Ich bin ein Anschluss-Fehler

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 1. Juli 2016. Autokino? Kenne ich nur aus dem Film. Aus "Grease", wo John Travolta sich an Olivia Newton-John ranmacht und sie vor ihm flieht. Autokino spielte in meiner Jugend keine Rolle. Wir gingen lieber ins richtige Kino. Ich käme auch heute nie auf die Idee, in ein Autokino zu fahren. Ich besitze weder einen PKW noch einen Führerschein, wofür ich hier in Stuttgart gelegentlich angeguckt werde, als sei ich ein exotisches Insekt.

Dass es hier in der Nähe, in der winzigen Stadt Kornwestheim, ein riesiges Autokino gibt, wusste ich gar nicht. Warum auch? Es ist in ästhetischer Hinsicht ein Unort. Tagsüber eine riesige leere Betonfläche, abends reihen sich hier Blechbüchsen aneinander. So wie gestern Nacht. Auf der Kinoleinwand 1 gab's "Ice Age – Kollision voraus!", auf der gegenüberliegenden eine Produktion des Staatstheaters Stuttgart: und zwar den neuesten Pollesch. Live gespielt, übertragen per Videokamera auf die Großleinwand. Und die Zuschauer glotzen durch die Frontscheibe ihrer Autos, den Ton über UKW empfangend, Popcorn knabbernd und an Bierflaschen nuckelnd.

Ich war so ein guter Frauendarsteller

Wen wundert's? René Pollesch, der alte Videofreak: Jetzt auch im Kino! Aber was auf der Bühne sonst so quirlig wirkt (rein und raus, raus und rein), gerinnt auf der Leinwand zum statischen Bild. Denn die fünf Schauspieler – mitsamt dem Bühnentier Martin Wuttke – hocken meist unten wie das Publikum im Auto und labern und qualmen und betrachten zuweilen die merkwürdigen Gestalten dort oben. Wer von den Zuschauern seinen PKW in entsprechender Nähe stehen hat, darf sich fühlen wie am Filmset.

stadionderweltjugend2 560 Conny Mirnach uUnsere Filmhelden: Julischka Eichel, Christian Schneeweiß, Abak Safaei-Rad, Martin Wuttke
© Conny Mirbach

Pollesch nutzt den Platz des Autokinos leider aber nur minimal aus. Zu hektisch-dramatischer Musik aus dem Radio gibt es ein paar angedeutete Gangsterszenen: Flucht des Quintetts durch Los Angeles (?) im Cabriolet (vor simuliertem Bilderfluss auf kleiner Extraleinwand), eine Blaulicht-Hetzerei durch die Reihen der Publikumsautos, einen Blick in einen Kofferraum voller Gewehre. Und zwischendurch versucht die Schauspieltruppe, ein kolossal aufgeblasenes Plastikweib mit fetten Titten vor der Leinwand aufzurichten. Ansonsten: Dauergequassel im Auto über theatrale Travestie im Shakespeare-Zeitalter (Wuttke: "Ich war so ein guter Frauendarsteller") oder über "das Subjektive der Selbstpositionierung im großen objektiven geschichtlichen Prozess".

Es macht einen so verletzlich

Die Pollesch'sche Theorie-Wortwurfmaschine läuft im bewährten Boulevard-Gang. Klar wird auch die Starrheit der Bilder auf der Leinwand mal ironisch reflektiert: Wenn Christian Schneeweiß (in hübsch kariertem Anzug) das Auto verlässt und anmerkt: "Ich bin eine dramatische Person, ich muss mich mal bewegen." Ansonsten tauschen die Fünf immerzu die Plätze im Auto. Gemäß der Ausgangssituation ("Man sieht ein heterosexuelles Paar nebeneinander im Autokino sitzen und das ganze wird damit enden, dass beide auseinandergehen") lassen die beiden Damen, Julischka Eichel und Abak Safaei-Rad, viel Wortmaterial zum Thema Beziehung hören.

stadionderweltjugend1 560 Conny Mirnach uAutopoetische Feedbackschleife: Autokino verschlingt Filmset verschlingt Autokino
© Conny Mirbach

Im Mittelpunkt aber stets Martin Wuttke in der Rolle des eitel alternden Schauspiel-Stars, mal mit Menjou-Bärtchen und im Smoking, mal in knallrotem Anzug und mit riesiger Brille – eine Mischung aus sich-selbst-und die-Welt-erklärungssüchtiger Woody-Allen-Figur und Jack Nicholson à la Mafioso Charley Partanna. Das ist schon unterhaltsam, wie er so mit den anderen über Vergänglichkeit, Schönheit, die Ehe, Natürlich- und Künstlichkeit schwadroniert. "Ich bin ein Anschluss-Fehler", stöhnt er immer wieder, also einer, der den stimmigen Übergang zwischen den Film-Einstellungen stört und damit die Kontinuität, den Fluss des Filmes. Und wie er da so über die Liebe palavert ("Es macht einen so verletzlich. Reißt einem die Brust auf und das Herz, es kann jemand hineinschlüpfen und einen wahnsinnig machen") und dies mit einem leeren Blick ins Unendliche würzt: Das ist schon großes Kino.

Hup! Hup! Blink! Blink!

Aber ansonsten bleibt der Text recht austauschbar. Der Abend könnte auch in einem Waschsalon spielen oder im Zoo. Das Phänomen Autokino wird so gut wie gar nicht reflektiert. "Hast du gerade Autokino gesagt? Ich dachte, wir wären auf einem Parkplatz", wirft Manuel Harder ein.

Und der Titel des Stücks, "Stadion der Weltjugend"? Berliner wissen: So hieß ein 1992 abgerissenes DDR-Sportgelände in Mitte. Aber machen wir uns bloß keine Gedanken, was das in diesem Kontext bedeuten soll. Vermutlich war das Polleschs ursprüngliche Aufgabenstellung gewesen, von der nun nicht mehr viel übriggeblieben ist. Dem Publikum hat's aber gefallen, und der Ort ist allemal originell. Viel Applaus in Autokino-Manier: mit Hupen und Scheinwerferblinken. Danke, liebes Staatstheater, für das nette Event!

 

Stadion der Weltjugend
von René Pollesch
Uraufführung
Regie: René Pollesch, Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Felix Dreyer, Live-Videoschnitt: Jochen Gehrung, Dramaturgie: Anna Haas, Produktionsleitung: Aliki Schäfer.
Mit: Julischka Eichel, Manuel Harder, Abak Safaei-Rad, Christian Schneeweiß, Martin Wuttke; Live-Kamera: Ute Schall, Tobias Dusche, Daniel Keller; Tonangler: Phillipp Reineboth, Philip Roscher.
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau:

"Das mit den Rollenbildern und dem Zwang zum Schauspiel auch im sogenannten normalen Leben ist René Polleschs großes Thema," schreibt Jürgen Berger für Spiegel Online (2.7.2016). "Er kommt davon nicht los und umspielt in "Stadion der Weltjugend" einmal mehr die Transgender-Aporien des postmodernen Theaters." Aufgrund des ungewöhnlichen Autokino-Settings wirkte laut Berger vieles "noch improvisierter wie gewöhnlich. (..) Pollesch ist ein Großmeister der Klage über die Unmöglichkeit authentischer Gefühle, mit seinen Texten ist das im Moment aber so eine Sache. Sie sind nicht mehr so rasant, wirken etwas müde und wie zu schnell recycelt. Im Autokino kommt hinzu, dass das direkte Theatererlebnis fehlt."

René Pollesch nutze die Möglichkeiten dieses ungewöhnlichen, mythenumrankten Schauplatzes nicht annähernd aus, bedauert Adrienne Braun von der SZ (4.7.2016). "Durch die Beschränkung auf den Mikrokosmos Auto und auf den knappen Bildausschnitt, den die Frontscheibe gewährt, bringt er sich um das Spielerische und damit um das, was doch eigentlich seine Stärke ist: seine zwar kaum entwirrbaren, aber anregenden Exkurse auf die Konventionen der Bühne prallen zu lassen und damit ästhetische als auch gesellschaftliche Normierung offenzulegen." So wecke die abenteuerliche Exkursion ins Reich des Entertainments auf wundersame Weise doch wieder die Sehnsucht nach dem guten, alten Theater, nach Konzentration und Nähe zu leibhaftigen Darstellern. Selbst wenn Spielen, meint Pollesch, 'das Gegenteil von authentisch ist'."

Mit anarchischer Lust schicke Pollesch seine Spieler auf den Boulevard und gebe ihnen die Lizenz zum Blödeln. "Und sie tun das wie Kinder, die ihre Akademikerkarriere schon hinter sich haben, quengelnd, nörgelnd und trotzend auf höchst elaborierte Art", zeigt sich Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (2.7.2016) sehr angetan. "Wer René Pollesch mag, sollte im Turbo nach Kornwestheim sausen. Wer ihn nicht mag, nicht – es sei denn, er will Wuttke als famos aufgedrehten, übertourten und kindsköpfigen Komiker sehen. Dann schon."

Das Ensemble palavere über die üblichen Pollesch-Themen: "Liebe, Identität, Genderkram etc. Es lohnt nicht, das hier ausführlich zu beschreiben. Lesen Sie einfach die Kritik zu irgendeinem anderen Pollesch-Stück", rät Jan Küveler in einer launigen Kritik in der Welt (3.7.2016). Zurzeit laufe Polleschs Textmaschine sowieso nicht so rund. Vom Autokino habe er sich womöglich eine gute Starthilfe versprochen. "Klappt nur halb, meist bleibt der Wagen liegen, mit zwei Schauspielern vorn und drei hinten."

"Es ist nicht mehr 1969. Das ist das Traurige an diesem Abend, denn man hätte sich insgeheim gerne in vergangene Filmwelten geflüchtet und so getan, als wären es noch die Narrative der Gegenwart," schreibt Judith Engel für die taz (5.7.2016). Gefesselt fühlt sich Engel bereits vom Setting: "So fremd, so spannend kommt einem dieses Setting des Autokinos vor, das in einer Gegenwart von medialer Dauerberieselung seine Berechtigung verloren zu haben scheint." Im Stück selbst sah sie Pollesch-typisches: "Diskussionen zu Genderfragen, Authentizität und Liebe." Anderthalb Stunden lang sah sie Menschen zu, "die sich selbst spielen und die man selbst sein könnte."

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