Das Narrenschiff – Dušan David Pařízek verarbeitet Katherine Anne Porters berühmten Roman fürs Wiener Volkstheater
Porträt einer zerfallenden Gesellschaft
von Martin Pesl
Wien, 9. September 2016. Als sich die Pausengespräche vor allem ums Thema Schweiß drehen, wird man stutzig: Er wird doch nicht ...? Ist es im Volkstheater immer so unerträglich heiß? Oder hat Dušan David Pařízek wirklich die Klimaanlage ausgeschaltet? Vorm Haus empfing den Besucher ein unterschwelliger Soundteppich aus Möwen- und Hafengeräuschen. Auf den Brettern, die das Deck bedeuten, fächeln sich die Spieler Luft zu, seit es losgeht, beginnt doch ihre Reise im anstrengend hitzigen Mexiko. Ja, es muss so sein: Pařízek verpasst uns das sinnliche Gesamterlebnis – Mitschwitzen inklusive! Schließlich sitzen wir alle im selben Boot: 1931, auf der Fahrt nach Europa.
Die US-Amerikanerin Katherine Anne Porter war tatsächlich auf so einer Schifffahrt und verarbeitete ihre Beobachtungen 1962 zu einem Romanwälzer mit dramatischem Figurenpotenzial. Da sind die frischgebackene Witwe Frau Schmitt (Bettina Ernst) und das kesse Mädchen Lizzi Spöckenkieker (Seyneb Saleh). Beide finden die Naziideologien des überheblichen Herrn Rieber sexy (Rainer Galke). Er muss sich die Kabine mit dem Schweizer Devotionalienhändler teilen, Schreck lass nach!, einem Juden (Lukas Holzhausen).
Dann bekommt Rieber auch noch mit, dass die abwesende Frau des blonden Herrn Freytag (Gábor Biedermann) Jüdin ist, und verbannt ihn vom Kapitäns- an den Judentisch, wo er auch nur überraschend widerwillig geduldet wird. Ein amerikanisches Künstlerpärchen kann weder mit- noch ohne einander (Katharina Klar und Sebastian Klein), ihre stolze Landsfrau erträgt die Klagen anderer Leute nicht (Anja Herden). Man hätte aus dem Bestseller eine ganze "Traumschiff"-Staffel zimmern können, Stanley Kramers Hollywoodverfilmung (1965) wirkt jedenfalls ein bisschen wie eine solche in Schwarzweiß.
Gestörter Friede
Dušan David Pařízek hat eine eigene Fassung erstellt, in der er die offensichtlichen Heutigkeiten des Stoffes herausarbeitet. Diese häufen sich besonders dank der Tatsache, dass das Schiff 876 durch eine Krise arbeitslos gewordene spanische Gastarbeiter aufnimmt, die sich 350 Schlafplätze teilen müssen. Die betuchten Erste-Klasse-Passagiere werden paranoid. "Erst der Störenfried erweckt in ihnen die Identität, die Individualität", bemerkt der gutmütige, todkranke Schiffsarzt (Michael Abendroth), der sich in einem der Handlungsstränge einer drogensüchtigen spanischen Gräfin annimmt. Deren Nervenleiden legt Pařízeks Stammschauspielerin Stefanie Reinsperger mit ganzer Wucht in Körper und Stimme.
Links und rechts stehen Schminktische, wer untätig ist, beschäftigt sich dort oder in der ersten Zuschauerreihe still oder hört konzentriert zu, wenn er nicht gerade einen der lichtgebenden Overheadprojektoren bedient (mittlerweile ein bekanntes Pařízek-Stilmittel, das wie zufällig schöne Schattenbilder schafft). So entsteht der Eindruck heiliger Strenge innerhalb der einzelnen Szenen.
Von einer zur anderen wechselt der Regisseur die inszenatorischen Handgriffe hingegen nach Belieben. Manchmal darf lapidar aus der Rolle oder aus der Zeit gefallen (und "Don’t Cry for Me, Argentina" gesungen) werden, in anderen Momenten stampfen alle rhythmisch oder gehen in einen psychologisch-realistischen Dialog.
Gesellschaft im freien Fall
Wer "spanisch" spricht, wechselt in den breiten Wiener Slang, der Stefanie Reinsperger in "Die lächerliche Finsternis" berühmt machte. Wie schon in Pařízeks Alte Meister fungiert Edelsouffleur Jürgen Weisert bei manchen "Piefke"-Kollegen als Live-Dialektcoach. Besonders die Szenen jedoch, in denen heftigst politische Thesen ausgetauscht werden, verbieten sich jegliche Abstraktion. Lukas Holzhausens streitbarer Jude Löwenthal zum Beispiel wirkt so stark, dass er um sich herum keine Postmoderne verträgt.
Das alles mag wirr erscheinen, holt die Erzählung aber letztlich vom Papier ins Theater und lässt sie über drei Stunden hindurch abwechslungsreich bleiben. Wenn man berücksichtigt, dass der Romantitel einer Moralsatire von Sebastian Brant aus dem Spätmittelalter entlehnt ist (darin befindet sich eine Hundertschaft von Narren auf einer Schiffsfahrt mit Kurs auf das fiktive Land Narragonien), dann darf sich doch auch ein Regisseur die Narrenkappe aufsetzen.
Diese "Narrenschiff"-Uraufführung ist ein zehrender, inhomogener und doch dichter Abend für ein fantastisches, pointiertes Ensemble geworden, das präzise Porträt einer Gesellschaft vor der vollendeten Spaltung, mitten im freien Sündenfall. Das ist die Phase, in der Riebers Gedanken, wie man alles Nicht-Deutsche eliminieren könne, beim naiven Fräulein Spöckenkieker auf schallendes Gelächter stößt.
Das Narrenschiff
nach dem Roman von Katherine Anne Porter
Bühnenfassung in eigener Übersetzung: Dušan David Pařízek
Inszenierung und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Licht: Krisha Piplits, Dramaturgie: Roland Koberg.
Mit: Michael Abendroth, Gábor Biedermann, Bettina Ernst, Rainer Galke, Anja Herden, Lukas Holzhausen, Katharina Klar, Sebastian Klein, Stefanie Reinsperger, Seyneb Saleh, Jan Thümer, Jürgen Weisert.
Länge: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.volkstheater.at
Kritikenrundschau
Margarete Affenzeller schreibt auf der Website des Wiener Standard (10.9.2016): Nicht allein die "lähmende Hitze im Theatersaal" habe Schauspieler wie Publikum "ermattet", es fehle der Uraufführung "schlichtweg jener Esprit", der sich bei Parízek oft "ganz still" einschleiche und der dann mit "überraschenden, immer klug gedachten, sparsamen szenischen Entwürfen zum Triumphzug" anhebe. Mit "Fokus auf den Antisemitismus" weise die Inszenierung "mühelos in die Gegenwart einer gespaltenen Gesellschaft". Aber erst mit "dem Totentanz" der "sich selbst zerfleischenden Passagiere" erreiche der Abend zuletzt "jene Dichte, die er von Anfang an gebraucht hätte".
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Was sich da alles an Themen, an Konflikten versammelt, die von 1932 sowas von direkt auf die momentane Verfasstheit in Europa hinweisen; zum Fürchten!
Die Darsteller und das Bühnenbild; wow.
Einzig der vermeintlich zentrale Konflikt um die Drogenabhängige Contessa hat sich mir nicht erschlossen, viel Geweine mit dem ich nichts anzufangen wusste.
Aber hingehen, unbedingt.