Gogol, Gags und Gulag

von Tim Schomacker

Osnabrück, 20. August 2016. Schöne Theke. Lang und schwarz, mit dunklen Hockern davor. Dahinter Regale mit winzig leuchtendem, mit Transistorradio, Pokal und Fernseher. Daneben ein graues Telefon an der Wand. Mit Wählscheibe. Darüber ein langer schwarz eingefasster Leuchtkörper. Der Wirt ist weg. Verstorben vor drei Wochen, wie sich später herausstellt. Der Schankraum öffnet sich trapezförmig Richtung Publikum. Die Wände in diffus dunklem Grün. Unten gesäumt von dunkelbraunen Paneelen, deren breiter Wandstreifen gelegentlich mit einer Tür von nämlicher Farbe und Maserung nach oben ins Grün hinausgreift. Der Raum ist wichtig, denn dieser Abend hat nur den einen.

 Diese ganze strukturelle Verfilztheit

Der Abend beginnt mit einer Art Tableau vivant. Der Vorhang wird hochgezogen. Für anderthalb Minuten, vielleicht weniger, schaut man ins Herz einer Kleinstadt. Jemand schläft am Tisch, eine kleine Keilerei ist im Gange. Grunzen, Lachen, noch keine Worte. Eine Tür wird aufgestoßen, eine Geldübergabe scheint stattzufinden. Rausch- und Rauchschwaden. Bevor man sich einen Reim drauf machen kann, geht der Vorhang wieder runter. Wieder schwarz. Leise Zitternd, als hätte man etwas ins garstige Auge geblickt. Der Schankraum ist gemeinsames Terrain all jener, die in der Kleinstadt etwas zu sagen haben. In gewisser Weise ist er jene russische Kleinstadt, über die Gogol seine satirischen Reiter hinwegfegen lässt. Zumindest verkörpert er sie. Das fängt Dominique Schnizer an seinem ersten Premierenabend als leitender Schauspielregisseur präzise ein mit seinem Eröffungsbild.

revisor 3 560 Marek Kruszewski uShowdown in der Kleinstadtkneipe  © Marek Kruszewski

Und mit diesem ersten Eindruck lässt er uns knapp zwei weitere Spielstunden dann ziemlich im Regen stehen. Weil er zwischen dem pointierten Eingangs- und einem ebenso präzisen Schlussbild nicht wirklich verrät, was er mit Gogols "Revisor" eigentlich genau anfangen will. Heute. Weil er das Komödiantische der Gogol-Konstellation (was ja aber auch das Offensichtliche ist) derart in den Vordergrund kehrt, dass die Gegenwart dabei eigentümlich in Vergessenheit gerät. Auch wenn das Ensemble ihm dabei bereitwillig bis virtuos folgt. 

Eine Handvoll Putin-Anspielungen hier, eine Aufzählung Post-Gogolscher russischer Großprosa dort, ein Telefonapparat und ein Gulag, an dem sich der besorgte Provinzler halb verschluckt, reichen einfach nicht hin. Jedenfalls nicht, wenn man aus der supersimplen Ausgangssituation des "Revisors" etwas für jetzt einfangen will: Ein Petersburger Beamter, dem auf der Heimreise zum Papa, der ihn eh für einen Nichtsnutz hält, das Geld ausgeht, wird fälschlich für den angekündigten Überprüfungsabgeordneten aus der Hauptstadt gehalten. Woraufhin alle Amts- und Würdenträger der Kleinstadt ihn umgarnen und bestechen – und so ihre ganze strukturelle Verfilztheit offenbaren, die sie eigentlich – gemeinschaftlich – unter dem Teppich hatten halten wollen.

Souverän abgestoppte Halbsätze

Thomas Kienasts basslastige Stimme wummert im Versuch, die Schadensbegrenzung zu managen, grundierend durchs Geschehen. Er reißt sich die Fellmütze vom dauergerauften Bürgermeisterhaar, kieckst wiederholt ein hübsch leitmotivisches "Scheiße" ins Kleinstadtorchester. Hübsch die Erstbegegnung mit dem vermeintlichen Revisor Chlestakow. Wie Boxer im übergroßen Ring umschleichen sich Kienast und Janosch Schultes Chlestakow. Beide denken, der andre will ihm übel, bis beide nach reichlich souverän abgestoppten Halbsätzen gewissermaßen jenen Mythos mit Wodka besiegeln, der den Stein im Rollen hält. Hier hängt tatsächlich so etwas wie die Anatomie eines – dann willfährig akzeptierten – Missverständnisses im Raum. Ähnlich wie Christina Doms dezent irmhermmanneske Ausgestaltung der Liebes- und Leibesbedürftigkeit (vulgo: Sex) der Bürgermeister-Gattin Anna Andrejewna ein unangenehmes erotisches Flirren in den Einzigraum hineinzelebriert.

revisor 1 560 Marek Kruszewski uZu grell oder nicht grell genug? Valentin Klos, Marie Bauer, Thomas Kienast, Stefan Haschke, Klaus Fischer. © Marek Kruszewski

Nur werden dann gleich wieder Türen um Türen polternd auf- und zugestoßen, durchschritten, durchrannt. Wird die verwechselungskomödiantische Konstellation auf gehobenes Boulevard hinuntergehievt. Was im Zweifel bedeutet: entweder zu grell – oder nicht grell genug. Zu sehen bei Anna Andrejewnas Tochter Marja (Marie Bauer), die im Begehrenswert-Contest mit Mama letztlich arg bieder am Rüschenrockzipfel nesteln muss. Beim Nervosität mehr zeigenden als spielenden Kratzen am roten Pullover des Schuldirektors Chlopow (Niklas Bruhn), beim herzigen Geschäftsleuteduo Dobtschinskij und Bobthschinskij, das wirken muss, als hätten trainingsbeanzugte Kleinkriminelle einen Mario Barth gefrühstückt. Oder Chlestakows Monolog über sein Petersburger Leben auf großer Spur, der viel witziger wäre – wenn er weniger witzig daherkommen würde.

Schließlich markiert er jenen Punkt, an dem der Nicht-Revisor geradezu selbst hineinstrudelt wird in die vorgeschlagene Amtsanmaßung. Gogols gezielt skurrile Typisierung wird an diesem Abend über weite Strecken einem harmlosen Knallchargentum geopfert. Schade – aber das kann man ja revidieren.

 

Der Revisor
von Nikolai Gogol
Deutsch von Arina Nestieva
Regie: Dominique Schnizer, Bühne, Kostüme: Christin Treunert, Dramaturgie: Jens Peters.
Mit: Marie Bauer, Niklas Bruhn, Christina Dom, Klaus Fischer, Ronald Funke, Stefan Haschke, Cornelia Kempers, Thomas Kienast, Valentin Klos, Andreas Möckel, Janosch Schulte.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause.

www.theater-osnabrueck.de

 

Kritikenrundschau

Dominique Schnizer nehme Gogols "Revisor" "als Vorlage für temporeiches Schauspielertheater", schreibt Stefan Lüddemann in der Neuen Osnabrücker Zeitung (22.8.2016). Die Aufführung habe "Kraft und Verve". Schnizer stelle sich "als Schauspielchef vor, der sein neu formiertes Ensemble sofort in Bestform gebracht hat. Das macht Lust auf mehr." Alle Darsteller überzeugten, agierten gar "auf den Punkt genau", und doch müssten "sie einem Schauspielerkollegen den Vortritt lassen. Niklas Bruhn hat als Schuldirektor Chlopow nur kurze Textpassagen zu sprechen, entfaltet aber dennoch mit intensivem Körperspiel das packende Porträt eines Gehemmten und Verklemmten."

 

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