Die Zerbrechlichkeit des Neuen

von Esther Boldt

29. Juli 2016. Am Ende war das A. Zwei Kletterer erklommen die Fassade des Bockenheimer Depots, demontierten die zwei Ts des TAT und ließen nur das A stehen – als Symbol eines Neuanfangs. Leider blieb dieser eine Utopie: An einem milden Abend im Mai 2004 fand die letzte Performance im Frankfurter Theater am Turm (TAT) statt, "For urbanites – nach den großen Städten" des Performancekollektivs andcompany&Co., die sich mit Stadtsterben und Theatertod beschäftigte.

TAT HenschelSeither klafft in der Frankfurter Theaterlandschaft eine Lücke. Die Pläne für einen Kulturcampus auf dem ehemaligen Universitätscampus in Bockenheim, der in Sichtweite des ehemaligen TAT einen neuen Ort für die Darstellenden Künste schaffen sollte, versinken im Schweigen der verantwortlichen Politiker, während um den Campus herum hochpreisige Wohnungen und Büros in den Himmel wachsen. Und das Frankfurt LAB, eine gemeinsame Proben- und Spielstätte von Ensemble Modern, Mousonturm, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Hessischer Theaterakademie und Dresden Frankfurt Dance Company, hangelt sich aus Mangel an einer institutionellen Förderung finanziell von einem Jahr zum nächsten – und ist wenig geeignet, mit dem TAT verglichen zu werden, da es keine eigene künstlerische Leitung besitzt.

Wegbereiter avantgardistischer Theaterformen

Wie entstehen eigentlich innovative Kunstinstitutionen? Was macht sie aus? Wie entwickeln sie sich über Jahrzehnte? Und wie enden sie? Zwölf Jahre nach dem Wegsparen des TAT ist im Henschel-Verlag ein sehr lesenswertes Buch erschienen, das all diese Fragen facettenreich verhandelt. "Das TAT. Das legendäre Frankfurter Theaterlabor", herausgegeben von Sabine Bayerl, Karlheinz Braun und Ulrike Schiedermair, bietet einen umfassenden Überblick über die ästhetische wie politische Geschichte des Hauses sowie der lokalen Kulturpolitik.

In einem so umfangreichen wie interessanten Essay zeichnen Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi die Geschichte des Hauses nach: Seine Anfänge 1953 als eine Landesbühne, die sich auf regionale Bildungsarbeit konzentrierte und die in den 1960er Jahren unter dem jungen Leitungsteam Claus Peymann und Wolfgang Wiens zu einem politisch orientierten Theater wurde. Nach einer kurzen Episode unter Leitung des Theater- und Filmregisseurs Rainer Werner Fassbinder und seiner Crew 1974/75 erreichte das TAT 1985 bis 1996 seine Glanzzeit als "Schauplatz und Wegbereiter avantgardistischer Theaterformen", wie Lehmann und Primavesi schreiben. René Pollesch und Stefan Pucher schufen in der experimentellen Nebenbühne Daimlerstraße ihre Arbeit, internationale Theaterschaffende wie Wooster Group, Needcompany, Robert Lepage, Jan Fabre, Robert Wilson und die BAK-Truppen wurden früh vom TAT koproduziert und gefördert.

Mitbestimmung in der alten Bundesrepublik

Die Eingliederung als vierte Sparte der Städtischen Bühnen und der Umzug in das riesige, schwer bespielbare ehemalige Straßenbahndepot leiteten ab 1995 ein "langsames Sterben der Institution TAT" ein. Sie verlor ihre Eigenständigkeit, Tom Stromberg verließ das Haus. Von 2002 bis 2004 erlebte es unter der Künstlerischen Leitung des Choreografen William Forsythe noch einmal eine Hochzeit, verwandelte dieser es doch in einen tatsächlich öffentlichen Ort, an dem sich tagsüber die Kinder aus der Nachbarschaft trafen und abends die verschiedensten Künstlercommunities ihre Arbeiten realisierten.

Neben Überblicksartikeln zu den verschiedenen Phasen des TAT versammelt das sorgsam herausgegebene Buch Dokumente aus 51 Jahren Theatergeschichte: Zeitungsartikel, künstlerische Manifeste, Plakate und Fotografien. Ein unfassbarer Reichtum und eine tolle Lektüre, die natürlich auch einen Streifzug durch die deutsche Theatergeschichte darstellt, ein Wiedersehen mit der alten Bundesrepublik, mit Günther Rühle, Peter Iden und Peter Handke, mit der Politisierung der 1970er Jahre, in denen natürlich auch hier die Mitbestimmung erprobt wurde. Man durchquert schwelgend diese Jahre mit Fassbinder und seiner Familie, man erlebt die Internationalisierung und die Öffnung für freie Gruppen in den 1980er und 1990er Jahren.

Möglichkeitsräume im Fadenkreuz der Kulturpolitik

Die ästhetischen Impulse und Entwicklungen strahlten in die gesamte (deutsche) Theater-Republik aus. Und es wird überdeutlich, wie fragil "innovative" Kunstinstitutionen sind und wie abhängig von der Kulturpolitik, die diese Möglichkeitsräume für Experiment und Scheitern durch Vorschussvertrauen und Offenheit erst schaffen kann. Sie bestimmt über ihr Werden und Vergehen, über Anerkennung und Vernichtung – stehen diese Institutionen doch, wenn es zu finanziellen Engpässen oder parteipolitischen Konflikten kommt, auf der Streichliste meist ganz oben.

 

Das TAT. Das legendäre Frankfurter Theaterlabor
Herausgegeben von Sabine Bayerl, Karlheinz Braun, Ulirke Schiedermair
Henschel Verlag, Leipzig 2016, 208 S., 29,90 Euro

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