Blaupausen der Verdrängung

von Georg Kasch

Berlin, 9. September 2016. Dieses Geflitter ist schwer zu fassen: Unzählige helle Kunststoffstreifen hängen von der Decke. Sie wirken wie ein riesiger Lüster aus den 1960ern. Oder, wenn sich einer der Schauspieler hindurchschiebt, wie ein Dschungel aus abstrakten Lianen. Wenn ein Gesicht draufprojiziert wird, zersplittert es. So wie das von Dimitrij Schaad, als er davon berichtet, wie er als Kind sexuell missbraucht wurde. Anfangs steht er noch an der Rampe, ein Gesichtszucken hier, eine fahrige Handbewegung da. Dann begleitet ihn die Kamera nach hinten. Während er im Erzählen auf das Verdrängte stößt, leuchtet sein Gesicht übergroß in feine Streifen vor uns, zerstückelt und ungenau wie seine Erinnerung.

Vermutlich ist das nicht Schaads eigene Geschichte, aber das ist ja einer der bewährten Tricks in den Abenden von Yael Ronen: das sich Schauspieler und Rolle oft derart überlagern, dass eine besondere Spannung entsteht. Oft genug irritiert das, weil manche Fakten nachweislich wahr sind. Zum Beispiel die von Maryam Zaree: Ihre Mutter floh wirklich mit dem Kleinkind aus dem Iran. Aber haben sie und ihre Mutter tatsächlich nie darüber gesprochen, was damals passierte?

Denial 1 560 C Ute Langkafel MAIFOTO uGegen das große Verdrängen und Verleugnen: Maryam Zadee  © Ute Langkafel / MAIFOTO

Mit dem Rücken zum Parkett

Diese Grundannahme führt geradewegs ins emotionale Zentrum von "Denial" am Berliner Gorki Theater. Immer neue Variationen des persönlichen Verdrängens und Verleugnens führt der Abend vor. Der große Zaree-Moment ist typisch für Ronen. Eingeleitet wird er durch ein aufgenommenes Telefongespräch, in dem die Tochter der Mutter versucht auszureden, zur "Denial"-Premiere zu kommen. Dann bittet Zaree die Kollegin Çiğdem Teke, sie mit der Kamera aufzunehmen, während sie ihrer Mutter jene Fragen stellt, die sie sich – laut Text – nie zu stellen gewagt hat. Weil die aber im Publikum sitzen könnte, weil sie also Angst hat vor der eventuellen Reaktion ihrer eventuell anwesenden Mutter, setzt sie sich mit dem Rücken zum Parkett. Ihr Gesicht prangt darüber auf der Leinwand auf. Und blickt uns an.

Die Fragen enthüllen Schmerzhaftes, ja Unerträgliches. Etwa, dass die Eltern im Iran im Gefängnis waren, der Vater sich nur wegen der erwarteten Tochter nicht umbrachte, die Mutter vermutlich gefoltert und in den schwangeren Bauch getreten wurde, ihre Tochter dort mit verbundenen Augen zur Welt bringen musste. Mit jedem weiteren Punkt entgleisen Zaree die Züge stärker. Irgendwann hält sie sich krampfhaft an ihrem Zettel, der jetzt ihren Blick absorbiert. Und während sie sich gegen Weinkrämpfe stemmt (oder zu stemmen scheint), würgt's einem selbst ordentlich im Hals. Allein der Verdacht, an der Situation könnte was dran sein – dass also Zarees Mutter tatsächlich unter uns sitzt und die verzweifelten Fragen ihrer Tochter so zum ersten Mal hört –, löst unheimliche Beklemmung aus.

Denial 3 560 C Ute Langkafel MAIFOTO uFiktionen, nah an der eigenen Geschichte entlang entwickelt: von Oscar Olivio, Orit Nahmias und Dimitrij Schaad 
© Ute Langkafel / MAIFOTO 

Fernsehrealismus oder Sketchparade?

"Denial" betont dieses Ineins von Schauspieler und Rolle besonders, weil Ronen ungewöhnlich schroff auf einen narrativen Rahmen verzichtet. Wo sie sonst eine Begründung dafür findet, warum die Menschen da gemeinsam auf der Bühne stehen, die Recherchereise ins ehemalige Jugoslawien in Common Ground zum Beispiel oder der Deutschkurs in The Situation, treten die fünf Schauspieler hier einfach auf und ab und deuten durch einen Kostümwechsel an, dass sie gerade auch den Charakter oder zumindest die Charaktereigenschaften gewechselt haben.

Der Vorteil: Man spart sich jeden Anflug von Überkonstruktion. Der Nachteil: Streckenweise erinnert der Abend an eine Sketchparade. Oscar Olivio erzählt von einem schwulen Coming Out voller Verdrängungen, während hinter ihm die Mutter als aufgekratztes Carmen-Miranda-Double aufflackert. Orit Nahmias erzählt vom Vater, der berufsmäßig Palästinenser ermordete, ihr aber was von geheimen Missionen erzählte. Oft ist das gewohnt witzig, manchmal auch ausufernd.

Einmal unterhalten sich Teke und Zaree als lesbisches Paar mit Kind über eine Türkeireise, zur Hochzeit der Cousine. Schon nach wenigen Sätzen läuft die Situation klar darauf hinaus, dass Teke die Beziehung – immerhin eine eingetragene Lebenspartnerschaft – verleugnen will, während es Zaree auch nach der sechsten Anspielung nicht begreifen will. Etwas fernsehrealistisch stereotyp wirkt auch das gebrochene Übereinanderhermonologisieren des getrennten Paares, als das Nahmias und Schaad aufeinander einhacken. Ist er ein brutales Arschloch im Pelz des netten Typen von Nebenan? Oder hat sie ein Psychoproblem?

Veredelte Konflikte

Gerade in den wenigen Dialogszenen fällt auf, wie untheatral die Anlage von "Denial" ist, wie oft die Schauspieler an der Rampe stehen und ins Publikum sprechen. Auch wundert man sich ein wenig darüber, dass ausgerechnet einer Timing-Meisterin wie Ronen es passieren kann, dass der emotionale Höhepunkt so weit nach vorn rutscht. Dennoch ist auch "Denial" am Ende fesselndes Theater. Das liegt zum einen an den fantastischen Schauspielern, die jede Situation, jede vermeintliche Erinnerung, jeden Konflikt zu Momenten veredeln, die sich einbrennen, sie beglaubigen, trotz aller eingeplanter Irritationsgeräusche. Zum anderen suchen Ronen und Ensemble nach dem Politischen im Privaten – und skizzieren so die Blaupause für ein Verdrängen, das Genozide und andere verleugnete Ungeheuerlichkeiten erst ermöglicht hat.

 

Denial
von Yael Ronen und Ensemble
Regie: Yael Ronen, Bühnenbild: Magda Willi, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Nils Ostendorf, Video: Hanna Slak, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Oscar Olivio, Dimitrij Schaad, Çiğdem Teke, Maryam Zaree, Orit Nahmias.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de


Kritikenrundschau

"Die Größe von Ronens Theaterkunst liegt aber darin, dass sie trotz komödiantischem Handwerk, hartem Zupacken und vielen Spielverwirrebenen zwischen Text und Biografie der Performer am Ende doch die Affekte freisetzen kann, besonders die dunklen." So berichtet Tobi Müller für Deutschlandradio Kultur (10.9.2016). Ein "furioses Ensemble", das "geradezu entfesselt" aufspielt, hat er erlebt. Mit viel Witz performten die Spieler ihr Geflecht aus "Verneinung, Verleugung, Lüge, Fantasie". Im Grenzbereich zwischen Fakt und Fiktion ist für den Kritiker an diesem Abend vor allem sicher, "dass die Migrationsgeschichten der Leute ein fruchtbares Hinterland für die Psychokunstkulisse darstellen".

Christine Wahl schreibt im Tagesspiegel aus Berlin (11.9.2016):  Ausgehend von "autobiografischem Material" würden sich die Mitwirkenden "Mutmaßungen, Vorurteile und andere tiefere Wahrheiten an den Kopf werfen, die sie bis dato nie auszusprechen wagten". Und alles im Stil einer Screwball-Comedy. Das sei Ronens Spezialität. Auch "Denial" folge dieser Methode. Doch trotz der tollen Schauspieler dringe die Komödie diesmal kaum zu "tiefliegenden Tragödienschmerzpunkten" vor. Die Geschichten kenne man alle schon. Im "Gedächtnis" blieben "zwei Situationen". Einmal, wenn Orit Nahmias und Dimitrij Schaad als Ex-Paar ihre "gewalttätige Beziehung" schilderten, "unmöglich auszumachen, wer hier Täter und wer Opfer" sei. Und zum Zweiten, wenn Schaad einen Mann spiele, der als Kind vom Vater "offenbar sexuell missbraucht" wurde.

Barbara Behrendt schreibt auf der Seite des Deutschlandfunks (11.9.2016): "Ironie und Komödienton" seien nur der Anfang. Ronen, die "Gruppentherapeutin unter den Regisseurinnen", bohre sich "Szene für Szene immer schmerzhafter hinein ins Seelenfleisch". Spannend werde es, wenn "die Konflikte auf der Bühne nicht nur nacherzählt, sondern tatsächlich ausgetragen" würden, wie wenn Nahmias und Schaad als Paar über Lüge und Gewalt stritten. Manches könne "stringenter sein", viele Kapitel wirkten beliebig aneinandergereiht, schreibt Behrendt. Problematisch werde es, "wenn die Schauspieler so tun, als präsentierten sie ihre Lebensgeschichte spontan und von Gefühlen übermannt". Der "sogenannte authentische Augenblick, der ja an jedem Abend mit der autobiografischen Geschichte neu erzeugt werden muss", könne rasch "gekünstelter" wirken "als jedes Rollenspiel".

Das Stück sei ästhetisch und analytisch ausgefeilt, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (12.9.2016). Es bestehe vor allem aus Monologen, "zumeist eloquenten Geständnissen und Selbstanalysen, die spielerisch illustriert werden. Die Szenen beginnen oft harmlos und witzig, um dann tief einzuschlagen." Was leidende Figur sei und was humorbegabter und seelenvoller Spieler, bleibe bei Ronen einmal mehr ungewiss. "Und in dieser Ungewissheit erkennt sich der Zuschauer wieder."

Von einem theatralisch wenig ergiebigen "betulich abschnurrenden Histörchen-Programm" spricht Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.9.2016), "zumal es immer wieder durch ausgedehnte Monologe unterbrochen wird, die wie mittelprächtige Comedy erscheinen". Gern werde auch das Publikum direkt angeredet, was das Niveau der spätpubertären bis sentimentalen Reflexionen und Assoziationen aus Sicht der Kritikerin allerdings nicht unbedingt hebt.

Zwar mache Regisseurin Yael Ronen "ihrem Ruf als Gruppentherapeutin alle Ehre". Doch diesmal sei es "mehr Therapie als Theater", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (13.9.2016). "Die Pointen sind rar. Das liegt auch daran, dass es keine Spielsituation gibt. Stattdessen wird viel herumgestanden an diesem eklektischen Abend, der zwischen freudschem Albtraum und trashiger Kostümshow pendelt."

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