Niemand - Die späte Uraufführung eines maßlosen Jugendstückes von Ödön von Horváth im Wiener Theater in der Josefstadt
Being Ödön oder Seid doch bitte peinlich!
von Gabi Hift
Wien, 1. September 2016. "Heute schreiben wir Theatergeschichte!", heißt es im Foyer. Eine Sensation steht bevor: die Welturaufführung eines Stücks von Horváth, von dem bisher keiner wusste. Die Wege, über die "Niemand" aus der Versenkung aufgetaucht ist, sind ein Krimi für sich (nachtkritik.de berichtete). Das Theater in der Josefstadt hat den Zuschlag erhalten, weil Herbert Föttinger, der Regisseur und Direktor des Hauses, derjenige war, der die größte Texttreue versprochen hat. Noch ohne das Stück gelesen zu haben, war er bereit, sich auf Gedeih und Verderb auf alles einzulassen, was die Phantasie des 23-jährigen Horváth produziert haben mochte. Und was das sein würde, war nicht vorherzusehen. Horváths Kopf war bisher eine Black Box. In keinem seiner Stücke taucht ein Alter Ego auf. Es gibt keine Briefe von ihm, keine Tagebücher. Sein Innenleben: ein Rätsel.
Das Plakat für "Niemand" ist eine Paraphrase des Filmplakats von "Im Kopf von John Malkovich" ("Being John Malkovich") – eine gewiefte Art anzukündigen: "Hier werden sie erfahren, was im Kopf von Horváth los war – bevor er der Horváth wurde."
Das Stück ist ein Monster
Der Vorhang geht hoch, und alle Figuren stehen an der Rampe, 24, so viele, dass sie sich eng aneinanderdrängen müssen. Dahinter, auf der Drehbühne, ein futuristisch-expressionistisches Treppenhaus (Bühne: Walter Vogelweider). Die Schauspieler verkünden die ersten Sätze – Regieanweisungen und Dialoge – frontal nach vorn, dann steigen sie nach und nach ins Spiel ein. Wir sind in einem Mietshaus, im Erdgeschoss die Schanktür eines Wirtshauses und die Wohnung der Hure Gilda (Martina Stilp). Vom zweiten Stock aus herrscht der verhasste Hausbesitzer Fürchtegott Lehmann, ein Krüppel (Florian Teichtmeister).
Das Personal sieht dem aus künftigen Stücken sehr ähnlich: die Fräuleins, der Strizzi, die Hure. Aber bald merkt man: Es ist alles ganz anders. Diese Figuren haben keine knappe, pointierte Sprache. Sie reden und reden, sind verloren in einer Welt, aus der Gott gerade verschwunden ist. Wer ist der Verursacher von allem, wenn Gott tot ist? Niemand. Aber, wie in dem Kinderwitz, lässt sich "niemand" nicht denken, wird "niemand" immer wieder zu "Herrn Niemand" – und zu einer höheren Instanz. In allen Figuren steckt Horváth selber, und rasend kämpft er mit den großen spirituellen Fragen der Zeit. Das Stück ist ein Monster, eine Krake, in deren Inneren es brodelt. Es schleudert Fangarme aus heißer Lava nach dem Unfassbaren, es ist maßlos, pubertär, erschütternd und peinlich – es will alles.
David Lynch winkt zu Horváth herüber
Im Erdgeschoss wird ein Krug zerbrochen. Schuld ist "Niemand" – aber eine Kellnerin stürzt es ins Unglück. Ein Ring mit der Aufschrift "Die Liebe höret nimmer auf" wird Auslöser für einen Mord. Der verbitterte Ausbeuter Lehmann hadert mit Gott, verliebt sich in die Kellnerin Ursula (Gerti Drassl) und will ein neuer besserer Mensch werden. Aber sie ekelt sich vor seinem verkrüppelten Körper. Dann taucht sein gesunder Bruder Kasper auf (Raphael von Bargen), und Ursula wirft sich ihm an den Hals. Daran wird Fürchtegott krepieren – und Ursula wird ein Kind von Kasper kriegen, und das wird wieder ein Krüppel sein.
Durch alles zieht sich zusätzlich ein okkulter Strang, eines David-Lynch-Films würdig: Alle Situationen kehren leicht verändert wieder, in einem ewigen Rad: Immer wieder zerbricht der Krug, die Kellnerin wird auf die Straße gesetzt und schon erscheint die nächste Kellnerin, die fast genauso aussieht wie die vorige. Im ersten Stock erscheint das Unheimliche in der Gestalt eines mysteriösen kleinen Mädchens, das Lehmanns Versuche, Ursula nahe zu kommen, durchkreuzt – geschickt von "Niemand".
Wo bleibt der Schaum vor dem Mund?
Das Stück ist wirr, überladen, überhitzt, voll glühender Verzweiflung, expressionistisch, existenzialistisch und nietzscheanisch. Herbert Föttinger versucht das Ausufernde durch strenge Form zu bändigen: Er lässt die Schauspieler alle Sätze kühl sprechen, so als würden sie zitieren. Zum Teil klingen sie so aber erst recht bedeutungsschwanger. Einmal gibt es ein kurzes Aufatmen von der drückenden Schwere: Marianne Nentwich, die Doyenne des Hauses, in der Rolle der "Uralten Jungfrau", schüttelt Mädchensüße aus dem Ärmel. Stolz zeigt sie ein Foto von ihrem Geliebten aus Jugendtagen, der immer Lackschuhe trug: So ein fescher Mann hätte sie einmal fast geheiratet. Das rührt und bleibt eine Weile in der Luft schweben.
Gegen Ende, wenn das Drama zwischen den beiden Lehmanns und Ursula seinen Höhepunkt erreicht, wird die Zurückhaltung und Dezenz der Darstellung aber fast unerträglich. Man möchte rufen: "Jetzt schreit doch endlich! Wälzt euch am Boden! Habt Schaum vor dem Mund!" Freilich würde es peinlich werden, aber die Angst vor der Peinlichkeit ist noch viel quälender anzusehen.
Wer hat ihm die Krücken aus der Hand geschlagen?
Am Ende hat der Regisseur eine Figur gestrichen: Gott. Lehmann, so steht es im Text, hebt in einem letzten wilden Aufbäumen "seine Krücken drohend gegen den Himmel, aber sie fallen hinab bis unter das Treppenhaus, als hätte sie ihm Jemand aus den Händen geschlagen. 'Behaltet euer Mitleid, ich will verrecken!' Er stirbt. Ursula: 'Hast du gesehen? Er hat die Krücken nicht fallen gelassen.' - Kasper: 'Ja. Sie wurden ihm aus den Händen geschlagen.'" Das ist freilich absurd, wie hier Gott ex machina persönlich nach den Krücken schlägt – aber auch beeindruckend. Und wenn man alles zeigen will, was in Horváths Kopf war, hätte das dann nicht dazugehört?
Das Stück als Einheit kann nicht funktionieren, aber die Auflösung des Krimis, die Möglichkeit, in den Kopf des ganz jungen Horváth hineinzuschauen, ist die Anstrengung, die die Unternehmung Schauspieler und Zuschauer kostet, wert. Man bekommt ein neues Gefühl dafür, wer Horváth war, und für seine Stücke, wenn man "Niemand" gesehen hat – es ist ein Gewinn.
Niemand
von Ödön von Horváth
Uraufführung
Regie: Herbert Föttinger, Bühnenbild: Walter Vogelweider, Kostüme: Birgit Hutter, Musikkonzept: Katharina Steyrleithner, Dramaturgie: Ulrike Zemme, Licht: Emmerich Steigberger.
Mit: Dominic Oley, Martina Stilp, Gerti Drassl, Martin Zauner, Wojo van Brouwer, Gregor Kronthaler, Patrick Seletzky, Elfriede Schüsseleder, André Pohl, Florian Teichtmeister, Roman Schmelzer, Peter Scholz, Thomas Kamper, Alexander Strobele, Swintha Gersthofer, Saša Savić, Josephine Bloéb, Raphael von Bargen, Heribert Sasse, Oliver Huether, Alexander Absenger, Antonia Jung, Marianne Nentwich, Oliver Rosskopf.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.josefstadt.org
"Seine Themen hat Horváth in diesem Frühwerk bereits gefunden, seinen Ton noch nicht", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ (3.9.2016). Herbert Föttingers Regie halte das Pathos und das Pubertäre des Stücks auf Abstand. "Vielleicht wird die nächste Inszenierung dieses Stück als Kommentar zur Schuldenkrise verstehen, denn Schulden sind hier ein zentraler Begriff", so Spiegel. "Niemand soll sagen, diese Entdeckung habe sich nicht gelohnt."
Barbara Petsch ist in Die Presse (3.9.2016) nicht übermäßig beeindruckt von Horváths Frühwerk und noch weniger von der Uraufführungsregie: "Föttinger inszeniert das alles recht plan vom Blatt und lässt das große Ensemble szenische Anweisungen verlesen, ein Kniff, der manchmal informativ, öfter aber auch bloß fad ist", so Petsch: "Wo man Filmbilder erwartet, rasseln dürre Worte nieder – ein Spieler pinkelt gar live ins Parkett. Na so was! Was soll das? Sollen solche Keckheiten darüber hinwegtäuschen, dass Föttinger nichts wirklich Neues eingefallen ist?" Statt der versprochenen Sensation gebe es "den typischen düsteren Josefstädter Horváth" zu sehen.
In Der Standard (3.9.2016) ist Ronald Pohl begeistert von Herbert Föttingers "kluger, keuscher Uraufführungsinszenierung". Nicht immer sei es schlüssig erklärbar, was Horváth mit den sieben Bildern von Niemand überhaupt ausdrücken wollte. Die Inszenierung helfe dem Stück sozusagen mit Brecht auf: "Gezeigt wird die Distanz, die uns Heutige von den 1920er-Jahren trennt, von den halbverdauten Bildungsbrocken, die Horváth, dem ungeübten Dramatiker, hochkommen." Föttinger wolle nicht klüger sein als sein Schöpfer. "Er stellt den Stoff aber in den Rahmen der Geschichte", habe "ein episches Oratorium" inszeniert, "Welttheater, durch das die Blitze der Erkenntnis zucken", so Pohl, zum Schluss seiner Kritik sehr enthusiastisch: "Eine in ihrer Selbstbescheidung wunderbare Leistung aller Beteiligten, zu Recht akklamiert."
Wolfgang Kralicek schreibt in der Süddeutschen Zeitung (5.9.2016): Das "zweite abendfüllende Drama des Autors, von dem man heute Kenntnis hat", sei "sozialkritische Milieustudie und nihilistisches Oratorium zugleich". Obwohl die Horváth-typischen Pausen schon hier notiert seien, würden "insgesamt zu viele Worte gemacht". Der spätere Horváth sei ja ein "großer Auslasser". Bei "Niemand" müsste "diese Arbeit wahrscheinlich die Regie übernehmen"; weil sich die Uraufführung verständlicherweise eng an den Text halte, wirke sie "etwas grau und schwerfällig". In der Josefstadt würden bei Publikumsliebling Florian Teichtmeister als Fürchtegott Lehmann weder die "monströse noch die tragische Seite der Figur" recht "plausibel".
"Nur selten lässt Horváth etwas von dem poetischen Zauber und der bitteren Traurigkeit ahnen, die seine späteren Volksstücke aus ihrer Entstehungszeit ins Allgemeingültige heben", so Joachim Riedl in der Zeit (8.9.2016). Die Uneindeutigkeit der Inszenierung verrate, wie problematisch es sei, ein unfertiges Frühwerk ins Scheinwerferlicht zu stellen. "Einerseits betont der Regisseur den distanzierten Charakter einer Arbeitsfassung, indem er die Figuren szenische Anweisungen mitsprechen lässt, sobald der Autor turbulente Interaktion verlangt. Anderseits kippt die nüchterne Zurschaustellung der Verhältnisse immer wieder in einen polternden Verismus." Riedls Fazit: "Wahrscheinlich wäre dieser Entdeckung, die mehr Kuriosität denn Sensation ist, mit einer szenischen Lesung besser gedient gewesen."
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