Auf Beobachtermission

von Tilman Strasser

Köln, 11. Juli 2016. Eine Frau zerrt an ihrem Hund. Ein Mann mit Deutschlandtrikot radelt präzise Schlangenlinien über das Pflaster. Kinder spielen Ball, nach Regeln, die wahrscheinlich nur sie verstehen. Zwei Männer im Café unterhalten sich grimmig, als ein Windstoß dem einen das Kissen vom Nachbarsitz an den Kopf weht und damit beide verblüfft. Es ist was los auf dem Wiener Platz: Das Kölner Viertel Mühlheim ist bekannt für seine Gegensätze. Geschäftsmänner im Anzug strömen aus der U-Bahn, vorbei an hauptberuflichen Dosenbiertrinkern. In der Nähe liegt das Schauspiel, aber auch eine rekordverdächtige Dichte von 1-Euro-Shops. Dem Treiben ließe sich ewig zusehen - wenn nicht die Stimme aus dem Kopfhörer sagte: "Ich bin eine von uns. Und ich würde dich jetzt gern im Hotel Kaiser treffen."

Bedeutungsballast

Mit dem Kopfhörer fängt alles an. "WELTPROBEN – eine Versammlung" händigt ihn dem Besucher per Codewort aus und dirigiert ihn fortan über Funk durch den Stadtraum. Mal gilt es, dem Alltag einer Rentnerin nachzuspüren, indem ein geparkter Rollator in eine nahegelegene Apotheke gefahren und ein Rezept eingelöst werden muss. Mal darf einfach nur die Szenerie begutachtet werden. Und mal geht es eben ins Hotel, zwecks weiterer Instruktionen.

Weltproben 560 LennyRothenberg UDie Aufdeckung der Realitätsverschwörung mit Rollator und Kopfhörern © Lenny Rothenberg

Die Initiatorin Philine Velhagen von Drama Köln und ihr Team wollen "Die Stadt von der anderen Seite sehen" lassen. So zumindest lautet das Motto des Rahmenprojektes, bei dem auch das Schauspiel Köln und das Asphalt Festival 2016 mitmischen. Der Programmtext verspricht dabei etwas großspurig die "Aufdeckung der gigantischsten Verschwörung überhaupt. Unserer Realität!" Von Entlarvung ist die Rede, dem vielzitierten weißen Kaninchen soll in den Bau gefolgt werden - und das alles ist ein bisschen viel Bedeutungsballast für die kleine, aber überaus fein gearbeitete Beobachtermission, auf die das Projekt seine Zuschauer schickt.

Geschärfter Blick

Im Hotel Kaiser nämlich erhält die konspirative Kopfhörergruppe (mehrere werden versetzt durch den theatralen Parcours geschleust, eine besteht etwa aus zwölf Teilnehmern) Anweisung, ein paar gewöhnliche Handlungen nachzuspielen: Die einen sollen als Paar über den Wiener Platz schlendern, die anderen Passanten nach Feuer fragen oder telefonierend zu einem Biergarten eilen. Ein Reenactment also von Begebenheiten, die wohl wirklich schon ebenda stattgefunden haben, und spätestens, als das Ganze noch einmal wiederholt wird, durchdringt jede Geste die Inszenierung des Alltags mit seinen eigenen Mitteln. Das schärft den Blick für das Verhalten aller in der belebten Umgebung: Welche Bewegung wird als natürlich wahrgenommen, welche wirkt gefälscht? "WELTPROBEN" präsentiert mehrere solch erhellender Decodierungen, und das erfrischend unaufgeregt.

Dass die (wechselnden) Stimmen aus dem Kopfhörer ihre Gruppe zu einem verschwörerischen "Uns" zusammenraunen, dass sie den Ort zu einer spektakulären Entdeckung hochjazzen, scheint angesichts des Nuancenreichtums der Umgebung fast kontraproduktiv. Immer aber kriegt sich das theatrale Planspiel rechtzeitig wieder ein, etwa, indem es die Akteure schlicht ihre Beobachtungen schildern lässt und sie ihnen die Aufnahme anschließend noch einmal vorspielt. Am Ende ist der Welt zwar keine Maske heruntergerissen worden, aufregender und vielschichtiger wirkt sie allemal.

 

WELTPROBEN - eine Versammlung
Von und mit Alice Ferl, Mirco Monshausen, Anna-Maja Terävä und Philine Velhagen
Idee + Konzeption: Philine Velhagen, Text: Christian Bernhardt, Ausstattung: Cordula Körber, Dramaturgie: Felizitas Stilleke Kleine, Regieassistenz: Maria Richter, Produktionsleitung: Bela Bisom, Marina Zielke.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.asphalt-festival.de
www.drama-koeln.de

 

Kritikenrundschau

Thomas Hag von der Rheinischen Post (19.7.2016) schreibt: "Spannend ist das, rätselhaft und erhellend." Nur am Ende werde es etwas seltsam. "Ein junger Mann (unser Regisseur?) erhöht die Szenerie, stilisiert das urbane Geschehen zu einer Feier des Alltags." Das sei "fast schade, denn die Eindrücke, die Spaziergänge und die Orte hatten schon genügend Impulse geboten".

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