Der letzte Atem der Kreatur

von Andreas Wilink

Bochum, 1. September 2016. Für Alain Platel, den gelernten Orthopädagogen aus Gent, und sein spirituelles, ergreifendes und rüdes Körpertanztheater hat der Begriff Erbarmen entschiedene Bedeutung. Das Integrieren einer sozial herben Wirklichkeit gehört zum Charakteristischen von Platels les ballets C de la B. Der Mann der Vorstädte, Heime, Straßen, Ghettos hebt Grenzen auf. Seine Tanzabende sind Befreiungstheologie – Passionsspiele mit österlichem Hoffen. Zur Ruhrtriennale unterhält Platel seit ihrer Gründung durch Gerard Mortier innige Beziehungen. Mit "Nicht schlafen" zeigt das NRW-Festival Platels vierte Produktion, begonnen mit der Mozart-Suburb-Performance "Wolf", gefolgt von Monteverdis introspektiver "Marienvesper" und Pitíé! Erbarme Dich!, angelehnt an Bachs "Matthäus-Passion".

"Nicht schlafen" wurde inspiriert von Philipp Bloms "Der taumelnde Kontinent". In der sozialpsychologischen und kulturgeschichtlichen Betrachtung der Belle Epoque vor der "Urkatastrophe" des Ersten Weltkriegs kreieren Psychoanalyse, Industrialisierung, Technik und Wissenschaft, weibliche Emanzipation und die Künste das Experiment Moderne. Deren Provokationen, Skeptizismus, Formauflösungen etc. führen zur Verunsicherung konservativer Kräfte und zu allgemeiner Seelenverspannung, die wiederum in "aggressive Zurschaustellung von Männlichkeit, Militarismus, Imperialismus und Kolonialismus" umschlug und falsche Selbstversicherungen und die Hybris aus gefühlter oder tatsächlicher Schwäche beförderte.

Der kentaurische Pakt ist am Ende

Oft – zuletzt in Tauberbach – bildete für Platel die Musik von Johann Sebastian Bach den Echoraum. Hier nun ist es die von Gustav Mahler, des spätromantischen Krisen-Diagnostikers, des Juden im katholischen Wien, des Freud-Patienten, Chaos-Koordinators und Ekstatikers. Elemente aus seinen neun Symphonien (mit Ausnahme der Achten) werden eingespielt bzw. in Soundscapes zitiert und gemixt mit afrikanischer Musik, der Platel in der Arbeit zu seiner Produktion Coup Fatal begegnete.NichtSchlafen1 560 ChrisVanderBurght uSich-Verknäueln und Verklammern: les ballets C de la B © Chris Van der Burght

Eine weitere symbolische Setzung sind Berlinde de Bruyckeres Skulpturen. Auf einer Holzpalette liegen vor einem den Bühnenraum begrenzenden zerschlissenen Vorhang drei präparierte tote Pferde wie Schlachtopfer auf einem Altar. Sie bezeugen das Ende des "kentaurischen Pakts" (Ulrich Raulff) zwischen Ross und Reiter, Herrn und geknechtetem Tier. Aus dem Kunstspeicher taucht sogleich Picassos "Guernica"-Gemälde auf, in dessen Zentrum ebenfalls ein zermartertes Pferd Leidensklage und -anklage erhebt.

Ins Verheißungsvoll-Ungeheure

Eine scharf umrissene Erzählung gibt es nicht. Platel und die aus acht Tänzern und einer Tänzerin bestehende brillante Compagnie entwickeln eine auf die Musik assoziativ reagierende, nie plan eindeutige, vielmehr in ihren Positionen divergierende und dadurch befreiend "freie" Szenenfolge. Uns begegnet der Mensch (der Soldat) als Außenseiter, wir erleben gruppendynamische Prozesse und extreme Psychomotorik. Die Versehrtheit der Kreatur, die Abweichung von der Norm bekommen Gestalt.

Kuhglocken, wie Mahlers Partituren sie enthalten, läuten ein Pastorale-Idyll ein, das für eine kleine Weile ein Ritual wie die Anbetung der Hirten möglich scheinen lässt, aber bald übergeht in Balgen, Zerren, Krallen und Sich-Verknäueln und Verklammern: Mann gegen Mann oder gegen Frau. Sie zerreißen sich gegenseitig die Kleider und ringen sich nieder, dass es eine Not hat. Auf die Tortur folgt, betörend schön, das wehmütige Adagietto der 5. Symphonie. Die Gruppe hebt die eine Hand wie Thomas Manns Tadzio im "Tod in Venedig", weisend ins "Verheißungsvoll-Ungeheure", bevor die gleitenden Bewegungen verkanten, konfrontativ und offensiv werden, erhobene Hände ein Sich-Ergeben andeuten oder den Moment vor dem Erschießungskommando, Leiber zucken und im Drill entgleiten. Im Gegenzug heben zärtlich tastende Berührungen und Vereinigungen wie auf einer Skizze von Egon Schiele den brutalen Zugriff auf.

Emotionale Wechselkur

Atemberaubend sind die Korrespondenzen zwischen Tanz und Musik in dieser Choreografie eines kontrollierten Ausnahmezustands: mit ausschwingenden Herzrhythmus-Störungen, beklemmender Mechanik und fast höhnisch eingefügten Spitzentanz-Figuren, mit vulgärem Rülpsen und schmerzbewussten Pas de deux wie in Zeitlupe. Wobei die Theatralik – parallel zu Mahlers selig zerrissenen "O Mensch"-Apotheosen – jede Faser gespannt hält. Das grelle Scherzo der Siebten ermutigt das Ensemble und bannt Ängste mit afrikanischem Singsang, kämpft sich frontal vor zum trompetend trumpfenden, klirrend martialischen Marsch-Takt der Sechsten. Gewalt erschafft Kriegskörper.NichtSchlafen2 560 ChrisVanderBurght u"Nicht schlafen": Vitales Mahnmal des Schmerzes © Chris Van der Burght

Die emotionale Wechselkur aus befriedeter Zartheit und Tändelei, stolzierender Siegesgewissheit, Glücks-Harmonie, meditativer Stimmung und dann einem An-sich-irre-Werden, psychischer Deformation, spielerischer Aggressivität und dumpfem Drohen mündet in den filigran furiosen Kampfruf der Zweiten mit der Erlegung des Tänzers David Le Borgne, der fortgeschleppt und gehäutet wird, sich weiter windet und mit einem Pferde-Kadaver kopuliert. Währenddessen haucht sich auf der Tonspur der letzte Atem der Kreatur aus, keckern Vögel, schnauben Säugetiere. Großartiger kann man der Krise einer Epoche und dem Bedürfnis nach Erlösung nicht Ausdruck geben. Platel hat ein vitales Mahnmal des Schmerzes errichtet.

 

Nicht schlafen
von Alain Platel und les ballets C de la B
Regie: Alain Platel, Komposition und musikalische Leitung: Steven Prengels, Bühne: Berlinde De Bruyckere, Kostüme: Dorine Demuynck, Dramaturgie: Hildegard De Vuyst, Jan Vandenhouwe, Licht: Carlo Bourguignon.
Mit: Bérengère Bodin, Boule Mpanya, Dario Rigaglia, David Le Borgne, Elie Tass, Ido Batash, Roman Guion, Russel Tshiebua, Samir M’Kirech.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

"Offenbar auf Sigmund Freuds Spuren" zeige Platel, "was im Unterbewusstsein so alles gärt und giert, wo die Triebe wüten und der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert", sagt Nicole Strecker im Deutschlandfunk (2.9.2016). Heraus komme "ein Gewaltakt und zugleich ein ziemlich komischer Kampf mit Klamotte". Doch Platels "freudianisch Trieb-Brutalisierte" taumelten auf Dauer ziemlich auf der Stelle, "ihre amoralische Einfalt verweist auf nichts", so Strecker. "Platel also mal nicht als Mitleidpriester und Schmerzensmann, sondern gallig und sarkastisch. Steht ihm nicht so richtig gut."

Für Pedro Obiera haben Bewegung und Musik nur selten zueinander gefunden. "Und wenn, wie im Finale, in fast übertriebener Doppelung von Takt und Tanz." Die Musik Gustav Mahlers sei nicht die Alain Platels, schreibt Obiera in Der Westen (3.9.2016). Die Vorliebe Platels und seines Mitgestalters Steven Prengels für die langsamen Sätze trieben den Widerspruch ins Unauflösbare. "Das Ergebnis wirkt trotz des hohen und hochwertigen Einsatzes der Compagnie teils beliebig, teils oberflächlich." Und ausgerechnet die Detailgenauigkeit, mit der Platel die Figuren führt, gehe auf der riesigen Bühne ab Reihe 5 unter. Beeindruckend sei die zentrale Skulptur von Berlinde De Bruyckere. "Doch wird die Plastik kaum ins Geschehen eingewoben."

Kommentare  
Nicht schlafen, Ruhrtriennale: viel zu solide
Leider, leider kann ich der Begeisterung von Andreas Wilink einzig in dem beeindruckenden Engagements des Ensembles folgen. Alles andere wirkte am Premierenabend auf eine für mich enttäuschend konventionelle und vorhersehbare Weise zusammengesetzt. Oder anders: viel zu solide, streckenweise klischiert gebaut bei den behaupteten existenziellen Themenkreisen. Schade.
Nicht schlafen, Ruhrtriennale: unstimmig
Auch ich kann der pathetisch aufgeblasenen Kritik nicht folgen. Zu gedämpft der Abend. Eine Inszenierung mit angezogener Handbremse. Eine beeindruckende Leistung der Darsteller, eine Tolle Musikcollage, dennoch ist die Inszenierung nicht wirklich stimmig.Die Brisanz des Themas für mich nicht schlüssig transportiert.
Nicht schlafen, Ruhrtriennale: Schade..
..für alle Beteiligten für einen vertanen Abend.
Nicht schlafen, Ruhrtriennale: Gewaltorgie
Die phantastische Musik Mahlers wird mit einer ziellosen Gewaltorgie Gewaltfreie verknüpft. Gesellschaftliche Bedingungen bzw. Widersprüche der Jahrhundertwende werden nicht analysiert und finden daher keinen Eingang. Profane Darstellung unreflektierter individueller Gewalt. Aber: der 1. Weltkrieg war eben keine "Naturkatastrophe" sondern das Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung!
Nicht schlafen, Ruhrtriennale: Knäuel
Gastspiel im Haus der Berliner Festspiele

Sie zerren aneinander, verknäulen sich zu großen Gruppen oder ringen im Zweikampf miteinander, zerreissen sich gegenseitig Shirts und Hosen und werfen sie in hohem Bogen weg. Aus ihren schmerzverzerrten Gesichtern sprechen Angst und Verwirrung, die brutale Gewalt entlädt sich schubweise – unterbrochen von ruhigeren, friedlichen Passagen.

Die Gewalt eskaliert in der Schluss-Szene, in der David Le Borgne zu Boden geworfen wird. Die gesamte Gruppe zerrt an ihm, deutet an, dass ihm die Haut abgezogen wird, schleppt ihn über die Bühne und legt ihn vor den Pferdekadavern ab. Auffällig ist, dass Le Borge neben Romain Guion der zweite hellhäutige, blonde Franzose ohne Migrationshintergrund im Ensemble ist und beide Opfer einer Gruppe werden, die vor allem aus Schwarz- und Nordafrikanern besteht. Was wollten uns Alain Platel und sein Team damit sagen: Ist das wirklich nur Zufall? Oder teilen sie die Furcht vor Überfremdung und vor Übergriffen, die Marine Le Pen im Präsidentschaftswahlkampf schürt und die in Deutschland vor allem seit der Silvesternacht 2015/16 wuchs? Oder soll das zum Widerspruch herausfordern? In einer Interview-Passage im Programmheft sagte Platel, dass er keineswegs ein großartiges politisches Statement abgeben möchte, zum Beispiel über Postimperialismus oder Postkolonialismus: „Lasst uns auf dem Teppich bleiben, sage ich mir und den Tänzern oft. Ist es ein Statement, dass wir zwei schwarze Tänzer haben? Dass ein Muslim und ein israelischer Tänzer dabei sind? Dass unter all diesen Männern eine einzige Frau tanzt? Nein, absolut nicht. Jeder auf der Bühne soll einfach er selbst sein.“

Jenseits dieser offenen Fragen bleiben von „nicht schlafen“ beeindruckende Bilder einer assoziativen, stark verdichteten Choreographie über taumelnde, unsichere, ihre Aggressionen ungehemmt aneinander auslassende Männer im Gedächtnis.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/15/nicht-schlafen-alain-platel-erzaehlt-in-seiner-choreographie-von-krieg-und-gewalt/
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