Candide oder Die letzte aller möglichen Welten - An den Cammerspielen Leipzig führt Rico Dietzmeyer uns in den Abgrund
Voltaire-Volte
von Tobias Prüwer
Leipzig, 20. Juli 2016. Der Abgrund verschlingt am Ende alle. Weder Monarchie noch Marktwirtschaft können das Unheil auf der Freiluftbühne der Leipziger Cammerspiele aufhalten. Regisseur Rico Dietzmeyer lässt beide Ordnungen vielmehr als Motoren auftreten, die in seiner Voltaire-Volte "Candide oder Die letzte aller möglichen Welten" alles in den Orkus schießen.
Auf den Schlund hin zusammengestrichen
Der Abgrund klafft mittig hinten an der Bühne. Aufgeworfene Bretterbruchstücke markieren ihn, dienen zwischendurch als Palisadenzaun und Klettergerüst auf der sonst leeren Spielfläche. Diese ist im Rücken von schwarzem Tuch abgehangen. Seichter Pop faded aus, Dramatik wird mit dem E-Piano live eingespielt und eine riesengroße braune Maske wird aufgezogen: Willkommen in Saxonia, der besten aller möglichen Welten. Das behaupten zumindest Herrscher wie Bewohner des Landes. Frei nach Voltaires Satire "Candide oder der Optimismus" regiert sich realistisch gerierende Zuversicht nach Leibniz die gesellschaftliche Stimmung. Die Grundkonstellation hat Dietzmeyer beibehalten: Der naive Candide wirbt um die adlige Cunégonde, wird verbannt und trifft sie nach einem Abstecher ins paradiesische El Dorado in Neu Saxonia wieder. Den Rest hat der Regisseur zusammengestrichen und für den Stoff eine eigene Sprache gefunden.
Und die hat es in sich. Jenseits des seichten Witzes, für den das Sommertheatergenre berüchtigt ist, hat Dietzmeyer den Text mit Wortakrobatik und Sprachspielen gespickt. Die Darsteller tragen sie mit einem Verve vor, der begriffliche Krücken wie Laien- oder Amateurtheater ad absurdum führt wie Voltaire einst Leibniz’ beschwichtigende Optimismusphilosophie. Die Cammerspiele sind ein Off-Ort, wo von ersten Theaterschritten bis zum Freelancer-Auftritt alles möglich ist. In dieser Inszenierung ist aber überhaupt nicht auszumachen, wer da auf der Bühne von der Schauspielerei lebt beziehungsweise davon leben kann, wer nicht – und wer das überhaupt anstrebt und Theater nicht als Hobby betreibt. Und das obwohl mit Lola Dockhorn eine dabei ist, die für den Deutschen Schauspielerpreis als beste Nachwuchsschauspielerin nominiert wurde.
Noch sind sie optimistisch: Karsten Zahn, Philipp Nerlich, Anuschka Jokisch und Lola Dockhorn
© Dorothea Wagner
In ihren grotesk überzeichneten Rollen gehen sie allesamt spielfreudig, ja: spielwütig auf. Marie Wolff changiert zwischen der Baronin im weltgewandten Chique und einer zickig-spröden Mamsell. Philipp Nerlich turnt akrobatisch als kraftstrotzender Cacambo – die heimliche Hauptrolle, weil der einzige vernünftige Charakter – über die Bretter, gibt mit hübsch kantigen Gesichtsturbulenzen seinen Springinsfeld.
mimisch-gestische Macke
Auf Körperlichkeit setzt die ganze Inszenierung. Alle Rollen haben, ums mal salopp zu formulieren, eine mimisch-gestische Macke. Mitunter schroff in der Tonalität – als dicht dran sitzender Zuschauer fühlt man sich fast angeschrien – und immer ein bisschen drüber, agiert jeder in verrenkungsreicher Expressivität. Stummfilmästhetik und die Wandertheatertradition à la Commedia dell’arte werden zititiert. Ständige Stellungswechsel, überall auf der Bühne wird gespielt, schaffen visuelles Tempo. Absolut in die Vollen geht diese Inszenierung und die Zurückhaltung von jeder Zurückhaltung geht auf.
Dass dieser Dampfkessel Buntes nicht zum beliebigen Allerlei explodiert oder ins Komödchen abschmiert, liegt an den genau gesetzten Treffern. Timing, Dramaturgie und Einschläge der Regieeinfälle stimmen. Philosophische und gesellschaftskritische Seitenhiebe – "Produktivität ist die neue Kausalität" – kommen auf Taubenfüßen daher. Auch eine über die Saxonia-Lokalisierung und manche Anspielung – so heißt es "deutsche Schulter" statt der kalten, die gezeigt wird – touchierte nationalchauvinistische Stimmung im Pegida-Freistaat ist nicht moralinsauer, sondern wohl dosiert. Ebenso wie die Witze und Pointen, in die Rico Dietzmeyer seine Satire verpackt. Der dynamische Ausnahmezustand, der diese beste aller möglichen Welten in die letzte, ja: das Letzte verwandelt, entfesselt einen mitreißenden Sog. Auch wenn der in den Abgrund führt.
Candide oder Die letzte aller möglichen Welten
von Rico Dietzmeyer und Sina Neueder nach Voltaires "Candide oder der Optimismus"
Regie: Rico Dietzmeyer; Dramaturgie: Sina Neueder; Bühne: Lisa-Maria Totzke; Kostüm: Henrike Katharina Fischer, Maske: Franziska Schubert, Martin P. Graf, Live-Musik: Lothar Hansen.
Mit: Lola Dockhorn, Anuschka Jokisch, Philipp Nerlich, Eric Schellenberger, Chris Strobl, Marie Wolff, Karsten Zahn.
Dauer: 2 Stunden und 20 Minuten Minuten, eine Pause
www.cammerspiele.de
Mathias Wöbking schreibt in der Leipziger Volkszeitung (22.7.2016), man könne einfach zwei Stunden lang wunderbaren Spaß haben: sich an Spielwitz, atemraubenden Dialogen, im besten Sinne eingängiger Musik und einer temporeichen Geschichte voller Intrigen erfreuen. "Oder man konzentriert sich auf die Denkmodelle, über die die Figuren pausenlos streiten." Die Stückfassung bringe den Wettstreit der Ideologien auf einen aktuellen Stand, ohne dass die sommerliche Leichtigkeit verloren gehe.
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