht zukleistern wollen, auf dass nicht in Vergessenheit gerät, was sie ihnen einst beigebracht hat… Und ein Dorn im Auge all jenen, die gerne hätten, dass es von dieser Stadt den Osten nie gegeben hätte, um die kostbare Teilung der Erinnerung auch noch abzuschaffen.-
Warum hat Chris Dercon bei seinen dargelegten Theater-Ambitionen an der Tate eigentlich keine Theatersparte gegründet? Das wäre vielleicht für London inspirierend gewesen. Dann hätte man eher verstehen können, was genau ihn zu genau dieser Zeit als Nachfolger Castorfs qualifiziert.
Und verstehen können, was genau Tim Renner inspiriert haben mag dazu, ihn als auf Castorf folgenden VB-Intendanten zu holen.
Die Idee, mit ihm, Dercon, dem Hangar usw. das Schiller-Theater neu zu erfinden, hätte ich sehr gut gefunden! Das wäre ein wirklicher Neu-Anfang für ein eventuell gänzlich neuartiges Theater im schwierigen Raum als Herausforderung für die bestehenden Theater. Ein Neuanfang für die ganze Stadt. Nicht ein Neuanfang, der als letzter politisch offensiv gegen den ehemaligen Ost-Teil gerichtet ist. Auch einer, der eine ehemalige, fragwürdige Theater-Abschaffung zu einem guten Ende, weil einem wirklich neuen Anfang führt. Man kann gegen die Berliner Verhältnisse nicht einfach z.B. die Stadt München ins Feld führen. Überhaupt keine Stadt der Welt, die die sinnliche Alltagserfahrung einer nationalen Zerrissenheit nicht ebenso kennt und in sich trägt bis in ihre Pflastersteine wie Berlin.
Und man kann nicht ohne weiteres die Museums-Konzepte gegen Theaterkonzepte ins Feld führen.
Die Museen in den Weltgroßstädten dienen sich populärwissenschaftlich immer mehr dem touristischen Publikum an. Immer mehr Museen sind für die einheimische Bevölkerung oder Zufallsbesucher kaum mehr spontan zu besuchen. Große Sammlungen, die auf der Grundlage großer wissenschaftlicher Traditionen entstanden und dicht mit aktuellen universitären Betrieben verknüpft sind, werden auseinandergerissen.
In Attraktionen, die spektakulär populär, multimedial gestützt, dargeboten werden einerseits. Wodurch andererseits die publikumswirksamen Kernstücke der Sammlungen aus dem universitären Forschungs-Bereich bis zur Unerreichbarkeit für wissenschaftlichen Nachwuchs, entfernt werden.
Auf diese Art und Weise werden z.B. gerade die auch weltweit spektakulär umfangreichen geschlossenen Sammlungen des Ethnologischen Museums in Dahlem zerpflückt… Auch in diesem Bereich gehen die Designer oft wenig behutsam vor aus eher künstlerisch selbstbewusstem Gestaltungswillen, der den Einnahmebestrebungen der Städte sehr entgegenkommt, der freien Forschung und Lehre in ihnen aber auch schadet - hier wäre vor allem Interdisziplinarität in der Politik angesagt, in den Künsten und in den Wissenschaften klappt die nämlich inzwischen vielerorts von allein.
Abgesehen davon unterstellen die Verfasser des Briefes ihrerseits den Volksbühnenmitarbeitern nur das denkbar Schlechteste. Ich bin mal auf deren Reaktion gespannt. Zudem drohen die Unterzeichner Müller bzw. Berlin mit Konsequenzen, falls Dercons Berufung rückgängig gemacht werden sollte. Auch nicht die feine Art.
(Zitat in Steckels Übersetzung):"Gibt die Stadt einem engstirnigen und selbstsüchtigen Putschversuch nach, unterwirft sie sich billigen Unterstellungen und versäumt es, die professionelle Grundlage in Schutz zu nehmen, auf der die Berufung von Mr. Dercon erfolgte.Berlin bringt sich ferner um jeden Anspruch, eine offene Stadt zu sein, ein kosmopolitischer Ort, an dem Könner eine Berufung annehmen dürfen, im guten Glauben an die Freiheit, kühn vorauszudenken und jenseits der konventionellen Schranken institutionalisierter Strukturen schöpferisch tätig zu sein."
Die Kunst hat es nicht geschafft, kritischen Diskurs zu fördern. Das liegt weniger an der einen oder anderen Personalie, sondern am herrschenden System. Wehe dem, der Piep macht oder sich gar öffentlich äussert- der ist im global vernetzten Freundschaftsmarkt ganz schnell weg vom Fenster. Was bleibt ist eine Smoothie-Bar als 'kritische' Intervention in de AdK.
Seit Anfang diesen Jahres ist das Geheule in der Kunstwelt angeschwollen, die Museen leer (Enwezor noch Anfang Juni) und da werden grosse Worte gesprochen man müsste doch mehr am Menschen dran sein. Etwas wagen und experimentieren. Wie soll das denn funktionieren, wenn wichtige Fragen im unmittelbaren Kontakt ignoriert werden, Kritik nur indirekt und damit zahlos daherkommt, oder die Adressaten sich unerreichbar geben?
Der neue Brief appelliert an die Akteure beim Thema zu bleiben- richtig. Ein Anfang wäre, selber das he-said-she-said Niveau zu verlassen, und inhaltlich konsequent für etwas einzustehen. Da die Kunst anscheinend nicht willens oder in der Lage ist, ihr Spiegelbild zu sehen, hält ihn eben jetzt das Theater hoch. Die Diskussion ist überfällig. Es ist bezeichnend, das sie von der Volksbühne angestossen wird.
1. Wir sprechen nicht. Wir schreiben. Da ist ein Unterschied.
2. Über etwas, bei dem Theater als Prinzip und eine bestimmte Alltags-Identität bei der Arbeit miteinander verknüpft sind und sich entweder auf bisher unbekannten Traditionen gründen und oder sich in den Jahren unter der Leitung Castorfs zu einer ausgewachsen haben. Das gilt es eventuell festzustellen. U.a.
3. Über den Schutz einer Ost-West-Identitäts-Identität schreiben wir außerdem. Ob die jetzt des Schutzes bedarf oder Widerstand leistet gegen ihre Leugnung aus rein kapitalorientierten Interessen, gilt es eventuell ebenfalls festzustellen. In jedem Fall spiegelt eine solche sich in der Stadt an diesem speziellen Ort als einem letzten sichtbaren so, dass sie nicht so ohne weiteres als Kleingeist diffarmiert werden oder in eine fremden-, kunst-, und politikfeindliche Ecke gestellt werden kann wie etwa Pegida, die AfD oder dergleichen.
Auch dann nicht, wenn das beispielsweise Falk Schreiber versucht. Kleingeister sind ja immer die andern. Ich denke nicht, dass die Liedzeile, die er für sein Bild der VB von ihr selbst passend gefunden würde. Wer will schon sexuell ernsthaft DENKEN? Und politisch "sein" wollen eigentlich immer nur die, die Politik als Zugabe betrachten und nicht als selbstverständliche Organisationsform von lebenden Menschen.
Auch geht es nicht darum, dass jemand nur dann eine Berechtigung hätte zu existieren, wenn er irgendetwas dafür täte. Zum Beispiel verheilte Wunden aufreißen. Die Berechtigung zum Existieren ergibt sich aus der Existenz. Es wäre aber gut, wenn sich Politiker dies auch bleibend vergegenwärtigen würden. Es macht deshalb nichts, wenn sie daran erinnert werden, wenn sie es vergessen zu haben scheinen.
Die Infragestellung von Autoritäten ist/war eine der Grundfesten aller Künste. Bisher war damit Politik oder Wirtschaftsmacht gemeint. Seit die Künste selber Teil der treibenden Macht geworden sind, stellen sich selbstverständlich dieselben Dynamiken ein.
In der Kunst werden Entscheidungsträger als unfehlbar anschaut. Warum soll das der status quo sein? Einiges wurde bisher festgehalten z.B. über die Unterbezahlung oder Lohnfreiheit von 'ausführenden Mitarbeitern', von Ambravomic über die Manifesta 11 zum Kino Babylon. Man mag darüber lamentieren (wie Dercon während der Tate-Beschäftigung). Tatsache ist, dass bisher noch niemand Massnahmen für eine Änderung ergriffen hat.
Der Brief der Volksbühne bejaht ihren Kontext. Ihr Körper ist nicht nur eine Ansammlung von Symptomen.
Berechtigte Einwände werden nun in der Diskussion um die Volksbühne auf Augenhöhe mit Brexit (Rüdiger Schaper im Tagesspiegel) , AfD, Ossi/Wessi oder "indigenous undertones seen in populist campaigns" (Hito Steyerl, eflux) gestellt.
Gibt es an dieser Stelle gar keinen gemeinsamen Boden mehr? Wofür sind wir eigentlich?
haben sie jemals einen Streckensaum Untertage verankert? Ich schon. Das ist eine sehr aufregende Arbeit, weil man erst das Dach des Hauses durch Ankerstangen sichert, um dann mit Sprengstoff das Haus darunter heraus zu sprengen. Es verläuft geradezu umgekehrt, man hängt das Meer in den Himmel, um sich selber die Wolken vor die Füße zu legen.
Immer wieder wird hier der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital bemüht. Als ehemaliges Arbeiterkind, und als einer der ehemaligen Leiter der Kammerspiele des DT, sehe ich es vor meinem inneren Auge, wie die Büste von Otto Brahm, dem Gründer der Volksbühnenbewegung, vor dem Bühneneingang des DT, an der ich über ein Jahr beinahe täglich vorüberging, plötzlich Beine bekommt und über die Torstraße hin zum Rosa Luxemburg Platz eilt, und auf der Höhe des heutigen Soho-Hauses meint Pieck und Grotewohl zu begegnen. Stattdessen stehen dort heutige Arbeiter und Arbeiterinnen aus Marzahn, Lichtenberg und Reinickendorf. Gemeinsam drängen sie darauf, dass man ihnen für fünfzig Cent Einlass in die Volksbühne gewährt, aber die Kassiererinnen verstehen nicht, was das soll.
Da zieht Brahm, der eigentlich Abrahamsohn hieß, eine Waffe und verschafft sich Zugang mit dem Chor der Arbeiter zum Intendantenbüro, wo einsam unterm Stalin-Portrait Hegemann hockt, und verlangt sofort eine Live-Schaltung via Face Time zu Castorf nach Bayreuth. Der Intendant solle erklären: Warum Heliogabal ein Sohn Holofernes sein könnte? Während der ganzen Erklärung richtet Brahm seine Waffe auf die Schläfe von Hegemann. Castorf stottert nur, weil er um das Leben seines Chefdramaturges fürchtet.
Die Arbeiter und Arbeiterinnen verstehen nichts von alledem. Ihre Großväter haben den Bau des Hauses mit ihren ersparten Talern finanziert, aber im Foyer begegneten sich, nach langer Zeit, das erste mal die digitale Boheme und die Arbeiterschaft. Sie waren sich ausgesprochen fremd.
Und Brahm brüllt verzweifelt: Was haben sie aus meinem Theater gemacht. Er stammelt etwas von einem Theaterstück „Vor Sonnenaufgang.“ oder so. Aber niemand der Arbeiter kennt diesen Hauptmann, und warum er die Dekadenz ehemaliger, verarmter Bauern am Beispiel plötzlich grundlos Reichgewordener skizziert.
Da röchelt Brahm: Castorf! Warum arbeiten sie in diesem total kapitalorientiertem Bayreuth von Wagner?! Ich, als Jude, werde das doch wohl noch fragen dürfen! Und erstarrt als ewige Mahnung im Intendantenbüro der Volksbühne und wartet auf Dercon.
Vielleicht kann er kochen? Aber grundsätzlich? Er ist ein guter Maurer und ein Koch sollte kein Haus bauen!
Vor allem, nach einem Jahrhundert der Durchmischung, als Köche anfingen Häuser zu bauen und Maurer Essen zubereiteten, oder es versuchten, oder sich inspirieren liessen!!
Jetzt im 21. Jahrhundert so zu tun, als ob es wahnsinnig neu wäre, in fremden Tümpeln zu fischen, ist es ein bisschen peinlich.
Kommunizieren, so oder so, war immer schon eine Voraussetzung von Kunst.
Sie jetzt (50 Jahre zu spät) zu instrumentalisieren katastrophal.
Khoun in seiner ruhigen Art hat es auf den Punkt gebracht: soll ich jetzt den Hamburger Bahnhof übernehmen?
Eine absurde Idee ist noch keine Kunst, sondern Hilflosigkeit, Öffentlichkeitsgeilheit und in dem Fall der Volksbühne reiner Kapitalismus.
Das ist das Tragische.
Das wirklich Tragische.
Sehen Sie, ich bin nur Zuschauer und es fällt mir schwer, alle diese Gedanken zu verstehen, die hier trefflich geäußert werden. Doch wenn es um die Diskussion von Rahmenbedingungen geht, dann fehlt es mir zuweilen an Tiefen- und Trennschärfe. Aber möglicherweise habe ich alles ganz falsch verstanden und die Mitglieder der Pool of Experts können Abhilfe schaffen. Ich würde mich sehr darüber freuen. Vielen Dank!
* Seite 9-76:
www.iti-germany.de/fileadmin/user_upload/Dialog/KV_in_der_Diskussion.pdf
Einige vorsichtige Prognose würde sagen, damit wären das nähere Umfeld der Unterzeichner des offenen Briefes erreicht worden, aber darüber hinaus gibt es kein nennenswertes, breites Interesse in der Stadt.
Somit kann man sich die Mühen der Debatte auch eventuell sparen.
dann werden wir ja sehen, wie aufgeklärt die "internationale kulturszene" tatsächliche gegenüber quereinsteigern ist, die aus einer ganz anderen kulturellen branche kommt.
Ja genau, lieber Herr Baucks, "die Mühen der Debatte sparen".
Dann hören Sie doch auch bitte, bitte, bitte endlich auf Ihre unglaublich steife Meinung hier unentwegt und nahezu zwanghaft zu publizieren, so als hätten Sie gar keine andere Möglichkeit sich, vielleicht abseits des Stammtisches, öffentlich zu äußern.
Und überhaupt: Rem Koolhaas nach Berlin holen als große Tat zu bezeichnen... Na ja. Hier gibt es einige schicke Bauwerke aus seiner Feder und bereits zum Jahrtausendwechsel war seine lobenswerte Arbeit und Theorie in der Nationalgalerie zu bestaunen.
Kalter Kaffee.
das ist doch mal ein entspannter Vorschlag zur Offenheit!
Ich bin gespannt.
#46
Danke.
hören Sie doch bitte, bitte, bitte auf, hier jemanden aufzufordern, seinen Mund zu halten. Das ist unglaublich und unter der Gürtellinie.
Schlimm genug, dass das mit Herrn Rackow ein nachtkritik.de-Redakteur im Vorfeld auch schon versucht hat.
wer sind sie, dass sie Koolhaas "kalten Kaffee" nennen dürfen?! Ja, es gibt Gebäude von Rem Koolhaas in Berlin und vor sechszehn Jahren gab es eine Ausstellung in der Nationalgalerie. Ist Koolhaas damit schon "abgefrühstückt"? Warum ist dann Castorf nicht ebenso kalter Kaffee? Den gibt es doch auch schon seit über zwanzig Jahren in Berlin?
Es geht ja wohl mehr darum, die Arbeit eines Koolhaas oder Eliasson mit dem Theater zu verknüpfen. Haben sie denn schon mal einen Bühnenraum von Eliasson oder Koolhaas an der Volksbühne gesehen? Ich nicht. Und ja, auch Eliasson hatte schon eine große Ausstellung in Berlin. Und er hat ein Atelier und eine Arbeitsstätte am Pfefferberg. Warum er aber deshalb nicht einmal an der Volksbühne tätig werden sollte, ist mir nicht schlüssig. Wäre das dann kalter Kakao? Nein! Keinesfalls. So gemessen, müssten viele Theaterkünstler Berlin verlassen, weil sie hier schon so oft auftraten.
Nö,...ich glaube von so jemandem, wie ihnen, möchte ich mir nicht den Mund verbieten lassen. Sicherlich "Delirious New York." wurde schon 1978 veröffentlicht. Kalter Kaffee ist es deshalb noch lange nicht und einem Theater-Projekt mit dem Titel "Delirious Berlin." würde ich, als jemand der Theater, Kunst und Architektur liebt, mit Freude entgegen blicken.
Nur werden sie solche Künstler schwerlich an ein Theaterhaus binden können, wenn ihnen aus allen Rohren soviel provinzielle Ignoranz entgegen blässt. Und solange dies so bleibt, muss man ihrer Haltung etwas entgegesetzen.
Erlären sie uns doch einmal, wie man die retroaktive Sicht von Rem Koolhaas auf Berlin übersetzen könnte, falls ihnen das gelingen möchte. Das wäre spannend. Aber nicht ihre kalte Wut.
keine frage,
denn er ist voll von emotionen.
wäre er eine blutleere analyse dessen, was bevorstehen kann,
und so weit sollte mensch schon mal denken, ist er eine warnung,
die dringend gedacht werden sollte.
dies ist wahrscheinlich nicht geschehen.
ein versagen in der kulturpolitik berlins ist extrem erkennbar.
wenn der zuständige staatssekretär für kulturelle angelegenheiten des landes berlin, diese tragweite nicht erkennen kann,
ist er doch im falschen gewerk unterwegs.
diesbezüglich möchte ich herrn dercon keine vorwürfe machen.
diesen shitstorm hat er, als kurator und mensch nicht verdient,
trotzdem jetzt ist aber zeit für seine antworten.
dercon greift in ein deutsch/deutsches theaterschlachtschiff der ost / west achse ein,
und ich glaube nicht,er hat am anfang verstanden,
wofür die volksbühne am rosa luxemburg platz seit über 20 jahren steht.
hier geht es um viel.
kampf um hoheitsgebiete der längst verlorenen arbeiterklasse.
ich habe mich verlaufen in berlins mitte, koppenplatz,
dank der touristenschilder war ich wieder heimisch.
ich bin hier auch nicht geboren, und merke,
hier, in dieser neuen mitte, will ich auch nicht begraben sein.
die unschuldslämmer sind schon lange da.
(tvpfarrer)love you
Die Antwort an Sie wäre wohl: Sie selber können sie jederzeit beenden, indem Sie sie nicht mehr weiterverfolgen.
Und ob sonst noch etwas "im und am Theater läuft", können Sie doch ganz einfach feststellen, indem Sie all die anderen Beiträge auf dieser Seite lesen?
Ansonsten: bringt es #50 auf den punkt für mich. dass es eine ungeheuerer tragweite hat, wenn renner ausgerechnet die volksbühne an dercon gibt, hätte renner wissen müssen.
und vielleicht wusste er es ja auch ;)
"Die nehmen einen Performer, dabei haben wir Tausende Künstler." soll der ansonsten recht zurückhaltende Gerhard Richter gepoltert haben, als bekannt wurde, dass Christoph Schlingensief den deutschen Pavillon in Venedig 2011 gestalten sollte.
„Er (Richter) zielt auf die Sorge, die Kunst verliere ihren kontemplativen Charakter zugunsten eines bühnenartigen Spektakels, das Zwiegespräch mit dem Einzelwerk gehe unter im Geraune der Massen, die der Aufmerksamkeitsökonomie des Eventtourismus folgen.“ so erklärte es Kia Vahland in der Süddeutschen seiner Zeit.
Der Grundton sollte uns bekannt sein. Wir alle wissen Christoph Schlingensief gewann auf Anhieb, unter über achtzig Ländern, posthum den Goldenen Löwen in Venedig. Vielleicht ist es ja auch einfach nur die Angst, dass mit Dercon einer der ganz Großen mit Weltruhm kommt, dem es ebenso wie Schlingensief gelingen könnte, auf Anhieb, die alte Frage, wie die bildende und darstellende Kunst zusammengeht, zu beantworten; und der damit einige khoun ´sche Karrieren über Konstanz, Hannover, Hamburg nach Berlin erodieren würde.
Renner hat diese alte Frage neu in den Raum gestellt. Das ist sein Verdienst. Nehmen wir es als eine besondere historische Fußnote, dass Schlingensief ausgerechnet, unter anderen, auch aus der Volksbühne hervorging.
Es gab Phasen in Berlin, wo ich mir gewünscht hätte, der ein oder andere Intendant würde, statt einem Theater, doch lieber ein Museum leiten.
aus einer guten Laune heraus so eine schwerwiegende Entscheidung treffen kann
Das ganze läuft doch hier schon ähnlich wie bei der Flughafenbaustelle, das Führungsfiguren ,die mit einem Posten scheitern , woanders aufwärts befördert und entsorgt werden.
Die Kulturpolitik sollte sich nicht als Entsorgungsposten für unsere Eliten und Young Leaders der Deutschland AG hergeben, und es gilt dagegen zu rebellieren
www.tagesspiegel.de/berlin/berlins-regierender-buergermeister-michael-muellers-tempelhofer-netzwerk/13518020.html
und an die Volksbühne
Zu Beginn des Jahres wurde Chris Dercon vom Berliner Senat als neuer Intendant der Volksbühne verpflichtet. Der Chef eines der größten und vornehmlich auf Städtetourismus ausgerichteten internationalen Ausstellunghäuser übernimmt ein Städtisches Theater, das verglichen mit der Tate nicht groß, nicht effizient ist, aber - im Gegensatz zu einem eher routinierten Ausstellungsprogramm - einen Überschuss an spezifischer Bedeutung produziert. Man hat diesen Überschuss auch oft genug "Mehrwert an symbolischen Kapital" genannt, und man weiß dann ebenso um den Appetit, den das Business auf diesen Mehrwert hat, um sich zu verlebendigen, indem es seinem Expansionszwang folgt.
Auf den letzten Protestbrief des Ensembles der Volksbühne folgte ein Brief zur Unterstützung des neuen Intendanten, größtenteils initiiert und unterzeichnet von den internationalen Kuratorenkollegen seiner Generation. Der Brief behauptet, dass die Proteste gegen Dercon sich doch hauptsächlich auf den Missbrauch von senatorischer Macht beziehen, verfasst von einer engstirnigen, nur an ihren eigenen Privilegien interessierten Gruppe. Der Brief beklagt auch "the lack of decorum in the reception of the appointment", vermisst das Minimum an Höflichkeit gegenüber dem neuen Intendanten - eine Blamage für Berlin, als globaler Standort.
Währenddessen hat sich im lokalen Berlin längst ein geflügeltes Wort verbreitet, wenn man etwas als großspurig und ignorant abtun will: "Ich mache dich weltberühmt." Es wird kollportiert, dass Chris Dercon René Pollesch dieses ungebetene Versprechen gegeben haben soll in der Kantine des Theaters. Ebenso soll er auf sein wohl ganz exzellentes internationales Adressbuch verwiesen haben. Vielleicht ist das alles Gossip, aber letztendlich ist es genau diese machtbewusste Umgangsform, die KünstlerInnen - meistens etwas dezenter - von globalen Kuratoren kennen.
Es geht uns aber nicht um Parteinahme in einer Personaldebatte, auch nicht um ein Plädoyer für eine identitäre Abgrenzung der einzelnen Künsten. Was in der bisherigen Debatte kaum erwähnt wurde, ist die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen. In diesem Sinne erinnert es fast eine Freudsche Fehlleistung, wenn im Statement der internationalen Kuratoren “the privilege conferred by public employment to defeat an individual’s vision” besonders vorgeworfen wird.
Nicht nur deswegen finden wir es an der Zeit, dass wir von KünstlerInnenseite aus nun ebenfalls einen Brief schreiben, sondern weil dieses unfriendly Take Over etwas Exemplarisches an sich hat. Es führt uns den Paradigmenwechsel vor Augen, der beide Bereiche - bildende Kunst und Theater - betrifft, darin dem Branding von Berlin als internationaler Hub der Creative Class folgend.
Wenn wir sagen, dass seit Ende der 90er Jahre sich die bildende Kunst zum Flagship neoliberalen Kulturverständnisses entwickelt hat, dann meinen wir nicht die Frage der Finanzierung, sondern die Subjektivität der Akteure selbst. Wir haben es heute meistens nicht mehr mit einzelnen KuratorenInnen und KünstlerInnen zu tun, sondern mit Managern und Factories, beide ausgelaugt vom Soll globaler Präsens und ihrer Anforderung, die Leere internationaler Prestigearchitekturen vollzumachen. Wir haben es mit einer professionalisierten Verselbständigung von Arbeitsteilungen und Techniken zu tun. Sie treten oft an die Stelle von Inhalten. Wir haben es wie in allen Industrien mit einer universellen Existenzangst zu tun, die den Akteuren im Nacken sitzt: dieses Verschluckt werden vom globalen Rauschen, das die Verausgabung überflüssigem Anlagenkapital verursacht. Es gibt deswegen nun viele "Teams" und "Studios", die für Künstlersubjekte arbeiten, aber das nicht, um ein Kollektiv zu bilden, sondern eben angestellt, isoliert, hierarchisiert und konkurrent.
Wir haben es mit der zum Modewort gewordenen Diagnose Burnout zu tun, weil Ausbeutung bis zur Erschöpfung für alle Akteure ubiquitär geworden ist. Letztendlich zählen wir hier also all das auf, was alltäglich in jeder anderen Industrie auch los ist. Aber wir erinnern uns daran, dass dieser Bereich genau so wie Theater das Selbstverständnis hatte, andere Möglichkeiten, zu leben, zu denken und zu empfinden, als Forderung, Praxis, Konterkarierung von Macht oder Lüge aufzustellen.
In Bezug auf das Theater wollen wir erwähnen, daß theatrale, zeitbasierte, performative Arbeitsweisen im Kunstbereich exponentiell zu seiner Neoliberalisierung zugenommen haben - ja, das zentrale Ausdrucksmittel dieser Epoche geworden sind. Denn ´gute Performanz´, Liquidität der Produktion und der Umgang mit Menschen als Ressourcen gehören zum Tugendkatalog dieser Form von Ökonomie, ebenso wie die Attribute der Unmittelbarkeit, des Ephemeren, die Betonung des Ereignisses sowohl zentral für die Performance- wie von Dienstleistungsökonomie sind. Es gehört zu der eingeübten kritikalen "Ambilvalenzfunktion" von Kunst, dass Performance sich oft als Instrument einer institutionskritischen Metareflexion über immaterielle Arbeit versteht, während die eigenen Arbeitsbedingungen exakt deren Entrechtung entsprechen. Man kann von einer Industrialisierung sprechen, die auf Schichtarbeit, Outsourcing, Entqualifizierung und Wiederholung beruht. Und tatsächlich trifft man in den Ausstellungsräumen immer häufiger auf performatives Prekariat, die dem Zeit- und Objektstatus des Museums und seiner Besucher ausgeliefert sind. Dies betrifft einerseits die Löhne und Verträge, aber auch die Würde und Selbstachtung der einzelnen PerformerInnen. "Der Allgorytmus ist die Antwort darauf, dass zeitgenössische Performances immer größer dimensioniert werden, weil sie sich mit größerem Ausstellungsräumen und längeren Laufzeiten konfrontiert sehen." schreibt Claire Bishop, und sie bescheibt eine Arbeit von Tino Seghal in den Turbinenhalle der Tate, in dem die Performer - nun Bestandteil der smarten Haustechnik geworden - in ihren Bewegungsclustern sich an dem Wechsel des Lichtsystems orientieren. *Von daher wirkt die Übernahme eines Theaters sehr konsequent.
Es geht uns nicht um das Ausmalen weitere Horrorszenarien über das künftige Programm der Volksbühne oder eines Lean Managment Theater, wie erfolgreich im HAU vollzogen. Und wir können auch nicht die "Reform" der Volksbühne als so oft zitierte "schöpferische Zerstörung" sozialer Zusammenhänge abtun. Warum - so fragen wir uns - wirkt die bevorstehende Reform so exemplarisch wie eine Exekution?
Die Volksbühne ist nicht nur eines der wenigen glücklichen Beispiele für die gegenseitige Inspiration von ost- und westdeutscher Kultur in einer ansonsten binnenkolonialistischen Politik. Sie führt definitiv ein geschichtliches Wissen fort als Handwerk, Gemeingut und als politische Arena einer linken Intellektualität, und das seit ihrer Gründung. Sie ist der Ort der langfristigen Ensembles, die mit ihrer Kollektivität eben nicht nur Starregisseure kreierten, sondern heterogene Gebilde von ganz unterschiedlichen Charakteren und Attitüden. Es ist diese Kultur der langfristigen, gemeinschaftlichen - und geistreichen - Produktion, es ist diese soziale und intellektuelle Rhizomatik als gesellschaftliches Programm und als geschichtliches Gedächtnis, das zerstört werden soll.
Der Kunstbereichs der letzten Jahrzehnte zeigt zu dieser Exekution seine effizienten Instrumente.
Berlin, im Juli 2016
Dafür sind Schlagworte wie Performance- und Dienstleistungsökonomie sicher mal ganz hilfreich als Denkanstoß, ob man das fürs Theater will, oder nicht. In Hinsicht auf die Qualität des Gezeigten beim gerade zu Ende gegangenen Festival Foreign Affairs kann man der Volksbühne nur wünschen, dass ökonomische Gesichtspunkte nicht zum Entscheidungskriterium für Theaterkunst werden. Wenn der Kurator mit einem festen Budget am internationalen Markt einkaufen gehen muss, dann brauch er ein gutes Händchen und das besagte Adressbuch. Dercon täte sich gut daran, sich auch lokal zu vernetzen, also Kunst aus der und für die Stadt zu zeigen. Wie man in München und Stuttgart sieht, lässt sich ohne lokales Publikum auf Dauer kein Stadttheater machen. Ein festes, in der Stadt gut verankertes Ensemble ist immer noch eine wichtige Ressource der Theaterarbeit. Überhaupt dreht es sich erster Linie ja immer um Menschen.
Da stört mich im Zusammenhang mit Theater- und Kunstproduktion generell etwas das Attribut „binnenkolonialistisch“. Das ist sicher für die Besetzung vieler Leitungspositionen nach der Wende zutreffend gewesen. Castorf war ein positives Gegenbeispiel. Dercon wird hier sicher nicht ein Roll back einläuten. Auch sehe ich nicht zwingend die Herausbildung einer neoliberalen Art-Factory. Eher wird man sich aus dem Pool solcher bereits bestehender Strukturen bedienen. Das wäre wesentlich effizienter. Auch eine geschickte Querförderung der freien Szene. Nur ob das der lokalen Szene zugutekommt, ist eine andere Frage. Hierauf zielt sicher der Vorwurf des Briefs.
Wie gesagt, einiges ist sicher wert, darüber nachzudenken. Allerdings ist mir der Ton insgesamt etwas zu didaktisch. Daher: Wer schreibt da? Und bevor man so etwas in die Öffentlichkeit schießt, sollte man ruhig nochmal jemanden Korrekturlesen lassen. Was soll z.B. der letzte Satz bedeuten?
ich verstehe Ihre Neugierde. Die Anonymität mag entweder damit zu tun haben, dass diese Gruppe das Wort vor ihren wohl oder nicht bekannten Namen walten lassen möchten. Die andere Denkpiste wäre, was ich bereits in #30 angeschnitten hatte: es ist ein absolutes Tabu in der Kunstwelt, Kritik zu äussern. Das geht wenn überhaupt nur über zehn Ecken. So traurig ist es bestellt.
Wer jetzt aus den eigenen Reihen die Wahl für Dercon öffentlich hinterfragt oder die Vorgehensweise anzweifelt, muss damit rechnen ausgeschlossen zu werden.
Ihnen mag es nicht aufgefallen sein, aber ich finde es unangenehm ruhig aus der besagten Ecke. Auf dem Höhepunkt des Karussels mit Castorf und Co. befreundet sein- da zeigt man sich gerne, aber jetzt, nein, lieber den Mund halten.
Deswegen freue ich mich über den obigen Brief, von wem er auch sein mag. Es mag Ihnen wie Äpfel und Birnen vorkommen, aber da hängt schon das Eine oder Andere zusammen.
Wenn schon die Kunst in die Volksbühne "eingreift", dann ist es doch schön, dass umgekehrt auch ein trotziger Funke zurückspringt. Vielleicht muss man den Protest noch ein wenig üben, und vielleicht muss man sich erst finden bevor man mit seinem Namen unterschreibt.
uns hat es auch interssiert, wer für diesen Brief verantwortlich ist bzw. wer ihn mitträgt. Da wir vorerst keine Antworten bekommen haben, haben wir von einer Meldung abgesehen: Denn einen solchen Brief kann erst einmal jede*r verfassen und dann die Position der Künstler*innen für sich reklamieren. Als anonyme Äußerung ist er deshalb von uns in die Kommentarspalte eingespeist worden, wobei der Nickname "machmichweltberühmt" aus der Mailadresse stammt, von der uns der Brief erreichte.
Was Grammatik und Orthographie angeht, geht der Redakteursreflex natürlich sofort dahin, korrigierend einzugreifen. Wir haben es aber in diesem Fall nicht getan, da der Brief ja - so wie er ist - dokumentiert werden soll. Und man kann ihn in jedem Fall an seinen Argumenten messen.
conversations.e-flux.com/t/volksbuhne-staff-on-chris-dercon-we-fear-job-cuts-and-liquidation/3911
"Die Blume der Hausfrau…", a very, very beautiful film. Direktvertrieb? Ist das also das Volksbühnenkonzept? Und ist Herr Dercon der Kobold, "introducing a new area"? Der Herr scheint ein übergroßes Sendungsbewußtsein zu haben. Dagegen sind die Volksbühnen-Narzissten alle schüchtern, verschämt und bedacht. Und: die Musealisierung ist schon jetzt im vollen Gange! Museumsfernsehen eben!
Eine indirekte Wirkung tut er schon. Durch das Geschwätz, das er, wie Sie richtig erkannt haben m.E., initiiert. Und durch auch die Geste der Öffentlichmachung. Warum sollte er auch nicht? Schließlich haben die Dercon-Unterstützer auch nicht an Dercon geschrieben: 'lieber Freund, überlege einmal, ob das eine gute Kommunikationsstrategie ist, die Du da im Moment in Berlin mit dieser VB fährst - wir wollen uns nicht einmischen, aber vielleicht bist Du als unser Freund und Kollege froh, unsere Meinung dazu zu hören'. Und sie haben auch nicht direkt an die Mitarbeiter der VB geschriebn: 'He, Leute, bleibt cool, wir kennen den schon so lange. In unserer Branche, die er gern theatral erweitert, war der wirklich immer fair und ideenreich, er meldet sich bestimmt zur richtigen Zeit bei Euch! Wir verstehen zwar auch im Moment nicht, warum er das nicht so richtig bisher mit Euch gemacht hat, aber wir sind überzeugt davon, dass er das zur genau richtigen Zeit machen wird.' - Nö - die haben einfach an den Vorgesetzten geschrieben, der über die Mitarbeiter der VB Weisungsbefugnis hat. Deshalb haben die - klüger wie sie eigentlich sein müssten, wenn Dercon wirklich das leuchtende Beispiel aus ihren Reihen ist, als das er gehandelt wird, auch absolut verdient, genauso unhöflich behandelt zu werden!! Anonym. Mit einem "Brief", der eigentlich gar kein Brief ist. Sondern eher ein Flugblatt... Ein Flugblatt als Antwort auf eine Anscheisser- wenn nicht sogar Hetz-Schrift hinein in einen Machtapparat, die von bekannten gegen vollkommen unbekannte Leute gerichtet war. Und Sanktionen gegen sie gefordert hat von einem frei gewählten Politiker. So sieht das aus. Möge dieses Geschwätz sich also auswalzen bis nach Bilbao von mir aus!
de.wikipedia.org/wiki/Penisverletzungen_bei_Masturbation_mit_Staubsaugern
Dass in diesem offenen Gegenbrief nur in der Kunst Tätige unterschrieben haben und Menschen, die selbst erfreulicherweise dem Bereich der Internationalisierung und/oder Interdisziplinarität zuzuordnen sind, aber zu Unrecht reflexhaft Feindlichkeit wittern sowie von Dercon bereits Eingeplante und nicht seit langem in Berlin lebende (also mit einem Gefühl dafür) Theaterschaffende, spricht für sich.
Dass man vorverurteilt trifft auch nicht zu, im Gegenteil, man hat sehr lange gewartet und dabei riskiert evtl. schon zu lange zu warten, bis Dercon (viel zu spät!) selbst mit den Menschen in der Volksbühne spricht, um von ihm persönlich zu erfahren, was er dort vor hat. Und nur darauf beruft sich der offene Brief der Mitarbeiter/-innen der Volksbühne. Dafür bedarf es kein detailliertes Programmheft, wie Renner und der Gegenbrief behaupten. Wenn das mal steht, ist es bereits zu spät.
Dies ist ein Theater, vielleicht das wichtigste!