Es gibt keine Gnade

von Lena Schneider

Avignon, 11. Juli 2016. Die Carrière Boulbon fünfzehn Kilometer südlich von Avignon gehört zu jenen Spielstätten, in denen die Menschen automatisch so aussehen, als seien sie dem, was hier passiert, nicht gewachsen. Eine ungefähr vierzig Meter hohe, steile Felswand bildet die natürliche Kulisse. Darüber nur der Himmel. Um hierher zu kommen, müssen die Zuschauer in Busse verfrachtet werden, die sich einen schmalen Kiesweg entlang an Olivenhainen vorbeidrängen. Egal, was die Spieler auf dieser Bühne tun, die Felswand dominiert das Geschehen. Sie macht den Menschen zum Menschlein, sie sagt zu ihm: Wie sehr du dich auch anstrengst, es gibt Dinge, die größer sind als du.

Im Schnee

Die Carrière Boulbon ist ein ehemaliger Steinbruch. Fürs Theater erschlossen wurde sie 1985 für Peter Brook, der sein "Mahabharata" nicht im geschichtsüberfrachteten Papsthof zeigen wollte. Die hohe, schroffe Felswand hat die Aura eines Naturereignisses, ist aber das Ergebnis von jahrelanger menschlicher Plackerei: Wenn dieser Widerspruch sie nicht zu einem perfekten Ort für Dostojewski macht! Der Regisseur Jean Bellorini hat das erkannt und sich die Carrière als Ort für seine Fassung der "Brüder Karamasow" ausgesucht. Sechs Stunden lang lässt er seine Truppe hier gegen die ungerechte Übermacht der Felswand – oder auch: der Liebe, der Boshaftigkeit, des Glaubens – anspielen, anbrüllen und ansingen. Tombe la neige (Der Schnee fällt), Salvatore Adamos Kitschschlager von 1963, wird der Vatermörder Pawel Smerdjakow (Marc Plas) hier kurz vor Mitternacht in den nachtschwarzen Sommerhimmel jaulen, komisch und herzzerreißend. Während der Körper des Vaters langsam unter Kunstschnee verschwindet.

Karamazov 560 ChristopheRaynauddeLage uSchauspieler und Schicksale vor der gewaltigen Felswand © Christophe Raynaud de Lage / Festival d'Avignon

Alexej (François Deblock), der Gottsucher unter den drei Karamasow-Brüdern, sieht in rotem Mantel, hochgeschnürten Stiefeln und platinblondem Haarschopf aus wie ein ausgewachsener Bruder von Saint-Exupérys kleinem Prinzen. Kein Gotteskämpfer, sondern ein sanfter Zuhörer. Iwan (Geoffroy Rondeau), der intellektuelle Bruder, dessen Atheismus ihn in den Wahnsinn treibt, bleibt trotz zynischer Untertöne erstaunlich blass. Die Wandlung des Frauenhelden Dimitri (Jean-Christophe Folly) vom komödiantischen Großkotz zum um sein Leben Bangenden ist schon überzeugender. Wirklich groß ist Clara Mayer als die sowohl vom Vater Karamasow wie auch von Dimitri verehrte Gruschenka: nicht schön, sondern rau; nicht verliebt, sondern räudig; nicht stolz, sondern selbstverachtend, zerbrechlich und zerstörerisch: eine Naturgewalt. Gegen die Übermacht des Felsenschlunds, der ihr Leben ist, stemmt sie sich mit Kunstschnee.

Hochemotionales Theater, brachiale Komik

Vater Karamasow selbst hingegen ist, wie er selbst sagt: ein Buffo. Jacques Hadjaje spielt den von seinen Söhnen so gehassten schmierig, geldgierig, geil – aber letztlich als Clown. Auf seinen stillen Schneetod folgt eine Gesangsnummer, zur Zitter melodramatisch und hochkomisch hingerockt von Jules Garreau. Hochemotionales Theater, durchbrochen von brachialer Komik: das ist Bellorinis Theater. Mit dieser Mischung schafft er es, in der Pariser Banlieue Saint-Denis, wo er das Théâtre Gérard Philipe leitet, die Leute ins Theater zu holen.

Karamazov3 560 Christophe Raynaud de Lage uMit Live-Musik auf den Schienen © Christophe Raynaud de Lage / Festival d'Avignon

"Karamazov" zeigt: Es funktioniert auch in Avignon. Jean Bellorini hat auch hier wieder die Bühne selbst entworfen. Eine Bühne, die nicht versucht, mit der Naturbühne zu konkurrieren: ein einfacher, dunkler barackenartiger Bau, dessen Schiebetüren eine Art Musikprobenraum (hier wird live musiziert) und eine blau tapezierte Kammer (hier wird Vater Karamasow nachher einschneien) freigeben. Auch das Barackendach wird bespielt: Vor der Baracke zwei Schienen, auf denen flache Holzpodeste herein- und herausgefahren werden können. Die Vorgehensweise und auch der über große Strecken elegante, fließende Erzählrhythmus, der hierdurch möglich wird, erinnert an Ariane Mnouchkine.

Am Ende ist der Hoffnungsträger tot

Durch die Podeste entstehen auf einfache Weise und oft nur für wenige Minuten szenische Inseln, flüchtig wie die Erinnerungsschnipsel, die hier dargestellt werden. Ein Stuhl und ein paar Kerzenstümpfe stehen für den mönchischen Zufluchtsort Alexejs. Ein Stück gelbe Tapetenwand für die Wohnstatt der von Dimitri erst angebeteten, dann verstoßenen Katerina (Karyll Elgrichi). Und, als einzige der "Inseln" fast durchweg auf der Bühne: ein Kinderbett. Hier sitzt der neunjährige Iljuscha, der daran leidet, dass sein arbeitsloser Vater Snegirjow (Mathieu Delmonté in grüner Kutte als Dostojewski-Zwilling) von allen verspottet wird.

Der Darsteller des Iljuscha spaziert vor Beginn des Stücks über die Bühne und sieht sich neugierig das Publikum an. Am Ende ist er, der kindliche Hoffnungsträger, tot. Ein Nebenstrang in der Erzählung, aber in verknappter Form bringt er deren düstere Erkenntnis auf den Punkt. Es gibt keine Gnade, schon gar keine göttliche.

 

Karamazov
nach Fjodor M. Dostojewskijs "Die Brüder Karamasow"
Ins Französische übertragen von André Markowicz
Regie, Bühne und Licht: Jean Bellorini
, Textfassung: Jean Bellorini, Camille de La Guillonnière, 
Kostüme: Macha Makeïeff
, Musik: Jean Bellorini, Michalis Boliakis, Hugo Sablic


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Mit: Michalis Boliakis, François Deblock, Mathieu Delmonté, Karyll Elgrichi, Jean-Christophe Folly, Jules Garreau, Camille de La Guillonnière, Jacques Hadjaje, Blanche Leleu, Clara Mayer, Teddy Melis, Marc Plas, Geoffroy Rondeau, Hugo Sablic.
Dauer: 6 Stunden, eine Pause

www.festival-avignon.com

 

 

Kritikenrundschau

Jean Bellorinis Inszenierung nach Dostojewski enthalte schöne Szenen, gelange "aber zu keinen neuen Aspekten des Werks", so Jospeh Hanimann in der Süddeutschen Zeitung (25.7.2016) in einer Sammelrezension zu den Festspielen in Avignon.

Kommentare  
Karamazov, Avignon: Liebe und Versöhnung
Es gibt sie aber die Gnade, die man die göttliche nennt.

Der Roman endet für die Beteiligten mit einer Katastrophe: Sie sind entweder körperlich oder seelisch krank oder müssen in die Verbannung beziehungsweise aus Russland fliehen. Dostojewskis Hoffnungsträger für eine
N e u e m o r a l i s c h e G e s e l l s c h a f t ist der am Schluss
von den Jugendlichen umjubelte Alexei.
Aus ihrer Verstrickung können die Söhne nur befreit werden, indem sie ihre Schuld und die dafür auferlegte Sühne annehmen (auch wenn sie im
juristischem Sinne unschuldig sind) und statt egoistisch-egozentrisch nur um sich selbst zu kreisen, ihr Leben der "werktätigen Liebe" widmen.
Das ist Lebenssinn genug. Auf diesen Lebenssinn durch Sühne, Opfer und
Nächstenliebe weist auch das Motto des Romans hin:
"Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein - wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht." - Der Roman entfaltet eine Fülle tiefer Gedanken über die
christliche Religion und die in ihr aufgehobenen menschlichen Grundfragen
nach Schuld und Sühne. Leid und Mitleid, Liebe und Versöhnung.
Karamazov, Avignon: Widerspruch
Ich hab das ein bißchen anders gesehen:http://frauruth.de/im-theater-gewesen-geweint/
Karamazov, Avignon: Der ganz große Bogen
Bellorini schlägt mit seinem Ensemble den ganz großen Bogen und wagt sich daran, in etwas weniger als fünf Stunden mit klugen, behutsam gesetzten Strichen die wesentlichen Szenen und Streitgespräche von Dostojewskis 1200 Seiten-Wälzer „Die Brüder Karamasow“ auf die Bühne zu bringen.

In Berlin gab es in den vergangenen Jahren zwei Versuche, sich dem Werk zu nähern. Thorsten Lensing konzentrierte sich mit Starbesetzung (Ursina Lardi, Ernst Stötzner, Devid Striesow) auf die Nebenfiguren, verhedderte sich dabei auch auf Nebenschauplätzen, so dass die knapp vier Stunden deutlich mehr Längen als die französische Inszenierung hatten.

Frank Castorf wirbelte die Handlungsbruchstücke wild durcheinander, bediente sich nach Belieben einiger Motive und setzte Schauspieler und Publikum einem mehr als sechsstündigen Dostojewski-Exerzitium aus. Das Lohnende an Castorfs Inszenierung ist, dass sein Ensemble die Überspanntheit und Zerrissenheit der Figuren, die Dostojewski als „Nadryw“ bezeichnete, auf die Bretter der Volksbühne knallt. Wer könnte eindrucksvoller leiden, hingebungsvoller zetern und leidenschaftlicher krächzen als Kathrin Angerer und Sophie Rois, die Diven vom Rosa-Luxemburg-Platz und ihre männlichen Kollegen?!

Die Stärke von Bellorinis Abend ist, dass er die Vorlage wirklich ernst nimmt und das von Dostojewski erdachte Panorama auf der Bühne Station für Station miterleben lässt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/08/10/karamazov-hervorragende-dostojewski-adaption-beim-70-festival-in-avignon/
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