Wir wollen immer artig sein

von Matthias Schmidt

Leipzig, 16. September 2016. Keine FDJ-Hemden, keine Wehrerziehungsuniformen, kein Honecker-Bild. Dafür eine Idee, wie man Peter Richters auf dem ersten Blick ja nicht direkt nach einer Bühnenadaption schreienden Erinnerungsroman "89/90" theatergerecht adaptieren kann. Eine so großartige Idee, dass man nun – nichts für ungut nach Dresden – getrost von einer sehr gelungenen Uraufführung sprechen kann.

Spielzeitmotto "Woher Wohin"

Claudia Bauer verzichtet komplett darauf, realistisch zu illustrieren, was Richters Figurenensemble in den wilden Jahren "89/90" erlebt, in jener Zwischenzeit, die für viele, die sie erlebt haben, die spannendste Zeit ihres Lebens bleibt. Dieses eine, ganz besondere "Damals", über das sie immer wieder sprechen. Dieses "Damals", in dem das Alte noch nicht weg und das Neue noch nicht da war.

89 90 03 560 c rolf arnold uIm DDR-Kulturhaus: Das Leipziger Ensemble und der bestechende Chor suchen das versunkene "Damals"
© Rolf Arnold

"Woher Wohin", fragt das Spielzeitmotto des Leipziger Schauspiels, und genau das herauszufinden, ist Richters Interesse. Während er sich aber als der unnachahmlich lakonische Ich-Erzähler direkt in den Frühsommer 1989 hineinerinnert, gibt Claudia Bauer der Geschichte vom legendären "Damals" einen Rahmen. In einem Hinterzimmer, oben auf der Hinterbühne, sitzen sie, der Erzähler und sein Freund S., und denken, in alten Fotos blätternd, aus dem Heute über das Gestern nach. "Hätte man damals schon sagen können, wer dort eines Tages wem einen Baseballschläger über den Kopf hauen würde?", fragen sie sich immer wieder, bevor die eigentliche Handlung beginnt.

Die Zeiten im Wandel der Lieder

Dass die Inszenierung Richters immer respektlos Pointen jagende und dadurch grundsätzlich komische, nie ostalgische oder lästermäulige Tonlage so gut trifft, ist ihrer formalen Strenge zu danken. Die späte DDR wird nicht bebildert, sie wird stilisiert. Ein erheblicher Teil der Ehre gebührt dabei dem Chor, der den Abend dominiert und mit seinen Liedern das Geschehen metaphorisch spiegelt. Er deutet die entscheidenden Verschiebungen an: Anfangs singt er "Wir wollen immer artig sein". Später DDR-Punk. Viele Stimmen, ein bisschen Kanon, eine klare Aussage. Ein braves, ein angepasstes Lied und eben nicht ironisch wie bei Feeling B. Oder doch? So war sie halt die DDR, irgendwie hat man ja doch mitgesungen und oft insgeheim etwas ganz Anderes gedacht.

Doch die Lieder werden frecher, aus Echos werden Entgegnungen, aus Harmonien Dissonanzen. So löst sich ein Land auf, immer einen Schritt weiter: Mal wird mit den Füßen gestampft, mal "Freiheit" oder "Ficken" skandiert. Erst denkt man noch, sicher Tourette, dann wirkt das Prinzip. Komponist Peer Baierleins alte Texte in neue Kontexte stellende Musik – vielleicht könnte man sagen: Punk meets Motette – gibt dieser Inszenierung den Herzschlag. Sie, gemeinsam mit dem ganzkörperlich dirigierenden Chorleiter Daniel Barke, ist den Theaterabend schon allein wert. Aber da geht noch mehr, da ist viel zu entdecken. War da ein Wagner-Motiv? Klar, Wagner stand ja 1849 in Dresden auf den Barrikaden. Und apropos Chor: Hat nicht Peter Richter selbst sein Abitur an der Kreuzschule gemacht?

Wie bei Marthaler, nur schneller, schriller, lauter

Claudia Bauer gelingt es, die im Grunde nicht ohne Kitsch und Klischees bebilderbaren DDR-Szenen in die Chor-Lieder einzubeziehen. Staatsbürgerkunde, FDJ-Versammlung, Wehrlager – all das findet als sich rhythmisch aufschaukelnde Chor-Choreografie statt. Geradezu dadaistisch werden Militärjargon und ideologische Belehrungen in den Gesang integriert, darübergelegt, geschrien, geträllert. Das ist wie Marthaler, nur schneller, schriller, lauter. Die Schauspieler werden mal Teil des Chores, mal tanzen sie in einer urkomischen Mischung aus Eurythmie und Ausdruckstanz einzelne Aussagen nach. Spontaner Szenenapplaus, Gott sei Dank nicht der Art, für die man sich danach insgeheim schämt.

89 90 04 560 c rolf arnold uMenschen unter Masken sind ein Markenzeichen von Regisseurin Claudia Bauer. Hier: Anna Keil, Denis Petkovic, Andreas Dyszewski © Rolf Arnold

Und das "Woher Wohin"? Auch das ist spannend. Da ist zum Beispiel L., die Freundin des Erzählers (das mit den Buchstaben ist übrigens echt verwirrend). L. ist eine echte Kommunistin, wie er staunend zur Kenntnis nimmt. Überzeugt von der DDR, enttäuscht von deren Niedergang. Obwohl in eine DDR-Flagge gekleidet, schafft es Bettina Schmidt, diese L. eben nicht zur opportunen Lachnummer zu machen. Mit einer wohltuenden Selbstverständlichkeit glaubt ihre L. an den Sozialismus und zweifelt an dem, was nach der DDR kommt. In der Pause konnte man hier und da aufschnappen, wie dankbar manche insbesondere dafür waren.

Generation ohne Plan

Überhaupt ist erfreulich wenig ganz in Schwarz und Weiß gezeichnet, nur am Ende die Nazis ein bisschen zu sehr in Braun. Aber sonst, das war ja die Frage am Anfang, dieses "Hätte man damals schon sagen können?", spürt man, dass dieser ja noch unfertigen Generation in dieser noch unfertigen Zeit Vieles eben einfach passierte, ohne Plan und gründliches Nachdenken. Man kann gut nachvollziehen, wie S. vom Weg abkommt oder T. weiterer Revolte die Anpassung vorzieht. Und der Erzähler? Wenzel Banneyer ist ein toller Erzähler, das Zentrum des Abends und ein – wie sonst nur L. – überzeugend Reflektierender. Die Antwort auf die Ausgangsfrage gibt er – allerdings vorlagegemäß – nur indirekt. "Links und rechts, so hieß das jetzt", sagt er, "und wir waren die Linken, weil die die Rechten waren".

 

89/90
Nach dem Roman von Peter Richter
Für die Bühne bearbeitet von Claudia Bauer und Matthias Huber
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Andreas Auerbach, Doreen Winkler, Komposition und musikalische Leitung: Peer Baierlein, Chorleitung: Daniel Barke, Dramaturgie: Matthias Huber. Mit: Anna Keil, Annett Sawallisch, Bettina Schmidt, Wenzel Banneyer, Andreas Dyszewski, Roman Kanonik, Tilo Krügel, Denis Petkovic, Chor.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"Der Abend verliert sich nicht im Gewimmel der von Richter aufgeführten Personen", schreibt Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (19.9.2016). Und dennoch würden Entwicklungen deutlich, individuelle Schicksale, alle ausgelöst vom Zusammenbruch des gesellschaftlichen Koordinatensystems. "Betroffen sind in eigenartiger Ironie alle – Gegner und Befürworter." Und Claudia Bauers Inszenierung nehme das Ringen um Halt und Orientierung "bei aller Komik" sehr ernst.

"Theater muss keine politischen Antworten liefern. Das tut '89/90' auch nicht", sagt Martin Echterhoff auf MDR Aktuell (17.9.2016). Aber das Stück mache aufmerksam – "auf die lähmende Atmosphäre, die Angst, auf den Glauben, dass eigenes politisches Handeln und das Eintreten für Werte, die den Menschen an sich in den Mittelpunkt stellen, sinnlos ist". Das müsse wahrgenommen werden, um es zu überwinden. "Wer sich '89/90' ansieht, kommt um diese Wahrnehmung nicht herum", so Echterhoff und lobt Claudia Bauers Spannungsbogen, ausgefeilte Rhythmik, den Einsatz des Chores als "weiteren roten Faden", die Musik und die "Komik durch extreme Überzeichnungen".

Pressestimmen zum Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2017

Vieles komme hier in den Moden des neuen alten Konventionstheaters daher: mit prätentiösem Bühnennebel, Live-Cams, Masken, frontalem Schreien, so Peter von Becker im Tagesspiegel (16.5.2017). "In der Tat spielen sich die Leipziger Akteure einen Wolf, aber fast immer viel, viel zu laut, zu grob, ohne Sinn für Nuancen, was auch das Chorische von seinen Vorbildern à la Schleef oder Marthaler unterscheidet." Die DDR versinke hier im monotonen Chaos, und die Wiedervereinigung werde zum melodramatischen Menetekel.

Katrin Bettina Müller schreibt auf taz.de (21.5.2017): "Großartig" sei es, wie die Regisseurin einen Chor einsetze, "mit Punktexten und Choralmusik, um die dichte Textur von Ideologie und Institutionen zu markieren, die alle Ebenen des Lebens rahmt und einzwängt". Die Erzählungen der einzelnen seien als "Störung der kollektiven Struktur" angelegt, oft als "Provokation, rassistischer Zwischenruf, bei dem einem selbstverständlich unwohl" werde. Einer der stärksten Momente, wenn von einer Demonstration am Dresdner Bahnhof erzählt werde, "in der die Fronten und Abgrenzungslinien nicht mehr funktionieren, da die vorher verachteten Spießer und die sich als Außenseiter Begreifenden auf die gleiche Weise in die Enge getrieben werden". Wie die "Zuordnungen" versagten und "auch die eigene Wahrnehmung der Erzähler ihnen als eine sehr fragwürdig zusammengebastelte Konstruktion" erscheine – erschließe die Inszenierung "sehr stringent".

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