Die Fremden - Bei der Ruhrtriennale macht Johan Simons Musiktheater aus dem Roman "Der Fall Meursault" von Kamel Daoud
Erkenne die Erlösung
von Sascha Westphal
Marl, 2. September 2016. Nach etwa der Hälfte der Spieldauer setzt sich die riesige Kohlenmischmaschine, das noch intakte Herzstück der riesigen Kohlenmischhalle der erst im vergangenen Dezember geschlossenen Zeche Auguste Victoria, in Bewegung. Bisher hatte sie die Spielfläche quasi verschlossen, nun entfernt sie sich mehr und mehr von der ihr gegenüberstehenden Tribüne. Wo zuvor allem, der Wahrnehmung wie dem Denken, den (Flucht-)Bewegungen der Spielerinnen und Spieler wie den Blicken des Publikums, eine eindeutige Grenze gesetzt war, öffnet sich nun der Raum in eine Tiefe, die wiederum alles und jeden verschluckt.
Nur die Musik bleibt. Orchester: Asko|Schönberg, musikalische Leitung: Reinbert de Leeuw
© JU/Ruhrtriennale
Während sich die gewaltige Maschine bewegt, kommt Johan Simons' Musiktheater-Kreation nach "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung", dem Debütroman des algerischen Journalisten und Schriftstellers Kamel Daouds, zum Stillstand. Die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler, die Daouds Erzähler Haroun, den Bruder des in Albert Camus' Klassiker "Der Fremde" namenlos bleibenden ermordeten "Arabers", verkörpern, haben die Spielfläche verlassen. Auch die beiden Leinwände, auf denen immer wieder von dem niederländischen Videokünstler Aernout Mik kompilierte Dokumentaraufnahmen aus der Zeit vor und kurz nach der Befreiung Algeriens im Jahr 1962 aufblitzten, sind verschwunden. Allein die Sopranistin Katrien Baerts und das Asko|Schönberg Ensemble unter der Leitung von Reinbert de Leeuw bleiben auf der Bühne zurück und lassen Claude Viviers Komposition "Bouchara" erklingen.
Vierfacher Spiegel-Effekt
Der Kontrast zwischen der Maschine, die sich unaufhaltsam entfernt, und der Musik, die einem näher und näher kommt, bis Viviers Vision einer fremden Welt einen regelrecht umschließt, ist enorm. Und doch: während sich die Halle ins Absurde einer Welt ohne Gott öffnet, beschwören die Musiker die Hoffnung auf eine fast schon mystische Einheit herauf. Die Fantasiesprache, in der Katrien Baerts singt, erlöst einen von dem Zwang, alles verstehen zu wollen, und schon ist man zumindest für einen Moment einfach nur glücklich.
Risto Kübar, Benny Claessens, Elsie de Brauw © JU/Ruhrtriennale
So einfach, wie es der deutsche Titel von "Meursault, contre-enquête" andeutet, ist es nicht. Daoud hat keine "Gegendarstellung" zu Camus geschrieben, und er antwortet auch nicht auf dessen Roman. Seine "Gegenuntersuchung" sollte man sich eher als eine Spiegelung des Klassikers des Existentialismus vorstellen. Die Seiten verkehren sich, und schon wird das Eigene zum Fremden. Diesen Spiegel-Effekt greift Johan Simons in der Struktur seiner Inszenierung auf und vervierfacht ihn gleich noch. Zu Daouds Roman kommen Musikstücke von György Ligeti, Mauricio Kagel, Claude Vivier, die Filme von Aernout Mik und der Raum mit seinem von Steinen und Kohlenstaub bedeckten Boden. "Die Fremden" hat vier Ebenen, die nicht zu einem Ganzen verschmelzen, sondern konsequent ihre Eigenständigkeit bewahren.
Nicht ist gewiss
Die Dokumentaraufnahmen, die den ersten Teil der Inszenierung begleiten, der um Harouns Sicht auf Camus' Roman kreist und von Meursaults Mord an seinem Bruder Moussa erzählt, haben noch etwas Illustratives. Sie sind Zeugnisse aus der Welt der Kolonialzeit, die Daouds Figuren geformt hat. Im zweiten Teil dann lösen sich Miks in der Kohlenmischhalle gedrehte Filmbilder weitgehend von der Erzählung. Auf einer Panoramaleinwand sehen wir Bilder von einem Flüchtlingslager. Allerdings sind die Vorzeichen vertauscht. Die "Flüchtlinge" wirken wie klassische Nord- und Westeuropäer, während die Polizisten, wie Mik selbst es formuliert, "von Menschen mit augenscheinlich anderer Herkunft gespielt werden". Die Verhältnisse verschieben sich. In das zunächst noch realistische Szenario eines Lagers mischen sich immer bizarrere Details. So sieht man Kinder, die gleich Kriegern über die in ihren Feldbetten schlafenden Insassen steigen oder unter den Betten her kriechen. Etwas braut sich zusammen. Aber es lässt sich nicht fassen.
Elsie de Brauw, Sandra Hüller, Risto Kübar, Benny Claessens, Pierre Bokma © JU/Ruhrtriennale
Wie Miks Video kokettieren auch die Darsteller*innen Pierre Bokma, Benny Claessens, Elsie de Brauw, Sandra Hüller, Risto Kürbar stets mit dem Unverständlichen. Sie alle sind Haroun und sind es auch wieder nicht. Das liegt nicht nur daran, dass sie ansatzlos in andere Rollen wechseln. Auch die Art ihres Spiels, das distanziert ist und sich stets selbst reflektiert, verhindert jede Form der Identifikation. Wenn Benny Claessens den Meursault aus Camus' Roman gibt, wirkt er mit seinen exaltierten Bewegungen fast wie eine Cartoon-Figur. In einer Welt, in der es keinen Sinn mehr gibt außer dem des Lebens an sich, wird jeder Mensch zum Clown. Dazu passt auch, dass sich Sandra Hüller in der Rolle der Dozentin Meriem, die Haroun und seine von Elsie de Brauw als algerische mater dolorosa verkörperte Mutter erst von Meursault und dessen Mord an Moussa erzählt, in das Klischee einer verführerischen Schönheit stürzt. So entstehen kleine Meisterwerke der Verfremdung, die sich zu einem großen Panorama der Verunsicherung zusammenfügen.
Die Fremden
Uraufführung
nach dem Roman "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" von Kamel Daoud in einer Fassung von Vasco Boenisch und Tobias Staab
Regie: Johan Simons, Komposition: György Ligeti, Mauricio Kagel, Claude Vivier, Musikalische Leitung: Reinbert de Leeuw, Bühne: Luc Goedertier, Kostüme: An De Mol, Licht: Dennis Diels, Video: Aernout Mik, Soundscapes: Wouter Snoei, Sounddesign: Will-Jan Pielage, Dramaturgie: Vasco Boenisch, Tobias Staab, Matthias Velle, Musikdramaturgie: Jan Vandenhouwe.
Mit: Pierre Bokma, Benny Claessens, Elsie de Brauw, Sandra Hüller, Risto Kürbar, Katrien Baerts (Sopran), Asko|Schönberg Ensemble.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.ruhrtriennale.de
Johan Simons' Inszenierung sei eine dreifache Herausforderung aus Text, Musik und Film, schreibt Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung (5.9.2016). Grundfragen stelle das Stück, aber "Johan Simons betreibt verträgliche Ideologiekritik." Die ausgestellte Toleranz des Stückes verkehre sich in ihr Gegenteil: "Wer im Westen kein Fremder bleiben will, der muss Religionskritik leisten – wie Daoud." Den besten Kommentar zu diesem Abend steuere der Künstler Aernout Mik in seinen Videos bei, "Szenen aus dem kolonialen Algerien, eine Schulklasse, eine Frankreichkarte". Fazit: "Die Fremdheit des Kolonialherren und die Fremdheit des Flüchtlings haben wenig miteinander und noch weniger mit kosmischer Unbehaustheit zu tun. Nicht alle Erfahrungen politischer Unbehaustheit lassen sich sauber philosophisch einsortieren, das wäre mal eine Antwort auf die Fragen dieses Abends gewesen."
Wenn sich die monströse Kohlenmischmaschine lautlos nach hinten verschiebt, "stellt sich einer dieser legendären Ruhrtriennale-Momente ein", so Malte Hemmerich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.9.2016). Leider bleibe der ansonsten unerreicht. "Der Premierenabend gleicht eher einer überladenen Ansammlung aller möglichen Einfälle." Man habe rasch verstanden, dass Simons’ Musiktheater politisch Stellung beziehen will: "Aber ständig bremst es sich dabei selbst aus, möglicherweise in der Furcht, allzu profan und simpel zu wirken." Die Musik bleibe "als Untermalung zu komplex, nicht immer förderlich in die Dramaturgie eingebunden. Gleiches gilt für die Filminstallation von Aernout Mik." Daouds Buch stellte die gesamte europäische Sichtweise auf das Thema Migration in Frage, "das verkopfte Theaterstück, das Simons für Marl erfand, ist, nicht zuletzt durch die Musiken, der Gesamtheit europäischer Traditionen verpflichtet. Das ist nur ehrlich und natürlich, aber gleichzeitig geradezu absurd! Vieles wirkt wirr an diesem Abend und zugleich altbekannt. Nichts ist fremd oder neu."
"Grauschwarzer Staub als Pendant zum Wüstensand - Johan Simons setzt hier Kamel Daouds Roman in wirkmächtige Bilder um", schreibt Jens Dirksen in der WAZ (5.9.2016). Simons verknüpfe das mit brachialer Fundamentalkritik an den Religionen dieser Welt, mit Nietzsche und anderen durchaus zweischneidigen Kronzeugen. "Mir graut vor den Religionen. Vor allen! Weil sie das Gewicht der Welt verfälschen, sei so ein Satz von Kamel Daoud." Bundespräsident Joachim Gauck im Publikum müssten die Ohren klingeln, doch andererseits habe die Inszenierung mindestens so viel Bekenntnis wie Kunstanstrengung.
Das Gift des Kolonialismus und „Die Fremden“ | WAZ.de - Lesen Sie mehr auf:
http://www.derwesten.de/kultur/das-gift-des-kolonialismus-und-die-fremden-id12163300.html#plx1979676070
"Johan Simons entscheidet sich für einen Mix aus Schauspiel, Musik und Film", schreibt Anke Dürr im Spiegel (3.9.2016). "Die Musik rückt auch optisch ins Zentrum: Das fantastische holländische Kammerorchester Asko Schönberg unter der Leitung von Reinbert de Leeuw sitzt in der Mitte der Spielfläche, nach hinten begrenzt von der gigantischen Kohlenmischmaschine." Dass etwa der Erzähler Haroun nicht von Arabern dargestellt werde, sondern von einem Kollektiv europäischer Schauspieler, erkläre Johan Simons im Programmheft damit, dass dies die "Vielzahl von Blickwinkeln" auf Fragen von Identität und Fremdheit reflektiere. "Wenn man hinter die Bilder schaut, bleibt die Frage: Was genau ist die die Aussage dieses Abends?" Fazit: "Der Abend ist, bei aller Kunstfertigkeit, von einiger Beliebigkeit und bleibt in seiner etwas ratlosen Kritik am Eurozentrismus erstaunlich eurozentristisch."
"Ein humanes Stück über kulturelle Identität im Post-Kolonialismus, über Flucht und Integration", so die Einleitung zu Ulrike Gondorfs Kritik auf dradio Kultur vom Tage (2.9.2016). "Simons weicht der aktuellen Brisanz des Themas nicht aus." Aber sein Fokus liege doch auf der philosophisch-existentiellen Ebene. Eine skeptische, zutiefst humane Arbeit, deren vielleicht wichtigster Gedanke ist: "Wie lange wollen wir uns in all unserer existentiellen Unbehaustheit eigentlich noch leisten, andere Menschen als 'Fremde' zurückzuweisen?"
Bernhard Doppler schreibt im Wiener Standard (5.9.2016) am meisten beeindrucke "der Aufführungsort: die riesige dunkle Kohlenmischhalle" und ihre "monströse Mischmaschine". Die "gewaltige dunkle Halle" erscheine wie ein "sakraler Bau". Kamel Daouds "Der Fall Meursault" tauge für Theaterdialoge nur bedingt. Simons teile die Erzählung auf ein Schauspielerquintett auf, "das mal kindlich trotzig jammernd (Benny Claessens), mal pastoral (Pierre Bokma), mal bestimmt anklagend (Elsie de Brauw) Teile des Romans vorträgt". Vor allem aber erschließe das Schauspielerquintett durch lange Läufe die riesige Halle und mache den Raum "durch Stürze, Tänzeln, Wälzen, Sich-Beschmieren und Beflecken zu einem meditativen Ort". Damit "scheint der Abend Camus' europäischer Antimetaphysik, seiner existenzialistischen Transzendenz nahezukommen".
Karin Fischer schreibt auf der Seite des Deutschlandfunks (3.9.2016): Weit hinten in der riesigen Halle wirkten die Schauspieler "winzig klein", Assoziation mit den Geflüchteten lägen nahe, Aernout Miks Videobilder, auf der die Kohlenmischhalle als Flüchtlingsunterkunft zu sehen sei, verstärkten diesen Eindruck. Alles an der Inszenierung betone den "Abstand zur Realität, die Un-Gleichheit, die Differenz". Eine "gewollte Überforderung durch vervielfachte Positionen aus Musik, Sprache, Bild und Raum". Schon dadurch sei der Titel "Die Fremden" "zuverlässig eingelöst". Dagegen wirke die Auswahl der Texte aus Daouds Roman "zuweilen sehr pädagogisch und konzeptuell, genau so wie die dokumentarischen Filmbilder aus der Kolonialzeit in Algerien". Höhepunkt sei Viviers "Bouchara". Aber mit seinem "niederländisch-deutsch-estnisch besetzten Ensemble" erschaffe auch Simons eine "Mehrdimensionalität, die Daouds Buch eindeutig fehlt".
Hart geht Wolfram Goertz in der Zeit (8.9.2016) mit dem Abend ins Gericht und berichtet von "einer Unsumme an Langeweile": Die Musik sei ein beliebiger Soundtrack, der keinem anderen Zweck diene als der ästhetischen Aufwertung. Mit den Männern und Frauen auf der steinigen Bühne, die uns eine sehr ferne Geschichte vorspielen, könne Simons wenig anfangen: "Sie verlieren sich in der Weite zu schemenhaften Leibern, obwohl ihre Stimmen durch die Lautsprecher sehr nah klagen und uns zu mahnen scheinen, dass uns ihr Schicksal nicht gleichgültig sein darf." Kurz: "Die einzigen Spuren, die der Abend beim Zuschauer hinterlässt, finden sich als Kohlenstaub auf seiner Hose."
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Auch Camus, auf den sich Daoud bezieht, hat ja möglicherweise sogenannte "arabische Wurzeln", wenn man denn von Wurzeln sprechen möchte. Über seine Mutter, die aus Spanien kam. Könnte sein, oder? Ich meine Spanien, das Land, welches im 8. Jahrhundert von den Mauren erobert wurde und später der Inquisition zum Oper fiel. Apropos, Camus kritisiert das Christentum über seine Philosophie des Absurden. Aber die Mauren, waren das nicht Nomaden? Sind die irgendwo fest beheimatet? Haben die viel Besitz? Im 16. Jahrhundert kamen auch Roma nach Spanien. Daoud schreibt von Moussa, dass er romanische Wurzeln habe. Die weltweite Familie der Roma. Usw. Wer weiss Genaueres über den "Stammbaum" der Familie Camus? Kleiner Scherz. Darum geht's Daoud wohl nicht. Nicht um Hunde und ihren Stammbaum. Sondern um ganz andere Fragen.
Noch kurz zum Thema "Mutter". Das ist eine Rolle, die nunmal weltweit ihre Auswirkungen hat, positive wie negative. Um diese machtvolle Rolle im Leben ihrer Söhne geht es beiden, Camus und Daoud. Und beide Protagonisten in beiden Romanen haben Mühe, sich von ihren übermächtigen Müttern, die beide zudem NICHT fähig sind, ihre Söhne einfach nur zu LIEBEN, abzugrenzen.
Weiter zu Daouds Fragen: Ich verstehe den Satz von Sascha Westphal mit dem "Clown" nicht ganz: "In einer Welt, in der es keinen Sinn mehr gibt außer dem des Lebens an sich, wird jeder Mensch zum Clown." Warum bzw. inwiefern wird man denn da zum Clown? Clown ist natürlich besser als Hass. Bloß, wo lässt Simons das im Roman mitschwingende Thema der Kapitalismus- und Religionskritik? Wenn die Ursachen des Hasses bzw. der politischen Instrumentalisierung von Religion gefunden sind, könnten Menschen in Frieden miteinander leben. Hass ist nicht das Thema von Camus. Ist es das von Daoud? Ebenfalls nein, so lese ich es jedenfalls.
Wir Ruhrgebietsmenschen LIEBEN Bierzelte, deswegen haben wir ja unsere Cranger Kirmes als den jährlichen kulturellen Höhepunkt neben der Triennale. Und wir LIEBEN Intendanten, die ihre Ideenlosigkeit mit noch einer Riesenvideoleinwand kaschieren; wir haben ja noch etwas Geld übrig hier, weil die Wanne-Eickeler Fußgängerzone jetzt überraschend doch nicht gentrifiziert wird. Und also bitte, nichts gegen Alice Schwarzer, schließlich haben da auch Frauen mitgespielt und durften tanzen.
Oder doch etwas ernsthafter? Die Funktion der mittlerweile son ein bisschen in Beliebigkeit und Selbstzweck abgekippten Kulisse einer "Industriekathedrale" hat sich mir wenig erschlossen. Mit der riesigen Maschine als Hintergrund mutete es hübsch spektaklistisch an, als würde auf einem schwarzsandigen Wüstenplaneten das Spice abgebaut, aber irgendwie schienen mir die Fremden hier nicht die Fremen, wie sie bei Frank Herbert oder David Lynych noch hießen, glaube ich. Orchester? Fantastisch! Akustik? Hundmiserabel. Schauspieler*innen? Vermutlich ausgezeichnet, nur leider gingen jegliche Facetten unter, weil, schade, Opernglas war leider zu schwach, für all die ach so existenzialistische Alleinigkeit. Die vielbeschworenen Ebenen der Inszenierung, nebeneinander, übereinander, ineinander, durcheinander? Für die persönliche Interpretation des Stückes bitte nach Gusto ankreuzen. War noch etwas? Ach ja, das da auf den Videoleinwänden. Wirklich schöne historische Super 8-Aufnahmen auf den vorderen zwei, und die ganz große da, da hinten in der weiten, weiten Halle, da wurd auch noch etwas drauf gezeigt.
Alles in allem also ein rundum gelungener Industriemusiktheaterabend, hier bei uns, in der Kulisse für die Ruhrtriennale. Warten Sie, ich muss gerade noch ein wenig schwarzen Theaterkohlenstaub auf die Wäsche draußen pudern; damits auch schön authentisch ist für die Fremden, die hier immer einfliegen tun, wenn gerade wieder Hochkultur oder Cranger Kirmes ist.
Ich möchte zuerst sagen, dass ich die Aufführung, über die hier gesprochen wird nicht besucht habe. Mich interessiert aber auch die "Ruhr"-Triennale und unsere Region. Deswegen lese ich gerne die Berichte. Ich lebe in Bochum-Altenbochum und möchte eine Lanze brechen. Vielleicht passt das ja zur Diskussion hier.
Samstag Abend war ich an der Jahrhunderthalle um das Konzert von Sun O))) zu besuchen. Das war großartig und eigentlich sind das ja gar keine Hochkultur (wie ich sie verstehe). Trotzdem war es eine richtige Inszenierung, wie da mit körperlichem Drone etwas beschworen wurde und sich am Ende des Gigs der Sänger in so eine Mischung aus Samurai, Dämon und Transformer verwandelt hat. Die hat uns übrigens an den Film "Brazil" erinnert von Terry Gilliam. Da gibt es diese Träume wo der Darsteller immer gegen einen riesiggroßen Samurai kämpfen muss. Der sah genauso aus und das wollten die bestimmt auch so. Mein Freund und ich fanden das einfach Klasse und für uns ist das unsere Kultur, ganz egal wie hoch.
Das ist, was ich manchmal so klasse finde an der Ruhr-Trienale. Das sich da auch sowas mischt. An der Jahrhunderthalle (wo ich zu Fuß hinlaufen kann) waren an dem Abend vor dem Sun O))) Konzert, das um 23 Uhr beginnt, die Gäste von der 20-Uhr Veranstaltung in der großen Halle und wir warten darauf das die kleine Halle für uns Einlass hat. Vor der großen Jahrhunderthalle gab es um 22-Uhr noch ein interessantes Popkonzert für alle das umsonst war und wo viele aus allen Schichten und auch junge Migranten hier aus der Nachbarschaft zusammen gestanden geredet und was getrunken haben.
Besser geht es doch gar nicht (finde ich) wenn sich das alles so trifft. Und das passt in das Ruhrgebiet. Mein Freund hat mir beim Konzert übrigens gezeigt dass der Hauptintendent der Ruhrtriennale am Ende auch bei dem Konzert war und die Schauspielerin Hüller, die in dem "Fremden"-Theaterstück spielt. Wir haben gesehen wie sie sich Ohrstöpseln eingesteckt haben und der Intendent sich dann auch noch die Finger in die Ohren gesteckt hat. Der Intendent hat sich zwar direkt vor mich hin gestellt und ich musste ihn darauf aufmerksam machen aber dann ist er auch zur seite getreten und schnell aus dem Konzert wieder raus. Wir fanden das aber trotzdem gut, dass die sich auch für die anderen Sachen interessieren und unter das Publikum mischen. Meine persönliche Meinung ist daher ich komme aus der Region und wünsche mir weiter solche Veranstaltungen.
Glück auf aus Bochum!