Ein Mensch lebt so: Siehst du, so lebt er

von Lena Schneider

Potsdam, 26. April 2008. Glück gehabt: Doch kein Trabi. Während auf den Flyer-Fotos das Ensemble des Potsdamer jungen Theaters keck in und um einen Trabant drapiert ist, hat man allzu eindeutige (auch scheinbar ironische) Fingerzeige in die Nostalgie-Ecke auf der Bühne unterlassen. Statt also im Retro-Vehikel vorzufahren, nähern sich die fünf Schauspieler zu Fuß, schlendern über eine kurzgeschorene Wiese und betreten das "Amphitheater", eine kleine Openair-Bühne vor dem Bürgerhaus.

Schon bevor das Publikum es zu Gesicht bekommt, hört man das Ensemble über Mikroports plaudern – zwanglos, alltäglich, als Schauspieler, die zwanglose, alltägliche Schauspieler spielen. Und so begleitet Thomas Freyers "Schlaatzstück", aufgeführt inmitten des Potsdamer Stadtteils Am Schlaatz zum einen die Erleichterung darüber, dass sich in diesem Stück über den Osten der Osten weder in den Charakteren noch in der Inszenierung bloßstellt. Aber auch eine zunehmende Ratlosigkeit darüber, wen diese Schauspieler, die ihren plaudrigen Ton bis zum Ende nicht verlieren, eigentlich spielen.

Hochgepäppelte Vorzeigeplatte 

Der Schlaatz: eine in den 80ern aus dem Boden gestampfte Neubaulandschaft im Süden der Stadt. Den Bauherren ging das Geld aus, also entstanden statt der geplanten Hochhäuser vor allem Fünfgeschosser – heute ein eher beschauliches Ensemble, das in den letzten Jahren mit viel Geld und einigem Erfolg hochgepäppelt wurde. Eigentlich eine Vorzeige-Platte. Trotzdem: "Hier will doch kein Schwein mehr wohnen", sagt jemand im "Schlaatzstück" einmal. Das scheint zu stimmen. Das Publikum, vor allem Nicht-Schlaatzer, lacht. Um solcherart Vorurteile geht es Thomas Freyer.

Unter dem Titel "Von Schlössern und Schlaatzen" hat das Hans Otto Theater zwei Stücke geplant: nach dem "Schlaatzstück" ein zweites mit Schlaatzer Jugendlichen im Theaterhaus. Freyer, der sich seit "Amoklauf mein Kinderspiel" an ostdeutschen Geschicken versucht, ist Autor für beide. Mit dem "Schlaatzstück" hat er, selbst in einem Plattenbau aufgewachsen, ein Stück geschrieben, das bloßlegen und wohl auch widerlegen will, was man über Leben in der Platte zu wissen meint. Das funktioniert weniger im Bloß-, als im Widerlegen.

Vertraute Stereotypen, listig unterwandert

So schafft Freyer erfolgreich Charaktere, die vertraut, weil stereotyp daherkommen – die Bockwurstverkäuferin Monika (Ulla Schlegelberger), die unter Depressionen leidet etwa, der alleinerziehende Arbeitslose (Peter Wagner), der sein Versagen mit Schnaps ersäuft, der Krisengeschüttelte Henry (Alexander Wichbrodt), der neu anfangen will, und der pensionierte Früher-War-Alles-Besser-Wisser (Matthias Hörnke), der brüllen muss, um bemerkt zu werden. Aber nur, um sie wieder zu zerlegen: ihre Texte werden herumgereicht, springen von Darsteller zu Darsteller. Was darunter ist, bleibt verborgen.

Figuren können sich so kaum entwickeln, sondern zerfasern im Kollektiv. So mag Freyer Stereotypen zwar listig unterwandern, lässt die Charaktere aber gleichzeitig so flach, dass sie einen wenig angehen. Die textlichen Bezüge der Schauspieler zu ihrer Rolle als Spieler, Darsteller ("Schließlich werden wir bezahlt. Wenn auch schlecht") führen zwar eine Distanz ein, die manche in Freyers letztem Stück "Separatisten" vermissten, bereichern den Text aber kaum. Sie sind fiktiv, unsere Schlaatzer, vorgespielt von Leuten, die sie so wenig kennen wie das Publikum. Gut. Aber sonst?

Sozialstück als Sommertheater

Ulrike Hatzers rasante Regie hilft dem Text nicht, Tiefe zu entwickeln, sondern schmälert ihn. Auch Freyers kritische Stellen lässt sie salonfähig, federleicht, jugendtheatergemäß dahinzitieren; hohe Arbeitslosigkeit, hohe Selbstmordrate, alles ist hier halb Scherz und halb so schlimm. Das Verblüffende: Unterm blauen Himmel im Amphitheater ist man gewillt, das zu glauben. Wer hätte gedacht, dass man im Schlaatz leichtes Sommertheater erleben kann. Nur, dass diese Leichtigkeit dem Projekt freilich den Stachel nimmt.

Was sonst vom "Schlaatzstück" bleibt, ist der unaufgeregte, verdauliche Versuch einer Bestandsaufnahme, der man anmerkt, dass sie vermitteln will. Ein Gruppenbild, das nicht vorgibt, Realität zu sein. Freyers charmante Wendung ins Absurde kurz vor Schluss macht das deutlich. Nashörner, Mama und Kind, kommen über die Wiese gestapft und glotzen das Gruppenbild auf der Bühne an wie seine Zuschauer die Platten im Schlaatz. "Ein Mensch lebt so. Siehst du? So lebt er", sagt die Mama zum Kind. Ein leise ironischer, charmant naseweiser Kommentar zum Schlaatz-Spektakel und Theater als Ganzem. Menschen-Gucken bleibt Zoobesuch. Vor allem, wenn sie in exotischen Höhlen wohnen.


Von Schlössern und Schlaatzen I Schlaatzstück (UA)
von Thomas Freyer
Regie: Ulrike Hatzer, Bühne und Kostüme: Susanne Füller.
Mit: Ulla Schlegelberger, Jenny Weichert, Matthias Hörnke, Peter Wagner und Alexander Weichbrodt.

www.hansottotheater.de

 

Mehr lesen, zum Beispiel wie die Regisseurin Felicitas Brucker Anfang April am Hamburger Thalia Theater mit Thomas Freyers Amok, mein Kinderspiel umging, können Sie hier. Wie Tilmann Köhlers Uraufführung von Freyers Plattenbau-Utopie Separatisten am Berliner Maxim Gorki Theater ankam, erfahren Sie hier. Und hier, wie das Stück in Dresden aufgefasst wurde.

 

Kritikenrundschau

Sehr "Klischee geprägt" sei die Vorstellung, die sich Thomas Freyer von Schlaaz, einem Potsdamer Hochhausviertel, mache, schreibt Lore Bardens in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (28.4.2008). Doch immerhin, weil zwar so gut wie keine Schlaatzer unter den zahlenden Zuschauern gewesen seien, dafür viele aus den Fenstern der umliegenden Häuser zugeschaut hätten und viele afrikanische Kinder angelockt worden seien, handele es sich doch bei der Aufführung um "eine integrative Leistung des Jungen Theaters des HOT". Natürlich sei es ein Klischee, dass alle Figuren ausnahmslos Verlierer seien. Wohl kaum würden sich die Bewohner von Schlaaz damit einverstanden erklären. Das Stück sei nach dem "Seifenopern-Muster" geschrieben, "mal wird mit Reiner gekocht, dann steht Johanna auf dem Dach und sucht ihren Vater, dann sitzen Henry und seine Eltern am Kaffeetisch, dann wieder liegt Monika auf ihrem angedeuteten Bett" – kleine Gags brächten "etwas Witz in die Untergangsszenerie". Von der Inszenierung schreibt Frau Badens nichts.

Kommentare  
Schlaatzstück in Potsdam: Besprechung von Ariane Mohl
28.04.2008 BÜHNE: Die Elenden Hans-Otto-Theater spielt im Schlaatz POTSDAM - Johanna (Jenny Weichert) weiß nicht mehr weiter. Mit einem Fernglas steht sie am Fenster ihres Zimmers im 13. Stock eines Hochhauses und schaut nach unten. Auf die Kaufhalle und den Platz davor, der trist und menschenleer ist. Das also soll ihr neues Zuhause sein. Ein buchstäblich auf Schlamm und Sand gebautes Plattenbauviertel in Potsdam. Gestern erst ist sie mit ihrem Vater hierher gezogen. Eine Übergangslösung. Sobald ihr Vater (Peter Wagner) wieder Arbeit hat, sind sie ganz schnell wieder hier weg, versucht Johanna sich einzureden. Wozu also überhaupt die Umzugskisten auspacken? Und wozu überhaupt den Mitschülern erzählen, dass sie jetzt da gelandet ist, wo alle landen, die sich eine Wohnung in Babelsberg oder der Berliner Vorstadt längst nicht mehr leisten können? „Von Schlössern und Schlaatzen I.“ (Regie: Ulrike Hatzer) heißt das Theaterstück von Thomas Freyer, das am Samstagabend im Amphitheater im Schilfhof in Potsdam uraufgeführt wurde. Unter freiem Himmel und mitten im Schlaatz erzählen die Schauspieler des Hans-Otto-Theaters Geschichten von Menschen, die ihr Leben an RTL oder an eine Flasche Schnaps verkauft haben. Menschen wie Johannas Vater, der den ganzen Tag lang mit gesenktem Kopf in seinem orange-braun-grün gestreiften Bademantel durch die Wohnung schleicht, und der sich jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt, um sich nicht mehr spüren zu müssen. Menschen wie der Rentner Reiner (Matthias Hörnke), der nachts, wenn er nicht schlafen kann, wie ein Besessener Gemüse putzt, Kartoffeln schält und Lammkeulen brät, obwohl er schon lange niemanden mehr hat, mit dem er das Essen teilen kann. Menschen wie die Wurstverkäuferin Monika (Ulla Schlegelberger), die an Einsamkeit und Depressionen leidet und eigentlich nur noch arbeiten geht, weil sie irgendwie ihren Fernseher finanzieren muss. Und Menschen wie den von seiner Jugendliebe sitzengelassenen Henry (Alexander Weichbrodt), der den Absprung eigentlich schon geschafft hatte, dann aber doch wieder in den Schlaatz zurückkommt, weil ihm ohne seine Nicole eh alles egal ist. Nicht unbedingt der geeignete Stoff für einen vergnüglichen Theaterabend. Erst recht nicht dann, wenn das Ganze auch noch da stattfindet, wo es den durchschnittlichen Theaterbesucher ansonsten eher selten hinverschlägt: in einen Wohnkomplex, der ein sozialistisches Vorzeigeprojekt hätte werden sollen, und trotz umfangreicher Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen ein sozialer Brennpunkt geblieben ist. Dass das „Schlaatzstück“ trotz alledem nicht in wohlfeile Sozialromantik oder voyeuristischen Elendstourismus abdriftet, liegt nicht zuletzt an der Leistung der Schauspieler, die Distanz zu ihren Figuren schaffen, ohne sich über sie zu erheben. Mit einer eigentümlichen Mischung aus Empathie und Ironie blättert Thomas Freyer, der selbst in einem Plattenbauviertel in Gera aufgewachsen ist, die Biographien der Hoffnungslosen, Vereinsamten und Gestrandeten vor uns auf. Kaum einer der tatsächlichen Bewohner des Potsdamer „Problemviertels“ hatte sich ins Publikum verirrt. Unbeeindruckt von dem, was auf der Bühne passierte, hielten sich die Männer vor dem Supermarkt an ihren Bierflaschen fest, führten die Frauen den Hund im Park Gassi, lärmten die Kinder bis in die späten Abendstunden auf dem Spielplatz. Um zu wissen, wie es sich anfühlt, im Schlaatz zu wohnen, brauchen sie kein Theaterstück – auch dann nicht, wenn es so sehenswert ist wie das von Thomas Freyer. Info „Von Schlössern und Schlaatzen I.“, Weitere Termine: 29.04., 08.05., 21.05., 22.05., 29.05., jeweils 19.30 Uhr, 31.05., 18 Uhr, Amphitheater im Schilfhof am Schlaatz. (Von Ariane Mohl)
Schlaatzstück:
Märkische Allgemeine vom 02.06.2008 STADTTEILFEST: Balance zwischen Klischee und Realität Viel Beifall für Schlaatz-Theater POTSDAM / SCHLAATZ - Vor zwei Jahren gab es ein erstes Konzept, vor sechs Monaten begann die Recherchearbeit: Das Theaterstück „Von Schlössern und Schlaatzen I. – arm und chancenlos“ vom Hans-Otto-Theater sollte möglichst authentisch den Alltag am Schlaatz darstellen. Zu viel Alkohol, Lärmbelästigung und eine hohe Arbeitslosigkeit gehören dazu. Wie die Bewohner darauf reagierten, zeigte sich am Samstag: Auf dem Stadtteilfest wurde das Stück aufgeführt – das achte Mal im Schlaatz. Der zehnjährigen Pauline Kresin sind die Probleme mit dem Alkohol und der Lautstärke bekannt. Sie wohnt direkt am Bürgerhaus. Stadtteilfest und Theateraufführung gefielen dem Mädchen aber gut. „Die Realität ist zwar oft nicht schön, aber das Stadtteilfest hat gezeigt, dass sich die Menschen hier auch amüsieren können“, hebt Karin Juhasz, Fachfrau für die Neubaugebiete in der Bauverwaltung und an diesem Abend Zuschauerin, hervor. Sandra Ladeburg beginnt eine Diskussion mit ihren Freunden. „Man kann diese Dinge nicht so verallgemeinern. Hier wohnen auch Studenten, die sich nichts anderes leisten können“, meint die 25-Jährige aus der Waldstadt. Zum Schlaatzer Stadtteilfest kam sie vor allem wegen des Theaterstücks. „In Potsdam ist es einerseits wie überall, andererseits nicht“, sagt Regisseurin Ulrike Hatzer. Auf wenigen Quadratmetern bilde sich ein Riss zwischen Arm und Reich, der in der Hauptstadt Brandenburgs besonders deutlich zu sehen sei. Die Recherchen zum Stück begannen mit Interviews und einer Führung durch den Stadtteil. Das Team verlegte seinen Alltag zum Schlaatz: traf sich hier, kaufte im Supermarkt ein oder ging abends in eine Kneipe. Vier Hauptpersonen agieren im Stück, die schon seit Jahren hier wohnen oder gerade erst gekommen sind. Sie stellen einige typische Charaktere dar: Während der eine einfach nur Ruhe will, kann der andere nicht ohne Fernseher einschlafen. „Natürlich hatten wir auch Angst, ob wir uns zu sehr auf Klischees von außen einlassen“, sagt die Schauspielerin Ulla Schlegelberger. Sie habe aber das Gefühl, dass das Stück gelungen ist, da die Meinungen zweigeteilt sind, was „ein gutes Zeichen“ sei. „Dieses Mal hatten wir ein recht junges Publikum", stellt sie am Samstag fest. In diesem Jahr befanden sich unter den rund 2500 Besuchern des Stadtteilfestes viele Jugendliche und Familien, die sich auch die Theateraufführung nicht entgehen ließen, genauso wenig wie Oberbürgermeister Jann Jakobs. Was die Schauspielerin aber am meisten freute, waren die zahlreich gefüllten Plätze. „Seit der Premiere waren nicht mehr so viele da", so Schlegelberger. Einige Stühle mussten sogar noch herangeschafft werden. Ein Schmunzeln und zwischendurch mal ein Lacher waren aus dem Publikum zu vernehmen. Den großen Beifall am Ende hatte sich das Junge Theater wirklich verdient. Das Stück wird wieder am 6. Juni aufgeführt, das Rückspiel „Von Schlössern und Schlaatzen II. – reich und berühmt“ am 28. Juni in der Reithalle A des Hans-Otto-Theaters (Von Mandy Schünemann)
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