Deutschland sucht den Super-Siegfried

von Alexander Jürgs

Worms, 15. Juli 2016. Der Applaus ist gewaltig, lauter Jubel ist zu hören. Ein Junge rennt los, mit dem Smartphone in den Hand. Doch ein Ordner drängt ihn ab. Der, den er erreichen will, posiert jetzt für die Kameras. Jogi Löw ist nicht der einzige Prominente, der bei der Uraufführung von Albert Ostermaiers neuem Stück dabei sein will. Ein braungebrannter Mario Adorf sitzt am Biertisch und plaudert, Marie-Luise Marjan ("Mutter Beimer") hält für die Fotografen das Programmheft in die Luft. Ein paar Meter daneben wird Julia Klöckner von Frauen in Abendkleidern umringt, die die CDU-Politikerin zu einem Selfie überreden wollen. Es gibt Winzersekt und Schokolade. Die Yellow Press ist gegenüber der Theaterkritik eindeutig in der Überzahl.

Gold1 560 DavidBaltzer uUwe Ochsenknecht als Produzent Trauer © David Baltzer

Im rheinland-pfälzischen Worms, wo die Kneipen "Zum Hagen" oder "Zum Siegfriedbrunnen" heißen, wo man im Hotel "Kriemhilde" absteigen kann, sind die Nibelungenfestspiele das große Ding. Seit 2002 gibt es das Freilicht-Spektakel vorm imposanten Kaiserdom. Der Fernsehregisseur Dieter Wedel ("Der große Bellheim", "Der König von St. Pauli") hat es ins Leben gerufen und bis 2014 geleitet, nach ihm hat Filmproduzent Nico Hofmann ("Unsere Mütter, unsere Väter") die Intendanz übernommen. Wedels Idee, bekannte Fernsehdarsteller für das Festival zu engagieren und die Medientrommel zu rühren, ist er treu geblieben. Zunächst spielte man in der Nibelungen-Heimat das Epos in einer Neubearbeitung von Moritz Rinke, später kamen auch Stücke dazu, die sich dem Stoff auf sehr freie Weise annäherten. In diese Kategorie fällt nun auch Albert Ostermaiers "Gold". Es ist ein wunderbar irrlichterndes Werk, eine rabenschwarze Komödie, kein glatter Open-Air-Festivalstoff.

Klamauk-Karikaturen

Ostermaier erzählt darin von aus dem Ruder laufenden Dreharbeiten zu einer Nibelungen-Verfilmung. Vor dem Wormser Dom soll "Gold" entstehen, ein neuer deutscher "Nationalfilm", ein Streifen, der nicht weniger als "Filmgeschichte schreiben" soll. Ein sterbenskranker Produzent will sich damit ein Denkmal setzen. Ein junger Regisseur kitzelt aus seinen Schauspielerinnen alles heraus, indem er sie bewusst gegeneinander anspielen lässt, Brünhild und Kriemhild hat er jeweils gleich doppelt besetzt. Als Siegfried-Darsteller lässt er ein Testosteron-Monster mit Migrationshintergrund, eine Art Bushido-Imitator, antreten: Mohammed Söder (gespielt von Ismail Deniz).

Gold3 560 BernwardBertram uDominic Raacke als Klatschreporter, Josef Ostendorf als Drehbuchautor Weide © Bernward Bertram

Vor Kalauern schreckt Ostermaier in seinem Stück nicht zurück. Da reimt sich Prostata auf Prosa, da wird über die "fucking Metaebene" sinniert, da heißt der Filmproduzent mit Nachnamen Trauer und sein Autor Weide. Der Autor macht auch kein Geheimnis daraus, bei welchen Vorbildern er sich bedient hat, die Namen und Titel fallen allesamt in seinem Stück. Michael Frayns Theater-Satire "Der nackte Wahnsinn" spielt eine gehörige Rolle, Rainer Werner Fassbinder scheint auf, genauso wie "Apocalypse Now" von Francis Ford Coppola (der Wormser Bürgermeister trägt in dem Stück den Namen Franz Koppoler). Und natürlich fühlt man sich oft auch an Helmut Dietl erinnert, muss an die eitlen Selbstdarsteller aus "Rossini" und an die Geltungssüchtigen aus "Kir Royal" denken. Dominic Raacke, bekannt als Kommissar Till Ritter im Berliner "Tatort", gibt einen Klatschreporter als dämonische Borderliner-Variante von Baby Schimmerlos.

Seelenstriptease in der Glasvitrine

Nuran David Calis, der am Schauspiel Köln mit seinen Stücken über die "Glaubenskämpfer" und über den Nagelbombenanschlag der NSU-Terroristen in der Keupstraße große Begeisterung hervorgerufen hat, inszeniert "Gold" mit viel Tempo und in starken Bildern. Die impulsive Balkan-Beats-Musik der Brüder Vivan und Ketan Bhatti treibt die Inszenierung voran, die Musiker laufen mit Kontrabass, Tuba und Trompeten, Akkordeon und Geigen über die Bühne und durch die Zuschauerreihen. Die Szenen werden zu einem collagenhaften Eindruck schnell aneinander geschnitten. Josef Ostendorf sticht als wehleidig-larmoyanter Drehbuchautor Charlie Weide aus dem Ensemble heraus, Uwe Ochsenknecht hat in der Rolle des todkranken Produzenten beeindruckende Momente.

Gold 560 DavidBaltzer uBlut auf dem Selbstdarstellungs-Glaskasten © David Baltzer

 

Ein Glaskasten, in dem sich Garderoben befinden, ist vor dem Dom aufgestellt. Man beobachtet, wie die Männer darin im Spiegel ihre Körper taxieren, wie sie sich parfümieren, wie sie Klimmzüge machen. Parallel zum Kasten verlaufen die Schienen für den Kamerawagen. So können gestochen scharfe Live-Videobilder von den Eitelkeitsritualen entstehen, übertragen werden sie auf eine große Leinwand vor dem Dom. Ganz nah an die Gesichter zoomt die Kamera, wenn die Darsteller die Monologe aus Ostermaiers Stück sprechen. Hier zeigen sich die Sorgen der Figuren, die Brüche. Die ältere Kriemhild-Darstellerin (Katja Weitzenböck) spricht von der Angst, dass ihre Vergangenheit als Porno-Schauspielerin bekannt werden könnte. Josef Ostendorfs bemitleidet sich in der Rolle des Drehbuchautors Weide als "schwitzende Fettecke mit Filzhut". Je länger der Abend, desto verzweifelter die Geschichten.

Am Ende steht ein Untergangsszenario, eine vermeintliche oder tatsächliche Bombendrohung sorgt für Aufruhr. Die Bühne wird mit Wasser geflutet, in der Dunkelheit wirkt es tiefschwarz. Im Glaskasten spritzt das Blut, er wird zum Ort eines Gemetzels. So schließt das Stück wie auch der Nibelungen-Stoff. Nur wilder, nur schräger.

Gold
von Albert Ostermaier
Uraufführung
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Amélie von Bülow, Licht: Kevin Sock, Komposition: Vivan und Ketan Bhatti, Video: Geraldine Laprell, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Uwe Ochsenknecht, Vladimir Burlakov, Josef Ostendorf, Dominic Raacke, Anna Rot, Joy Maria Bai, Alexandra Kamp, Ayse Bosse, Katja Weitzenböck, Constanze Wächter, Michaela Steiger, Dennenesch Zoudé, Ismail Deniz, Sascha Göpel, Maximilian Laprell, Heiner Lauterbach.
Dauer: 3 Stunden und 15 Minuten, eine Pause

www.nibelungenfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Als der Abend vor dem Dom schon in vollem Gang war, habe sich im Publikum flüsternd die Nachricht vom Putschversuch in der Türkei verbreitet, schreibt Eckhard Fuhr auf Welt.de  (18.7.2016). "Es war aber nicht so, dass das die Aufmerksamkeit für das Bühnengeschehen geschmälert hätte, sondern es förderte im Gegenteil die Vermutung, dass der teils grelle Klamauk dort vor der erleuchteten Sandsteinfassade des romanischen Kaiserdoms mit unserer aus den Fugen geratenen Welt mehr zu tun haben könnte, als es auf den ersten Blick den Anschein hat." Regisseur Calis beweise mit dieser Inszenierung, "dass auch in dem groben Format Freilichttheater hochkomplexe Stücke gezeigt werden können". Ein besonderes Hoch widmet der Kritiker den virtuosen, als Janitscharentruppe kostümierten Bühnenmusiker aus Bläsern und Streichern, die, "immer präsent, das Geschehen wie der Chor in der antiken Tragödie kommentiert, vorantreibt, untermalt und überhaupt dafür sorgt, dass der Spannungsbogen nicht abbricht!"

Premierenfeier, Prominentenrumme, Blitzlichter - und doch: "Der Kern des Ganzen hier ist das Theater selbst, in seinem ganzen überbordenden Irrsinn", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (18.7.2016). Wedel wollte moderne Spiele und suchte Hilfe bei Autoren wie John von Düffel oder Moritz Rinke. Hofmann habe nun Albert Ostermaier, der sich einen Regisseur wünschte, "der beides kann, Film und Theater". Calis entwirfe die Dreharbeiten als immerwährende Party "mit enervierender Balkankapelle, die stur das Immergleiche spielen muss, um den Fasching am Laufen zu halten". Ganz nah komme man dann in Close-ups auf der riesigen Leinwand den Darstellern, erst live, dann in vorgefertigten Bildern, die ausschauen, als seien die Schauspieler aus sehr hartem Holz geschnitzt." Immer dichter werde die Aufführung, die lange Zeit ihren Rhythmus nicht findet auf der Riesenbühne, auf der die Nibelungen-Darsteller wohnen wie die Laborratten hinter Plexiglas. "Doch eben, je dichter, desto irrer, die Grenzen zwischen den Ebenen verschwinden völlig, es gibt ein Gemetzel, einen roten Blutrausch, als wäre man auf Etzels Burg."

"Nuran David Calis führt die Figuren auf dem schmalen Grat zwischen Egotrip und Klamotte", so Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.7.2016). Ein Glücksgriff sei das zehnköpfige Musikerensemble von Vivian und Ketan Bhatti, das mit Klezmerreigen, Soundflächen und Lyrismen das Geschehen kommentiere. "Als der Fernsehkommissar Dominic Raacke als Klatschreporter auftritt, erklingt als sein Leitmotiv das Tatort-Thema." Nur schade, wie wenig sich zwischen den Figuren abspielen würde. "Entsprechend Ostermaiers Diagnose, wonach unsere Gesellschaft narzisstisch gestört sei, besteht sein Stück aus Lebensschauspielern in expandierenden Ich-Blasen", die sich alle als Mittelpunkt der Welt fühlen würden. Die Längen werden allerdings nach der Pause immer länger.

Es handelt sich aus Sicht von Wolfgang Höbel auf Spiegel-Online (27.7.2016) um "ein krass überdrehtes Spiel um geniale Einfälle, Darsteller-Eitelkeit und künstlerische Verblendung, das sich Ostermaier da ausgedacht hat": ein "dreieinhalb Stunden langes Experiment, wie viel Schabernack man mit einem deutschen Sagenstoff anstellen kann, eine Expedition zum Checkpoint Siggi. Der Autor Ostermaier will manchmal auf halbem Weg umdrehen und dichtet seinen Figuren viel zu komplizierte Tragödien und Seelenabgründe an. Der Regisseur Nuran David Calis aber tut das einzig Richtige und zieht den Irrsinn bis zum Ende durch."

Die erste Hälfte des Abends stellt Christian Gampert vom Deutschlandfunk (Sendung "Kultur heute" am 16.7.2016) durchaus zufrieden: "geschickt gemachtes Freilichttheater", es gibt seiner Beobachtung zufolge Szenen, die zwischen Soap Opera und realem Wahnsinn schwanken. Die "Balkan-Brass-Kombo" findet er zwar großartig aber irgendwie auch fehlbesetzt: "man weiß nicht recht, warum die ständig mit Schmackes und guter Laune herumtuten, da der ganze Rest doch eher Kampfgetümmel um die besten Rollen und die Gunst des Regisseurs ist." Nach der Pause fällt das Stück aus Gamperts Sicht in sich zusammen. "Albert Ostermaier, der Torwart der deutschen Autoren-Nationalmannschaft, hatte übrigens einen sympathischen Stargast im Publikum: Jogi Löw. Der hat gerade ein Finale verpasst. Das muss man von Ostermaier leider auch sagen."

 

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